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Persönlicher Essay über Depressionen
"Der Refrain meiner Kindheit war: Reiß dich zusammen!"

Wo endet eine kleine Stimmungskrise und wo beginnt die Depression? Jahrzehntelang konnte Autor und Journalist Till Raether seine Krankheit nicht klar benennen. Jetzt schreibt er über Scham und Anerkennung seiner "Halbdepression" und spricht im Dlf über die Macht von Durchhalteparolen.

Till Raether im Gespräch mit Miriam Zeh |
Till Raether und sein Buch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“
Till Raether und sein Buch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ (Foto: Stephanie Brinkkoetter, Buchcover: Rowohlt Verlag)
Depressionen werden in der Literaturgeschichte immer wieder thematisiert. Von den trübsinnigen Anwandlungen des biblischen König Saul über die depressiven Figuren von David Foster Wallace oder Terézia Mora bis hin zu Depressionsmemoirs, autobiographischen Erzählungen über die eigene Krankheit. Oft sind es allerdings schwere Verläufe, die geschildert werden. Von leichter bis mittelschwere Depression ist seltener die Rede. Der Journalist und Autor Till Raether beschreibt jetzt gerade diese Form der Krankheit. Es ist seine eigene Krankheit, bei der er sich lange Zeit nicht sicher sein konnte: "Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?"
In seinem gleichnamigen Essay entlarvt Raether rückblickend zahlreiche Redewendungen, die ihm jahrzehntelang geholfen haben, als sogenannter hochfunktionaler Depressiver trotz Krankheit aufzustehen und zu arbeiten. "Erstens durch Redewendungen, die man sich selber sagt, wie Mantren des Halbdepressiven: Das ist jetzt eine schwierige Phase, aber wenn du erst die neue Wohnung oder den neuen Job oder wenn du dich daran gewöhnt hast, dann wird es auch besser!", illustriert der Autor. "Es geht aber auch noch weiter zurück. Wie viele, die in den 70er-Jahren aufgewachsen sind, bin ich mit Sätzen aufgewachsen, die auch fortschrittliche Eltern noch aus ihrer Elterngeneration mitgenommen haben. Der Refrain meiner Kindheit war, von Lehrern, Lehrerinnen, beim Sport, aber durchaus auch von meinen Eltern: Reiß dich zusammen!"

Erkenntnis kam beim Schreiben

Wie sich diese Durchhalteparolen bei ihm festgesetzt hatten, bemerkte Till Raether beim Schreiben seiner Kriminalromane. Deren Hauptfigur, der Kommissar Adam Danowski, ist selbst depressiv. "Das war damals für mich ein Erkenntnisweg", sagt der Autor heute. "2013, als ich den ersten Roman geschrieben habe, orientierte ich mich an dieser klassischen Genrevorgabe: Der Ermittler hat noch ein psychologisches Problem. Ich habe mich damals viel mit dem Thema Hypersensibilität beschäftigt und habe dann im Laufe der Romane - fünf sind mittlerweile erschienen - bemerkt: Es ist eigentlich etwas anderes. Der leidet auf eine andere Art an seinem Job. Der ist womöglich depressiv. Und das lief parallel mit meiner eigenen Erkenntnis."
Während Adam Danowski eine fiktive Figur bleibt, ist Raethers Essay "Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?" sehr persönlich angelegt. Er erzählt auch und ohne Anklage, wie Familie und Freunde unter der Krankheit leiden oder wie Rather selbst immer wieder daran scheitert, seiner schwer depressiven Mutter zu helfen. Dabei treten auch andere Autoren auf, die offen mit ihrer Depression umgingen. "Die gängigen Formulierungen, etwa von Churchill: die Depression als 'schwarzer Hund' oder F. Scott Fitzgerald schreibt einmal über 'dunkel Busse', die einen abholen - da habe ich gemerkt, dass das Bildwelten oder Bildklischees sind, die mir nicht weiterhelfen." Stattdessen fand Raether bei Genreautorinnen wie der Britin Muriel Spark eine Art von Protagonistin und Protagonist, die sehr distanziert und selbstbeobachtend auf ihre Umgebung reagieren. "Da hab ich gemerkt, dass mir diese Verhaltensweisen vertraut sind."

Wer liest, kann sich abgrenzen oder wiederfinden

Für seine eigene Depressionserzählung wünscht sich Raether, dass sie beim Lesen Reaktionen hervorruft: "Ich hoffe, dass mein Essay dadurch, dass es ein Memoir und 1:1 aus meiner Sicht erzählt ist, die Menschen einlädt, sich abzugrenzen oder zu sagen: Hier kann ich ein Stück weit folgen."
Die titelgebende Frage "Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?" kann laut Autor übrigens gar nicht immer eindeutig beantwortet werden. "Das Buch handelt auch von den Schuldgefühlen, die ich gehabt habe, weil ich mir manchmal gewünscht habe, ich hätte eine stärkere Depression - was natürlich völlig haltlos, selbstüberhöhend und verkennend ist, aber eine Sehnsucht nach Klarheit ausdrückt. Ich glaube, dass diese Klarheit nicht immer zu erreichen ist. Ich glaube, dass für mich diese Klarheit jetzt darin liegt, dass ich weiß, dass ich mich mit dieser Frage weiter beschäftigen werde, vermutlich so lange, wie ich bewusst am Leben teilnehme, und dass ich diese Frage auch nicht beantworten, dass ich aber trotzdem mir nicht versagen muss, dass es mir und den Menschen um mich herum besser geht."
Till Raether: "Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?"
Hamburg: Rowohlt Verlag, 128 Seiten, 14 Euro