Der zweijährige Zyklus der militärischen Eskalation zwischen Israelis und radikalen Palästinensern könne nur durch eine dauerhafte Friedenslösung durchbrochen werden, sagte Trittin im Deutschlandfunk. Beide Seiten hätten jedoch nicht einmal wesentliche Bestandteile der Vereinbarungen eingehalten, auf die sie sich vor zwei Jahren verständigt hatten.
Die Sicherheitslage Israels sei von Krieg zu Krieg schlechter geworden, der Traum der Palästinenser, ihr eigenes Gebiet selbstständig und souverän zu verwalten, nicht verwirklicht. Die Versprechen der Hardliner beider Seiten an die Bevölkerung würden nicht eintreten, sagte Trittin.
Zu dem Vorschlag des israelischen Außenministers Avigdor Lieberman, den Gazastreifen unter UNO-Kontrolle zu stellen, sagte Trittin, es wäre ihm neu, dass Israel bereit wäre, die Besetzung Gazas aufzugeben. Israel wolle viel mehr, dass die UNO "die Rolle des Gefängniswärters in diesem Freiluftgefängnis übernehmen" und die Besatzung fortgesetzt werde. "Das würden die Vereinten Nationen nach den Erfahrungen der vergangenen Tage mit Sicherheit nicht machen", sagte Trittin.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Seit gestern Vormittag schweigen die Waffen im Gaza-Krieg, zumindest vorübergehend. Die Konfliktparteien haben sich auf eine 72-stündige Feuerpause verständigt, und die scheint bislang auch eingehalten zu werden. Gleichzeitig wird in Kairo darüber verhandelt, ob aus dieser Feuerpause ein dauerhafter Waffenstillstand werden kann. Und bei uns am Telefon ist Jürgen Trittin von den Grünen. In der Fraktion ist er zuständig für die Außenpolitik. Guten Morgen, Herr Trittin!
Jürgen Trittin: Guten Morgen!
Kapern: Herr Trittin, 2008, 2009, da gab es die Operation "Gegossenes Blei", 2012 die Operation "Wolkensäule", 2014 die Operation "Protective Edge" – was muss eigentlich geschehen, dass bei den Verhandlungen in Kairo ein Waffenstillstand vereinbart wird, der mal langfristig hält?
Trittin: Ich glaube, es muss das getan werden, wenn man diesen Zyklus durchbrechen will, alle zwei Jahre eine gewalttätige militärische Eskalation, in diesem Fall mit 1.800 Toten auf der einen und 64 auf der anderen Seite, dann muss man zu dem zurückkehren, auf das man sich schon mal verständigt hat. Das war in der Vereinbarung von 2012 ein Ende der Blockade des Gazastreifens, ein Ende der Raketen auf Israel und eine schrittweise Öffnung des Gazastreifens plus einer Wiederherstellung der staatlichen Autorität der gewählten palästinensischen Regierung im Westjordanland wie in Gaza. Das ist das, was Gegenstand der Vereinbarung von 2012 zur Beendigung der damaligen Kämpfe gewesen ist. Das ist das, was über weite Strecken in den letzten Jahren nicht eingehalten worden ist. Und es gehört drittens zu Verhandlungen, das tatsächlich am Boden umzusetzen, wozu sich alle auf dem Papier mittlerweile bekennen, nämlich eine Zwei-Staaten-Lösung.
Kapern: Bleiben wir noch mal bei Ihrem ersten Punkt. An wem ist es denn gescheitert, dass aus den Vereinbarungen von 2012 nichts geworden ist. An der mangelnden Aufhebung, Lockerung der Blockade oder an dem erneuten Raketenschmuggel in den Gazastreifen?
Trittin: Ach, das ist Bestandteil dieses Zyklus', dass man immer auf den anderen verweist, wer dann die Verantwortung trägt. Ich glaube, die Fairness gebietet es, festzuhalten, dass wesentliche Bestandteile genau dieser Vereinbarung von beiden Seiten nicht umgesetzt worden sind. Weder ist die Blockade behoben worden - es sind heute sehr viel mehr Menschen von Nahrungsmittelhilfe der UN in Gaza abhängig - noch hat man es geschafft, eine wirklich funktionierende Sicherheitsstruktur der gewählten palästinensischen Regierung im Gaza wiederherzustellen. Da führt es überhaupt nicht weiter, dass man auf den jeweils anderen verweist, um seine eigene Verletzung der Vereinbarung zu rechtfertigen.
"Israel besetzt den Gazastreifen"
Kapern: Man könnte ja zu dem Ergebnis kommen, Herr Trittin, dass beide Parteien überhaupt nicht in der Lage sind, das zu tun, was erforderlich ist, was Sie genannt haben. In diesem Zusammenhang hat ja der israelische Außenminister vorgeschlagen, den Gazastreifen unter UN-Kontrolle zu stellen. Was halten Sie davon?
Trittin: Es wäre völlig neu, dass Israel bereit wäre, die Besetzung des Gazastreifens, und nichts anderes findet dort statt, auch wenn Truppen nicht vor Ort sind, aufzugeben und diese dadurch zu beenden. Ich glaube, Herr Lieberman meint etwas anderes. Er meint, dass die Besetzung fortgesetzt wird, aber dass die UN dort quasi die Rolle des Gefängniswärters in diesem Freiluftgefängnis übernehmen. Das würden die Vereinten Nationen nach den Erfahrungen der letzten Tage, wo sie ja selbst zum Kriegsziel Israels geworden sind, mit Sicherheit nicht machen. Es sind mehrere, ich glaube, zwölf Mitarbeiter der Vereinten Nationen, die für Hilfswerke dort tätig gewesen sind, im Zuge dieser Kämpfe umgekommen, und insofern ist das ein Vorschlag, wenig Realitätstauglichkeit. Sie haben recht, es gibt auf beiden Seiten viele Kräfte, die eine solche Vereinbarung nicht wollen. Nur, diese Kräfte werden nach den Konflikten von 2008, 2012, jetzt 2014, also immer im Zweijahresrhythmus, sich fragen lassen müssen, ob sie das, was sie ihrer jeweiligen Bevölkerung versprechen, nämlich ein Leben in Sicherheit, ein Leben in einem unabhängigen Palästina, ob sie dieses Versprechen dann irgendwann mal einlösen können. Zurzeit läuft es darauf hinaus, dass die Sicherheitslage in Israel von Krieg zu Krieg schlechter geworden ist. Es läuft darauf hinaus, dass der Traum der Palästinenser, ihr eigenes Gebiet selbstständig, und zwar souverän zu verwalten, selber darüber zu entscheiden, nicht Objekte einer Besatzungsmacht zu sein, die sie im Westjordanland wie in Gaza heute sind, dass auch dieses mit dieser Politik nichts zu tun und immer die nächste Konfrontation abzuwarten, dass genau dies das Ergebnis ist. Das heißt, das, was die jeweiligen Hardliner ihrer Bevölkerung versprechen, Sicherheit für Israel, Freiheit und Ende der Blockade in Palästina, genau dieses wird nicht eintreten. Das belegt dieser Konflikt, und deswegen führt kein Weg daran vorbei, dass man zu einer endgültigen Friedenslösung kommt und dass dann darüber auch die Besatzung im Westjordanland und im Gazastreifen beendet wird.
"Faktische Totalblockade"
Kapern: Bevor wir noch mal über diese endgültige Friedenslösung reden, Herr Trittin, möchte ich noch mal etwas kurzfristiger auf den Gazastreifen schauen. Da hat es ja von 2005 bis 2007 schon mal eine EU-Mission mit dem seltsamen Namen "EUBAM" gegeben - da haben EU-Soldaten Grenzkontrollen in Rafah durchgeführt, um sicherzustellen, dass sehr wohl Waren in den Gazastreifen kommen, aber keine Waffen mehr. Muss diese Aktion wiederbelebt werden, um die Zauberformel für einen längerfristigen Waffenstillstand umsetzen zu können, die da lautet: Entmilitarisierung gegen Beendigung der Blockade?
Trittin: Wir haben uns damals mit Polizeibeamten daran beteiligt. Das ist auch richtig. Die Bereitschaft der Europäischen Union besteht weiterhin. Dieses kann aber nur geschehen in einem insgesamt befriedeten Umfeld, und wenn diese Grenzkontrollen eben tatsächlich auch die Souveränität der Grenzkontrollen tatsächlich machen, das heißt, es setzt die Bereitschaft Israels voraus, tatsächlich die faktische Totalblockade - es kommen heute noch zwei Prozent der Waren, die lange nach Gaza kamen, in dieses Gebiet hinein -, dass diese tatsächlich beendet wird. Dann ist es richtig und vernünftig, dass die Europäische Union diese Grenzmission wiederaufnimmt.
Kapern: Das klingt so, als hätten Sie da sehr viel Skepsis?
Trittin: Nein, wir haben das damals ja offensiv mit unterstützt. Nun muss man eben sehen, dass in dem Moment, wo kriegerische Handlungen aufgetreten waren, dieses auch nicht mehr stattfinden konnte. Das heißt, wir reden hier über etwas, was erst Ergebnis eines dauerhaften Waffenstillstandes sein kann. Soweit Europa dazu einen Beitrag leisten kann, wird es das tun und muss es das nach meiner tiefen Überzeugung tun. Aber Europa muss sich natürlich auch fragen, wie oft es beispielsweise noch das Elektrizitätswerk in Gaza, das erneut in diesem Konflikt zerstört worden ist und damit die Wasser- und die Elektrizitätsversorgung Gazas gezielt zum Zusammenbruch getrieben worden sind, wie oft es dieses Elektrizitätswerk noch aus europäischen Mitteln aufbauen will, ohne dass es zu tragfähigen Vereinbarungen kommt, dass das für die Zukunft verhindert wird.
Kapern: Herr Trittin, es gibt noch einen Punkt, auf den ich Sie ansprechen möchte. In der EU gibt es seit Langem Bestrebungen, Israel durch eine Kennzeichnung von Waren aus den besetzten Gebieten zu größerer Konzessionsbereitschaft gegenüber den Palästinensern zu bewegen. Belgien hat den Großhändlern im Lande erst letzte Woche empfohlen, solche Importe zu kennzeichnen. Kann das was bewirken? Ist das ein Vorbild für Deutschland?
Trittin: Es gibt überhaupt gar nichts rein Nationales zu regeln, in diesem Fall weder von Deutschland noch von Belgien. Es gilt europäisches Recht, und europäisches Recht sagt, dass Zollvorteile für den Import von Waren nach Europa nur Waren haben können, die aus dem Kerngebiet Israels kommen. Die Wiederherstellung oder die Herstellung dieser rechtlichen Lage, dazu sind alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet. Das ist auch nichts Neues.
Kapern: Jürgen Trittin war das von der Bundestagsfraktion der Grünen im Deutschen Bundestag. Herr Trittin, danke, dass Sie heute Morgen Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und sage auf Wiederhören!
Trittin: Tschüs, Herr Kapern!
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