Für ihn kann das Digitale in der Bildung nicht zu früh kommen. Stefan Wolf, Chef des baden-württembergischen Arbeitgeberverbandes:
"Ich glaube, dass wir mit dem Thema Digitalisierung, auch mit dem Thema Computer, Umgehen mit Technik, schon sehr früh anfangen müssen. Ich glaube, dass wir schon im Grundschulalter in die Digitalisierung einsteigen sollten."
Für ihn - und nicht nur für ihn - kommt digitale Bildung viel zu früh. Julian Nida-Rümelin, Kulturstaatsminister außer Dienst und Professor für Philosophie und Entscheidungsethik:
"Die CEOs im Silicon Valley, also die Chefs von Amazon, Google, Facebook und Microsoft haben sich erklärt im Interview und haben gesagt: Erst ab 14 sollen die Kinder ein Smartphone benutzen. Na ja, ich finde schon auch, man kann darüber streiten, ob 14 nicht ein bisschen zu spät ist. Aber die kindliche Nutzung von digitalen Endgeräten ist hochgefährlich, weil die Kinder Gefahr laufen, in einen Sog zu geraten des visuellen und emotionalen Überangebotes."
Hier der Wirtschaftsboss, der Kindern Digitales am liebsten mit der Muttermilch eintrichtern würde, dort der Philosophieprofessor, der vor den Gefahren warnt - wer hat nun recht?
Soziales in der Bildung
Möglicherweise beide. Denn so groß die Meinungsunterschiede darüber auch sein mögen, ob der Einstieg in digitale Lerninhalte nun in der Grundschule oder später erfolgen soll, so einig sind sich der Professor und der Arbeitgebervertreter auf dem Fachtag "Bildung - Zukunft - Wirtschaft" in Stuttgart doch in einem Punkt: Zum runden Digitalen muss auch das eckige Soziale in der Bildung hinzukommen - und zwar stärker als bisher. Stefan Wolf:
"Hinzu kommt, dass es zunehmend auch an sozialen Kompetenzen fehlt. Es gehört einfach dazu, Verständnis für die Leute zu entwickeln, moralische, ethische Grundwerte zu haben, wie man miteinander umgeht. Klar muss alles digitalisiert werden. Aber parallel dazu muss man eben lesen und schreiben lernen, rechnen lernen, diese ethisch-moralischen Grundwerte lernen, die wir eben in der Wirtschaft brauchen."
Wirtschaftsvertreter fordern längere Schulzeiten
Diese Forderung nach Vermittlung ethischer und moralischer Grundwerte im Schulsystem war bislang in der Wirtschaft eher vereinzelt und leise vernehmbar. Jetzt wird sie so der Eindruck auf dem Fachtag in Stuttgart, zunehmend lauter - und nicht nur das: Waren es vor Jahren gerade Wirtschaftsvertreter, die kürzere Schul- und Studienzeiten forderten, so sind es heute wiederum Wirtschaftsvertreter, die sich wieder für längere Schulzeiten einsetzen. Die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahren würde der baden-württembergische Arbeitgeberchef Stefan Wolf lieber heute als morgen rückgängig machen:
"Ich finde, man braucht eine gewisse Zeit, sich zu entwickeln, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Und es macht keinen Sinn, den Stoff in acht Jahren reinzudrücken, die Kinder zu stressen, die Lehrer zu stressen. Die jungen Menschen kommen früh genug in unsere Betriebe. Die Persönlichkeitsbildung ist wichtig. Und ich glaube, die erzielen wir besser mit G9 als mit G8."
Und spätestens in diesem Punkt herrscht wieder Übereinstimmung zwischen dem Arbeitgeberpräsidenten und dem Philosophieprofessor. Auch Julian Nida-Rümelin hält eine neunjährige Gymnasialzeit für sinnvoller - und nicht nur das: Er verweist darauf, dass ausgerechnet boomende Hightech-Regionen Regelungen getroffen haben, die verhindern, dass Schülerinnen und Schülern zu Fachidioten werden:
"Singapur hat jetzt zum Beispiel eine Regelung erlassen, die das 'Im-Freien-Sein' von Kindern und Jugendlichen erzwingt, von Schulen und Eltern erzwingt, weil die dort massive Gesundheitsprobleme haben, unter anderem grassierende Kurzsichtigkeit, weil die Kinder nicht mehr ins Freie kommen. Das heißt also: Wir müssen dringend diesen Bedarf an Kindern, an Bewegung, an Interaktion, an Austausch mit der natürlichen Welt fördern."
Gerade volljährig und schon zu Ende studiert: Dieses einstige Wunschbild von Wirtschaftsvertretern an Berufseinsteiger hat sich, wenn man den Äußerungen in Stuttgart Glauben schenken darf, erledigt. Denn mittlerweile zeigt sich: Viele, die mit Anfang 20 ein Studium beendet haben, merken plötzlich, das sie aufs falsche Fach gesetzt haben.
Handwerker gefragt
Und viele, die mit 17 Abitur machen, sind erst mal unentschlossen, wissen noch gar nicht so recht, was sie studieren wollen. Müssen sie überhaupt studieren?
"Es ist vielleicht in den Köpfen der einen oder anderen noch verwurzelt: Nur ein Akademiker kann ein erfolgreiches Leben führen. Das ist natürlich grundsätzlich falsch", so Reiner Reichhold, Präsident des baden-württembergischen Handwerkstages. Dass angehende Handwerker das Abitur in der Tasche haben, sei grundsätzlich zu begrüßen. Aber:
"Wir müssen aber den Schulen und den Schulleitern erklären, dass, wer Abitur machen möchte, nicht zwingend studieren muss. Wir brauchen auch Führungskräfte im Handwerk, wir brauchen gut ausgebildete Menschen, wir brauchen Menschen mit Abitur im Handwerk. Insofern muss sowohl in der Bildung und in den Elternhäusern ein Umdenken stattfinden."
Mehr Zeit für Persönlichkeitsentwicklung während der Schulzeit, mehr Zeit für die Ausbildung sozialer Fähigkeiten, keine komprimierte Vermittlung von Fachwissen mehr à la "Nürnberger Trichter" im Zuge verkürzter Gymnasialzeit - und: kritisches Hinterfragen, ab wann digitale Bildungsinhalte beginnen sollen. Diese Wünsche, die Wirtschaftsvertreter in Stuttgart an das Bildungssystem herangetragen haben, bringen tatsächlich neue Herausforderungen auch für das Schulsystem mit sich. Aber welche? Susanne Eisenmann, CDU-Kultusministerin in Baden-Württemberg:
"Gerade in der Bildungspolitik ist der Abwägungsprozess 'wie viel digital und wie viel traditionell, humanistische Bildung' notwendig. Werteorientierung, Wertebildung - wie ist da genau die Waagschale auszulotsen? Und da müssen wir aufpassen, dass das ausgewogen geschieht und dass wir nicht in die eine oder in die andere Richtung tendieren. Es kommt auf die richtige Mischung an", über die Vertreter aus Wirtschaft und Bildungsinstitutionen zukünftig sicherlich noch weiter diskutieren werden.