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Performance-Gruppe Machina Ex
Wenn Theater zur Entscheidungsfrage wird

"Lessons of Leaking" heißt das neue Stück der Performance-Gruppe Machina Ex. Darin können die Zuschauer an bestimmten Stellen darüber abstimmen, wie die Handlung weitergeht. Moralisch steht die Frage im Vordergrund: Steht man immer auf der richtigen Seite, wenn man die Wahrheit ans Licht bringt? Nun feiert die Aufführung im Berliner HAU3 Premiere.

Von Oliver Kranz |
    "Das Publikum kommt in diesen Raum hier rein. Wir sind im Zuhause von Clara und David. Die wohnen in einem großen Loft und sind gerade erst eingezogen. Hier werden dann überall Umzugskartons stehen, die das verdeutlichen werden."
    Anna Fries ist die Regisseurin der Produktion. Das Loft, das sie beschreibt, ist eine Fabriketage. Es gibt ein Sofa und eine Wand mit einem riesigen Bildschirm, auf dem gerade Nachrichten zu sehen sind.
    "Zwei Tage vor dem ersten bundesweiten Volksentscheid über Deutschlands Europaaustritt haben die Europagegner in den Umfragen noch einmal deutlich zugelegt. 52 Prozent der Bundesbürger wollen am Sonntag dafür stimmen, dass ihr Land die EU verlässt. Für den Verbleib der Bundesrepublik in Europa sprechen sich derzeit lediglich 33 Prozent der Wahlberechtigten aus ..."
    "Das Publikum darf frei im Raum herumlaufen und alle Dinge berühren"
    In der Aufführung erhält die PR-Agentin Clara eine Information, die die Mehrheitsverhältnisse umkehren könnte. Ob sie sie veröffentlicht, hängt von der Entscheidung der Zuschauer ab. Doch bis es soweit ist, müssen sie Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen finden.
    "Das Publikum darf frei im Raum herumlaufen und alle Dinge berühren, also das Bühnenbild berühren oder auseinandernehmen, wenn es will. Über diese Objekte, ein ganz simples Beispiel wäre über ein Telefon, bei dem das Publikum die richtige Telefonnummer eingeben muss ..."
    Bei "Lessons of Leaking" telefoniert Clara nicht, sondern chattet im Internet mit einer Hackerin. Zur Beantwortung der eingehenden Nachrichten, werden verschiedene Texte angeboten. Die Zuschauer müssen sich einigen, welche Variante ausgewählt wird.
    "Diese Art von spielbasiertem Theater, das wir machen, bietet ein völlig anderes Erlebnis als ein klassisches Theaterstück. Das Besondere an unseren Stücken ist schon, dass es ein sehr unmittelbares Erleben ist. Viele Zuschauerinnen beschreiben im Nachhinein sehr stark, dass sie in die Handlung eingesogen werden, dadurch, dass man mitten in diesem fiktiven Raum steht und physisch am gleichen Ort ist für die Figuren und das aber eben auch das eigene Handeln Konsequenzen hat."
    "Das Hackerkollektiv Transpirates hat heute um 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit dem European Protection Service EPS den Krieg erklärt. Nach Ansicht der Hacker gehe die Behörde, die die Europäische Union vor inneren und äußeren Feinden beschützen soll, zu weit und verletze die Privatsphäre der Europäer."
    Die Zuschauer erhalten im Verlauf des Stücks die Gelegenheit, eine Hackerin zu unterstützen. So werden die Informationen gesammelt, die später den Ausgang des Volksentscheids beeinflussen können.
    In den Stücken von Machina Ex geht es immer um viel - Leben oder Tod, Friedliche Zukunft oder Weltuntergang. So werden die Zuschauer motiviert, ins Spiel einzugreifen. Gegründet wurde die Gruppe 2010 in Hildesheim.
    "Wir haben relativ schnell relativ viel Aufmerksamkeit bekommen für dieses Format, weil es das, als wir damit angefangen haben, in dieser Form überhaupt noch nicht gab. Ich glaube, wir sind jetzt in einer Zeit aktiv, in der immer mehr Spielformen ins Theater, aber auch sonst in unser restliches Leben Einzug halten."
    Der Trend, das Leben zum Spiel zu machen, ist in den letzten Jahren stärker geworden. Beim Einkaufen werden Bonuspunkte verteilt, Smartphone-Apps fördern gesundheitsbewusstes Verhalten oder 3D-Spiele im öffentlichen Raum.
    Bei den Theaterproduktionen von Machina Ex ist das Spiel allerdings kein Selbstzweck. In "Lessons of Leaking" zum Beispiel geht es um die Auseinandersetzung mit der Frage, ob in der Politik der Zweck die Mittel heiligt.
    "Das Publikum kann darüber entscheiden, ob Deutschland durch eine Lüge dazu gebracht wird, in der EU zu bleiben oder ob es das nicht möchte, also ob Transparenz der richtige Wert ist ...
    Steht man immer auf der richtigen Seite, wenn man die Wahrheit ans Licht bringt? Ein schwieriges Dilemma. "To be or not to be", fragt Hamlet bei Shakespeare. Machina Ex macht daraus "To leak or not to leak". Die Konsequenzen sind nicht weniger drastisch als in der berühmten Theatertragödie.