So klingt die Revolution. Edmund Meisels Musik zu Sergej Eisensteins Stummfilmklassiker "Panzerkreuzer Potemkin" symbolisiert den Aufbruch in der Musik. In Düsseldorf wurde das Werk in der Originalfassung aufgeführt. Aufgestöbert und rekonstruiert hatten es die Persimfans-Musiker. Die Aufführung war eine Sensation an diesem bemerkenswerten Wochenende in der Tonhalle, das anlässlich des 100. Jubiläums der russischen Revolution und im Rahmen der Städtepartnerschaft von Düsseldorf und Moskau stattfand.
Entdeckungsreise ins Atlantis russischer Avantgardemusik
Während Meisels "Potemkin"-Musik zumindest ansatzweise bekannt ist, präsentierten die russischen Gäste mit den Werken von Iwan Wyschnegradsky, der bereits in den 1920er-Jahren mit Mikrotönen experimentierte, oder den Stücken der gebürtigen Ukrainer Joseph Schillinger und Yuliy Meitus bis dato unerforschte Bereiche vom Atlantis russischer Avantgardemusik – jenes Kontinents, den Stalin in Blut ertränkte. Folgende Sowjetherrscher verpönten ihn, und bis heute ist er weitestgehend unentdeckt. Dazu gehört auch das Werk des großen Alexander Mossolow, von dem das Klavierkonzert und sein, nur mit den ersten beiden Sätzen überliefertes, erstes Streichquartett erklangen.
"Bei Mossolow würde ich sagen: er würde von gestern oder von heute sein!", meint Michael Becker, Intendant der Düsseldorfer Tonhalle. "Das ist eine sehr frische Musik, die ungewöhnlich und auch nicht leicht durchhörbar ist. Und ich würde bei Meisel und Schillinger sagen, das ist eine in Zeit verhaftete Musik, die auch seinen Wert und Qualitäten hat. Schillinger ist zwischen Parodie und ernst gemeintem Stück. Das ist eine geile Musik!"
Joseph Schillingers Rhapsodie als Reisepass
Joseph Schillinger schrieb sich mit seiner symphonischen Rhapsodie "Oktober" gewissermaßen einen Reisepass: Das Werk, dessen parodistische Züge heute nicht zu überhören sind, wurde beim Konzert zum zehnten Jahrestag des "Roten Oktobers" aufgeführt, neben Werken Beethovens. Den jungen Schostakowitsch hatte man abgelehnt. Schillinger stand höher im Kurs und nützte seine Popularität für die Ausreisegenehmigung. Er ging in die USA, wo er sich seiner Passion, dem Jazz widmete und als Lehrer von Benny Goodman, Glenn Miller, aber auch George Gershwin die Musikgeschichte mitprägte. All das und einiges mehr hatten die 40 aus Moskau angereisten Persimfans-Musiker im Gepäck.
Befreiung von der Dirigentendiktatur
PerSimfAns, die vielversprechende Abkürzung steht für Perwy Simfonitscheski Ansambl - Erstes Symphonisches Ensemble. Gegründet wurde das Musikerkollektiv 1922 aus dem Geiste der Befreiung von den Ketten der alten Welt, inklusive der Dirigentendiktatur. Zehn Jahre lang war Persimfans aus dem russischen Musikleben nicht wegzudenken. Man spielte ohne Chef. Die Musiker verständigten sich durch Blickkontakte und Gesten. Um dies zu erleichtern, saß man im Kreis. Aber das war es nicht allein: Die Musikkommunisten entwickelten gemeinsam Programme, befragten das Publikum nach seinen Wünschen, veröffentlichten eine eigene Zeitschrift. 1932 ist das Kollektiv aufgelöst worden, zu experimentell, zu "herrscherfrei" für die Stalinzeit.
2008 wurde das Kombinat der Künste jedoch wiederbelebt - von Piotr Aidu, dem Enkel eines Mitbegründers von Ur-Persimfans und einem Tausendsassa des heutigen Moskauer Musiklebens. Piotr Aidu:
"Das Persimfans-Konzept ist unglaublich aktuell. Es entspricht viel mehr unserer Vorstellung vom zivilisierten Leben im 21. Jahrhundert als ein herkömmliches Sinfonieorchester. Das sieht man schon daran, wie richtig moderne Ensembles arbeiten, sei es im Bereich der zeitgenössischen oder der Alten Musik. Der Dirigent hat eigentlich nur eine Funktion: Er ist derjenige, der an entsprechenden Stellen den Ton angibt!"
Musikpartisanen mit Enthusiasmus
Der Klaviervirtuose und Performer, Theatermann und Geräuschkünstler Piotr Aidu wirbelt regelmäßig das Moskauer Kulturleben auf:
"Persimfans ist kein normales Orchester, dessen Musiker Tag ein, Tag aus ihren Dienst verrichten. Persimfans ist eine Art-Group, eine Vereinigung ungewöhnlicher Künstler. Ich beschreibe uns gerne als Musikpartisanen, die aus dem Wald kommen, um ein Projekt umzusetzen, und dann wieder im Wald verschwinden. Es geht ums gemeinsame Musizieren und um die Freude dabei."
Gehälter, Proben, Dienstplan – all das gibt es bei Persimfans nicht. Dafür viel Enthusiasmus.
"Ein Orchester mit mehr oder weniger 100 Leuten ohne Dirigenten antreten zu lassen, bedeutet an vielen Stellen, den Dirigenten in Wirklichkeit im Orchester zu positionieren", beobachtet der Düsseldorfer Tonhallen-Intendant Michael Becker. "Sie haben immer irgendwo einen Anführer!"
"Es ist für uns nicht einfach. Manche sind so was von impulsiv und schießen manchmal übers Ziel hinaus. Der Bassist, der das Material wohl gut kennt und leitet irgendwie: Man denkt, der Bass explodiert gleich! Einige Kollegen sind zu mir gekommen und meinten: Es ist doch ganz gut, dass es einen Dirigenten gibt!"
Der charismatische Kontrabassist heißt Grigori Krotenko und ist ein Mitbegründer des neuen Persimfans:
"Der Ursprung von allem ist natürlich die deutsche Kultur des orchestralen Musizierens. Wir kehren sozusagen zurück zur Quelle und kotzen unsere Erfahrungen aus. Ja, wir sind gewisser Weise ein 'Rülpser' der deutschen Erfahrung!"