Archiv

"Pelléas et Mélisande" in Antwerpen
"Wundervoll wogende, fließende Energie"

Das königliche Opernhaus von Antwerpen feierte die Premiere von Claude Debussys "Pelléas et Mélisande" - einer Gemeinschaftsinszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui, Damien Jalet und der Künstlerin Marina Abramovic. Entstanden ist ein Musiktheater, das in den Bann schlägt.

Von Wiebke Hüster |
    Theaterregisseurin Marina Abramović
    "Wir wollten das Rätselhafte des Stücks abbilden": Die Performance-Künstlerin Marina Abramović hat in Antwerpen ein spektakuläres Bühnenbild entworfen (picture alliance / dpa / Foto: Str)
    "Für mich verströmt Debussys Musik diese wundervolle wogende, fließende Energie, wie Wasser. Die Musik ist oft nicht sehr sprechend, nicht sehr ausdrücklich, sondern sehr mysteriös. Ich war sehr gespannt, wie wir als Team uns zu dieser Musik verhalten würden."
    Sidi Larbi Cherkaoui ist sich der Schönheiten wie der Schwierigkeiten von Debussys Musik "Pelléas et Mélisande" sehr bewusst. Das Fließende, das er beschreibt, trifft die Absicht des Komponisten, in seinem lyrischen Drama in fünf Akten auf Arien zu verzichten.
    Tranceartiger Blick ins Innere der Figuren
    Stattdessen schwenkt die Musik drei in Trance versetzende Stunden lang wie ein Spotlight von Protagonist zu Protagonist und erlaubt, dem Lichtstrahl folgend, einen Blick in das Innere der Figuren zu werfen, wie durch den schmalen Spalt einer Tür zu schauen, die sich nur kurz öffnet und dann gleich wieder schließt. Die Absicht der Symbolisten um Maurice Maeterlinck - dem Autor des Märchendrama Pelléas et Mélisande - war es, der Kunst gegen den Realismus und den Naturalismus während der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert neue spirituelle, ideelle, ästhetische, und mystische Qualitäten zu verleihen.
    "Es handelte sich beim Symbolismus um eine sehr einflussreiche, inspirierende Bewegung, es ging darum, die Mächte der Natur, die Mächte des Unterbewusstseins, die Kraft der Weiblichkeit aufzurufen", so der Choreograf Damien Jalet.
    Ein tragisch-ästhetischer musikalischer Strom
    Die Motive des Stück - Angst vor dem Tod, Verlorenheit, Ungewissheit, Schicksalsgeworfenheit, Vergeblichkeit des Begehrens, Unmöglichkeit dauernder, nicht schuldhafter Verbindung, unglückliche, unerfüllte, tödliche Liebe - verwebt die Oper in einen musikalischen Strom, aus dem die drei Hauptfiguren aufragen.
    Mélisande ist eine schöne Unbekannte, die ihr Unglück beweinend in einem Wald verweilt. Da findet sie der Prinz Golaud, der sich auf der Jagd verirrt hat. Sie verweigert jede Auskunft, sie ist in einem entsetzlichen mentalen Zustand. Golaud, der sich als ein Mann wie alle anderen beschreibt, kann sie überzeugen mitzukommen.
    Das Paar lebt mit dem Halbbruder Golauds, Pelléas, mit ihrer Mutter Geneviève und dem alten König-Großvater Arkel auf einer dunklen, wasserumschlossenen Burg voller düsterer Verliese. Pelléas und Mélisande entdecken ihre Seelenverwandtschaft und gestehen einander nach langem ihre Liebe. Golaud bringt Pelléas um und Mélisande stirbt an den Folgen der Geburt ihrer Tochter.
    Annäherung an die existenzielle Grundlage des Menschen
    "Es ist eine ganz gewöhnliche Tragödie von Leidenschaft, Anhaftung und Betrug, aber wir wollten dem Stück eine andere Dimension verleihen", erklärt Marina Abramovic. "Darum habe ich Kristalle geschaffen, darum gibt es diese Projektionen von Galaxien. Vielleicht stammt Mélisande von einem anderen Stern, einem fernen Planeten. Wir wollten die Inszenierung der Darstellung des simplen Dreiecksverhältnisses entheben. Wir wollten das Rätselhafte des Stücks abbilden."
    Das Bühnenbild arbeitet mit Projektionen eines riesigen Augapfels, als wäre man im Bewusstsein eines anderen, im Inneren eines anderen Geistes oder auch in einem Planetarium. Es spielt mit der Verbindung zwischen dem kleinsten, der Retina, und dem Größten, dem Kosmos, dem sternenbesetzten All. Nie kann man wissen, was in einem anderen vorgeht, und nie kann man wissen, was das Schicksal, was die Zukunft bereithält, das ist die existenzielle Grundlage des Menschen.
    Irdische Schönheit, kosmische Unendlichkeit
    In Antwerpen tritt zu dem beeindruckenden Bühnenbild und den geometrischen, laserscharf dreidimensionalen Kostümen von Iris van Herpen das klug und phantasievoll eingesetzte Mittel des Tanzes. Sieben (bis auf hautfarbene Shorts) nackte Männer, die manchmal lederne Helme, manchmal Brust-Harnische tragen, umtanzen die fabelhaften Sänger: Mari Eriksmoen als Mélisande, Jacques Imbrailo als Pelléas und Leigh Melrose als Golaud. Die Tänzer doubeln nicht die Sänger, wie so oft, wenn Choreographen inszenieren.
    "Manchmal sind die Tänzer wilde Tiere im Wald, manchmal Krieger, manchmal Geister", meint Marina Abramovic. In ihrem Gesamtkunstwerk gelingt es ihr, Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet zeitgenössische Bilder zu finden für den alten Versuch, aus irdischer Schönheit und kosmischer Unendlichkeit Motive zu schöpfen gegen die Einsicht in die Vergeblichkeit, gegen die Verzweiflung.
    Pelléas et Mélisande. Oper von Claude Debussy. Premiere im Opernhaus von Antwerpen. Inszenierung und Choreographie: Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet. Visuelles Konzept: Marina Abramovic. Kostüme Iris van Herpen. Musikalische Leitung: Alejo Pérez