In ihren gemeinsamen Aufzeichnungen schildern Anja Reich und Alexander Osang sehr persönlich, wie sie diesen 11. September vor zehn Jahren erlebt haben. Es sollte ein ganz normaler Dienstagmorgen in Brooklyn werden: aufstehen, Frühstück machen, den Sohn zur Schule bringen, das Auto umsetzen, weil es sonst abgeschleppt wird, mit der dreijährigen Tochter eine Zeichentrickserie schauen. Dann wollte Osang an einem Gysi-Porträt arbeiten, Anja Reich den üblichen Beschäftigungen einer "mitreisenden Ehefrau" nachgehen. Mittags wären sie vielleicht japanisch essen gegangen, wenn nicht kurz vor neun das Telefon geklingelt hätte.
"Ich bin angerufen worden früh von meiner Kollegin aus dem Büro: "Da ist irgendwie ein Loch im World Trade Center". Und ich hab' gedacht: Ja, gut, der Spiegel kommt erst wieder am Montag raus, bis dahin ist dieses Loch wirklich eine Lokalmeldung. Und trotzdem entsteht in so einem Moment Druck. Bin dann aufs Dach gegangen, hab' geguckt: okay, Rauchwolke - wieder runtergegangen. Und dann schlug dieses zweite Flugzeug ein, ohne dass ich bislang wusste, dass es ein Flugzeug ist."
In dem Buch "Wo warst du? Ein Septembertag in New York" formuliert Alexander Osang seine Eindrücke so:
Ein dumpfer Knall. Für einen Moment scheint die Welt zu schwingen, ein leichtes Zittern fährt in die alten Dielen und Wände unseres Hauses. Ich sehe Anja an, und Anja sieht mich an, es ist kein Schrecken in ihrem Blick, eher Neugier und dann höre ich, wie die Stimme des Moderators auf New York 1 lauter wird, sie kippelt und schrieckst und dann klingelt das Telefon wieder.
Kapitelweise wechseln sich Alexander Osang und Anja Reich mit ihren Schilderungen ab. So entstehen zwei sehr unterschiedliche Sichten auf diesen Tag, in denen nicht nur die gegenwärtigen Erlebnisse, sondern auch die gemeinsame Beziehung, das Leben in New York und die damit verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen eine Rolle spielen. Anja Reich ist ebenfalls Reporterin, sie will mit zu den brennenden Türmen. Doch hat sie die gemeinsame Tochter an ihrer Seite. Das Private wird zur Folie der sich überschlagenden Ereignisse.
Alex rennt die Treppen nach oben und sucht seine Sachen zusammen. Ich bleibe mit Mascha unten und fühle mich wie gelähmt, wie immer, wenn etwas passiert, worauf ich keinerlei Einfluss habe. Gerade schien noch alles unter Kontrolle zu sein, der Tag hatte eine Ordnung, einen Rhythmus. Jetzt fällt alles auseinander ...
Während Alexander Osang mit Stift und Notizblock den brennenden Türmen entgegenrast, bastelt Anja Reich mit ihrer Tochter einen Hampelmann, telefoniert mit Freundinnen und informiert sich im Internet über die Situation in Manhattan. Mit jeder Nachricht wächst die Sorge um ihren Mann.
"Ich war da mit meiner kleinen Tochter, die war drei, die war bei mir zu Hause, unser Sohn war in der Schule, und sie hat nichts verstanden. Insofern habe ich auch so getan, als ob alles ganz normal ist. Sie hätte nur bemerkt, dass ich irgendwie traurig bin, und dann wäre sie auch traurig gewesen. Ich hab da schon vorm Fernseher gesessen und geheult. Aber mit 'nem dreijährigen aufgeweckten Mädchen, da rotiert man auch einfach."
Alexander Osang steht indes auf der Brooklyn Bridge und sieht zu, wie der Südturm in sich zusammenfällt.
Es ist ein Bild wie ein Seufzer. Einen Augenblick noch scheint sich der Turm gegen sein Schicksal zu stemmen, das er, anders als wir, schon längere Zeit zu kennen scheint, er zittert und wankt und bricht schließlich müde in sich zusammen. Ein alter Boxer. Es klingt bescheuert, aber der Turm erscheint mir in diesem Moment wirklich menschlich, verletzbar, gebrechlich. Er war mit Menschen gefüllt, und die Menschen sind jetzt tot. All die Menschen.
Worte hastig ins Notizbuch kritzelnd, stürmt der Spiegel-Reporter auf den Nordturm zu. Er will sehen, berichten, Antworten finden. Nur wenige Blocks ist er vom World Trade Center entfernt, als der zweite Turm ebenfalls einstürzt. Die Staubwolke nimmt ihm Atem und Sicht. Rettung findet er in einem Keller, wo er bald beginnt, Menschen zu interviewen, die - wie er - soeben glücklich mit dem Leben davongekommen sind. In solchen Passagen wird das Buch auch zu einer Reflexion des Reporterberufs.
"Es gab ja 'ne Phase, als ich da in dieser Wolke stand, wo ich mir ernsthaft vorgenommen habe: Ich lasse diesen Beruf sein. Das ist eigentlich völlig irrsinnig, alle rennen da weg und ich renn dahin. Was suche ich hier eigentlich? Was ist versteckt in dieser Wolke, über das es sich irgendwie zu berichten lohnte? Aber unten, als ich in diesem Keller war und diese Leute getroffen habe, ging das schon wieder von vorne los."
Durch die Gegenschnitte der Passagen, in denen Anja Reich darüber berichtet, wie sie ihre Aufgaben als Mutter in dem Wissen bewältigt, dass sich ihr Mann im Zentrum des Geschehens aufhält, gewinnt das Buch eine zusätzliche Dimension. Auch wenn die Welt auf einmal nicht mehr dieselbe ist, muss der Sohn von der Schule abgeholt, müssen die üblichen Dinge geregelt werden. Im Bekanntenkreis wird die Gefahr eines Krieges ebenso diskutiert wie die eventuelle Absage einer Kindergeburtstagsfeier. In ihren Beschreibungen aus Brooklyn gelingt es Anja Reich detailgenau eine Atmosphäre zu rekonstruieren, in der sich das Erlebnis eines weltpolitischen Ereignisses ganz konkret im Alltäglichen äußert.
"Reich: Dieser Tag war eben sehr, sehr groß geworden. Und im Laufe dieser zehn Jahre immer größer, immer politischer, und mein Impuls war, dahin noch mal zurückzugehen und wirklich nur das zu erzählen, was mit mir zu tun hatte und nicht mit Afghanistan und Irak und Bush und all diesen Dingen."
Anja Reich und Alexander Osang haben gemeinsam ein Buch über den 11. September geschrieben, das ganz unspektakulär daherkommt und gerade wegen seiner konsequent persönlichen Sicht einen angenehmen Gegenentwurf zu den neuesten Erkenntnissen, sensationellsten Bildern und verschrobensten Verschwörungstheorien bildet, die als mediales Dauerflimmern jubiläumsbedingt durch die Kanäle gejagt werden. Ein Buch, das seine Stärke aus der Genauigkeit der Beobachtung gewinnt und zwei Menschen zeigt, die mit ihren Biografien und Beziehungsgeflechten wie Millionen andere am 11. September 2001 vom Weltgeschehen eingeholt wurden.
Alexander Osang /Anja Reich: "Wo warst Du? Ein Septembertag in New York"
Piper
272 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-4920-5436-2
Mehr zum Thema:
Sammelportal 9/11 - Zehn Jahre danach
Andruck 2011-09-05 - Literaturliste zum 11. September 2001
"Ich bin angerufen worden früh von meiner Kollegin aus dem Büro: "Da ist irgendwie ein Loch im World Trade Center". Und ich hab' gedacht: Ja, gut, der Spiegel kommt erst wieder am Montag raus, bis dahin ist dieses Loch wirklich eine Lokalmeldung. Und trotzdem entsteht in so einem Moment Druck. Bin dann aufs Dach gegangen, hab' geguckt: okay, Rauchwolke - wieder runtergegangen. Und dann schlug dieses zweite Flugzeug ein, ohne dass ich bislang wusste, dass es ein Flugzeug ist."
In dem Buch "Wo warst du? Ein Septembertag in New York" formuliert Alexander Osang seine Eindrücke so:
Ein dumpfer Knall. Für einen Moment scheint die Welt zu schwingen, ein leichtes Zittern fährt in die alten Dielen und Wände unseres Hauses. Ich sehe Anja an, und Anja sieht mich an, es ist kein Schrecken in ihrem Blick, eher Neugier und dann höre ich, wie die Stimme des Moderators auf New York 1 lauter wird, sie kippelt und schrieckst und dann klingelt das Telefon wieder.
Kapitelweise wechseln sich Alexander Osang und Anja Reich mit ihren Schilderungen ab. So entstehen zwei sehr unterschiedliche Sichten auf diesen Tag, in denen nicht nur die gegenwärtigen Erlebnisse, sondern auch die gemeinsame Beziehung, das Leben in New York und die damit verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen eine Rolle spielen. Anja Reich ist ebenfalls Reporterin, sie will mit zu den brennenden Türmen. Doch hat sie die gemeinsame Tochter an ihrer Seite. Das Private wird zur Folie der sich überschlagenden Ereignisse.
Alex rennt die Treppen nach oben und sucht seine Sachen zusammen. Ich bleibe mit Mascha unten und fühle mich wie gelähmt, wie immer, wenn etwas passiert, worauf ich keinerlei Einfluss habe. Gerade schien noch alles unter Kontrolle zu sein, der Tag hatte eine Ordnung, einen Rhythmus. Jetzt fällt alles auseinander ...
Während Alexander Osang mit Stift und Notizblock den brennenden Türmen entgegenrast, bastelt Anja Reich mit ihrer Tochter einen Hampelmann, telefoniert mit Freundinnen und informiert sich im Internet über die Situation in Manhattan. Mit jeder Nachricht wächst die Sorge um ihren Mann.
"Ich war da mit meiner kleinen Tochter, die war drei, die war bei mir zu Hause, unser Sohn war in der Schule, und sie hat nichts verstanden. Insofern habe ich auch so getan, als ob alles ganz normal ist. Sie hätte nur bemerkt, dass ich irgendwie traurig bin, und dann wäre sie auch traurig gewesen. Ich hab da schon vorm Fernseher gesessen und geheult. Aber mit 'nem dreijährigen aufgeweckten Mädchen, da rotiert man auch einfach."
Alexander Osang steht indes auf der Brooklyn Bridge und sieht zu, wie der Südturm in sich zusammenfällt.
Es ist ein Bild wie ein Seufzer. Einen Augenblick noch scheint sich der Turm gegen sein Schicksal zu stemmen, das er, anders als wir, schon längere Zeit zu kennen scheint, er zittert und wankt und bricht schließlich müde in sich zusammen. Ein alter Boxer. Es klingt bescheuert, aber der Turm erscheint mir in diesem Moment wirklich menschlich, verletzbar, gebrechlich. Er war mit Menschen gefüllt, und die Menschen sind jetzt tot. All die Menschen.
Worte hastig ins Notizbuch kritzelnd, stürmt der Spiegel-Reporter auf den Nordturm zu. Er will sehen, berichten, Antworten finden. Nur wenige Blocks ist er vom World Trade Center entfernt, als der zweite Turm ebenfalls einstürzt. Die Staubwolke nimmt ihm Atem und Sicht. Rettung findet er in einem Keller, wo er bald beginnt, Menschen zu interviewen, die - wie er - soeben glücklich mit dem Leben davongekommen sind. In solchen Passagen wird das Buch auch zu einer Reflexion des Reporterberufs.
"Es gab ja 'ne Phase, als ich da in dieser Wolke stand, wo ich mir ernsthaft vorgenommen habe: Ich lasse diesen Beruf sein. Das ist eigentlich völlig irrsinnig, alle rennen da weg und ich renn dahin. Was suche ich hier eigentlich? Was ist versteckt in dieser Wolke, über das es sich irgendwie zu berichten lohnte? Aber unten, als ich in diesem Keller war und diese Leute getroffen habe, ging das schon wieder von vorne los."
Durch die Gegenschnitte der Passagen, in denen Anja Reich darüber berichtet, wie sie ihre Aufgaben als Mutter in dem Wissen bewältigt, dass sich ihr Mann im Zentrum des Geschehens aufhält, gewinnt das Buch eine zusätzliche Dimension. Auch wenn die Welt auf einmal nicht mehr dieselbe ist, muss der Sohn von der Schule abgeholt, müssen die üblichen Dinge geregelt werden. Im Bekanntenkreis wird die Gefahr eines Krieges ebenso diskutiert wie die eventuelle Absage einer Kindergeburtstagsfeier. In ihren Beschreibungen aus Brooklyn gelingt es Anja Reich detailgenau eine Atmosphäre zu rekonstruieren, in der sich das Erlebnis eines weltpolitischen Ereignisses ganz konkret im Alltäglichen äußert.
"Reich: Dieser Tag war eben sehr, sehr groß geworden. Und im Laufe dieser zehn Jahre immer größer, immer politischer, und mein Impuls war, dahin noch mal zurückzugehen und wirklich nur das zu erzählen, was mit mir zu tun hatte und nicht mit Afghanistan und Irak und Bush und all diesen Dingen."
Anja Reich und Alexander Osang haben gemeinsam ein Buch über den 11. September geschrieben, das ganz unspektakulär daherkommt und gerade wegen seiner konsequent persönlichen Sicht einen angenehmen Gegenentwurf zu den neuesten Erkenntnissen, sensationellsten Bildern und verschrobensten Verschwörungstheorien bildet, die als mediales Dauerflimmern jubiläumsbedingt durch die Kanäle gejagt werden. Ein Buch, das seine Stärke aus der Genauigkeit der Beobachtung gewinnt und zwei Menschen zeigt, die mit ihren Biografien und Beziehungsgeflechten wie Millionen andere am 11. September 2001 vom Weltgeschehen eingeholt wurden.
Alexander Osang /Anja Reich: "Wo warst Du? Ein Septembertag in New York"
Piper
272 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-4920-5436-2
Sammelportal 9/11 - Zehn Jahre danach
Andruck 2011-09-05 - Literaturliste zum 11. September 2001