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Peru
Bei den Wolkenkriegern

Die altperuanische Festungsstadt Kuélap wurde in den Jahren ab 800 nach Christus gebaut und ist damit älter als Machu Picchu. Hier wohnte ein Andenvolk, das von den Inka "Wolkenkrieger" genannt wurde. Denn die Festungsstadt liegt auf knapp 3.000 Kilometern Höhe und ist nur schwer zugänglich.

Von Philipp Eins |
    Wiederaufgebautes Haus der Chachapoya Indianer, Kuelap, Peru.
    Wiederaufgebautes Haus der Chachapoya Indianer, Kuelap, Peru. (imago stock&people)
    Es ist Nacht in der nordperuanischen Andenstadt Cajamarca. Während sich die jüngeren Bewohner an dem von Palmen gesäumten Hauptplatz treffen, dem Plaza de Armas, kommen einige der Älteren im Usha Usha zusammen. Vor der Bar aus karminrotem Backstein haben gerade mal sechs schmale Holztische Platz. An einem von ihnen sitzt der 70-jährige Jáime Valera Bazán. Seit 25 Jahren leitet er die Kneipe. Seine Leidenschaft aber gilt der Musik.
    "Ich will die musikalische Tradition unseres Landes retten. Die Menschen dürfen nicht vergessen, woher sie kommen. Sie sollen stolz sein auf die vielfältige peruanische Kultur und sie mit Respekt behandeln. Die Musik ist die Seele unserer Heimat."
    Jedes Wochenende greift Jáime Valera Bazán zu Gitarre und singt Lieder, wie sie die Bauern in den peruanischen Anden seit vielen Generationen singen. Die Tradition, sie ist den Menschen hier im Norden des Landes wichtig. Woher sie stammen und was von der Kultur ihrer Vorfahren geblieben ist, wollen wir in den nächsten Tagen erkunden.
    Die auf knapp 3.000 Meter Höhe liegende Stadt Cajamarca ist ein Knotenpunkt für Reisen in den Norden Perus, der touristisch nur wenig erschlossen ist. Die im 17. Jahrhundert errichtete Kathedrale am Hauptplatz zeugt mit ihrer reich verzierten Fassade von spanischen Einflüssen. Ursprünglich war Cajamarca eine Residenz des Inkaherrschers Atahualpa. Nach einer blutrünstigen Schlacht im November 1532, bei der innerhalb einer halben Stunde 4.000 Inka getötet wurden, übernahm der spanische Eroberer Francisco Pizarro die Herrschaft.
    Chachapoya widersetzten sich den Inkas
    Die Inka waren zu jener Zeit gefürchtete Eroberer in ganz Südamerika. Ihr Reich erstreckte sich vom heutigen Ecuador im Norden bis nach Chile und Argentinien im Süden. In das Hochland östlich des Flusses Río Marañón, zu dem wir am nächsten Morgen mit dem Jeep aufbrechen, haben sie aber lange nicht vordringen können. Das Andenvolk der Chachapoya, das weit verstreut im Bergnebelwald lebte, leistete den Inka erbitterten Widerstand.
    Nach dreieinhalb Stunden Fahrt durch die Pampa de la Colegra, die Schlangenpampa mit ihren weitläufigen Gerstenfeldern und verstreuten Dörfern, erreichen wir den Río Marañón. Er führt durch ein Tal und trennt noch heute die Regionen Cajamarca und Amazonas voneinander. Es bringt Glück, eine Brücke über den Marañón zu Fuß zu überqueren, heißt es. Die drückende Mittagshitze schlägt uns ins Gesicht. Über 35 Grad sind es im Tal. Nicht nur das Klima, auch die Landschaft hat sich verändert. Der Boden ist trocken, Kakteen und Mangobäume wachsen an den Ufern.
    Auf der anderen Seite schlängeln wir uns mit dem Jeep in Serpentinen wieder ins Hochland hinauf, in die Region Amazonas. Immer tiefer dringen wir ins ehemalige Reich der Chachapoya vor. Wir erreichen den Bergnebelwald mit seinen Zedernhölzern, Farnbäumen und vielzähligen Pflanzenarten. Je höher wir kommen, desto kühler wird es, und die Landschaft um uns herum wird wieder grüner. Es ist, als durchquerten wir mehrere Klimazonen in nur wenigen Stunden.
    Festung Kuélap der Chachapoya
    Eines der bekanntesten Zeugnisse der Chachapoya ist die Festung Kuélap im Norden des Bergnebelwalds. 300 Häuser und ein fünf Meter hoher Tempel befanden sich einst hinter den schweren Mauern, bis zu 2.000 Menschen haben hier gelebt. Den Weg zum Eingang der Festung auf dem 3.000 Meter hohen Bergrücken erreichen wir zu Fuß. Am Haupteingang, wo eine Frau hinter einem Holzverschlag Maistortillas und Cola verkauft, werden wir von Francisco Valle empfangen. Der 43-Jährige ist der Archäologe von Kuélap. Für Forscher wie ihn bergen die Chachapoya noch immer viele Geheimnisse. Sie gelten als eine der am wenigsten verstandenen alten Kulturen Südamerikas.
    "Die Chachapoya wurden von den Inka auch Wolkenmenschen genannt. Der Begriff stammt aus dem Quechua, einer indigenen Sprache. Er ist wohl darauf zurückzuführen, dass sie hier oben abgeschieden im Bergnebelwald lebten. Wir wissen auch, wann die Chachapoya gelebt haben, nämlich 600 vor Christus bis etwa 1500 nach Christus. Diese Daten können wir aus konserviertem Mais bestimmen, den wir in Tempeln gefunden haben. Was wir aber nicht genau wissen, ist, woher die Chachapoya kamen. Einige stammten hier aus der Region, aber auch die Gebeine der Aymara vom Titicacasee haben wir in Gräbern gefunden. Die Chachapoya waren also keine einheitliche Ethnie, sie haben sich aus vielen Völkern zusammengesetzt."
    Die Grundrisse der Häuser in der Festung Kuélap sind noch heute erkennbar, auch, wenn der größte Teil der Fläche verwildert ist. Im Gegensatz zu den Inka bauten die Chachapoya runde Häuser. Die eingeritzten Symbole an den Mauern haben oft einen Bezug zur Umwelt, in der sie leben, zu Baustoffen für den Häuserbau zum Beispiel, erklärt Francisco Valle. Daran könne man erkennen, dass sie eine hoch entwickelte Kultur waren. Die Chachapoya hatten in Kuélap ein Abwassersystem errichtet und verfügten über Kenntnisse in der Landwirtschaft. Neben Mörsersteinen zum Mahlen von Mais wurden auch Reste von Keramik gefunden. Die Inka waren an ihrem Territorium sehr interessiert – auch wegen wichtiger Rohstoffe wie Kokablättern und Gewürzen. Doch erst 1475, kurz vor Eintreffen der Spanier, gelang es ihnen, die Chachapoya zu unterwerfen.
    "Die Chachapoya waren organisiert und strukturiert, wie man an der Festung Kuélap gut sehen kann. Auch ihre Grenzen haben sie gut gesichert. So konnten die Chachapoya den Inka lange Widerstand leisten. Die Inka sind schließlich stückweise in das Gebiet der Chachapoya vorgedrungen. Sie haben viele kleine Schlachten gewonnen, nie eine große. Selbst als die Inka Kuélap eingenommen haben, errichteten die Chachapoya weiterhin ihre eigenen Bauwerke. Sie haben sie nie ganz unterkriegen lassen."
    Inka-Einfluss in Kuélap
    Die Inka deportierten viele Krieger der Chachapoya und siedelten sich in ihren Städten und Dörfern an. Auch in Kuélap sind die Einflüsse der Inka nicht zu übersehen. Einige Häuser haben einen eckigen Grundriss, auch manche der in Stein gehauenen Symbole gehen auf die Inka zurück. Kuélap ist ein Zeugnis von kulturhistorischer Bedeutung – das nun nach dem Willen der Regierung in der peruanischen Hauptstadt Lima zu einem Touristenmagnet werden soll.
    Seit einigen Monaten kreisen Hubschrauber über Kuélap, Arbeiter errichten insgesamt 14 massive Träger für eine Seilbahn. Ziel ist es, den massiven Ansturm auf das weltbekannte Inkadorf Machu Pichu im Süden Perus zu begrenzen und mehr Touristen in den Norden zu locken. Der Archäologe Francisco Valle ist von diesen Plänen nicht begeistert.
    "Die Seilbahn ist geplant mit 26 Kabinen, insgesamt sollen 1.000 Personen pro Tag damit in 20 Minuten nach Kuélap geschafft werden. Ich befürchte, das Projekt wird einen negativen Einfluss haben, auf die Landschaft, auch auf die Architektur. Zunächst müsste man erforschen, ob die historischen Bauwerke von Kuélap diese Menschenmassen überhaupt tragen können. Wir brauchen in jedem Fall ein wesentlich größeres Team, um die Anlage instandzuhalten. Für die Forschung wird sonst kaum noch Zeit bleiben."
    Um mehr über die Lebensweise der geheimnisvollen Chachapoya zu erfahren, reisen wir weiter nach Leymebamba, einer beschaulichen Kleinstadt, etwa zwei Autostunden südlich von Kuélap gelegen. Hier entspringt der Fluss Utcubamba, was so viel heißt wie "Land der Baumwolle". Das Flusstal war früher das urbane und religiöse Zentrum der Chachapoya.
    Es ist Abend, als der Hauptplatz von Leymebamba zum Leben erwacht. Kinder spielen Fußball auf der Straße, Taxifahrer chauffieren Fahrgäste in ihren Tuk Tuks – dreirädrige, mit einer Plane überzogene Fahrzeuge, wie man sie aus Asien kennt. Das Market Café bietet kühles Bier und Kekse zum Verkauf, Hähnchen und Fritten dampfen an einem Straßenstand über dem Feuer.
    Grabräuberei ist keine Seltenheit
    In einem Holzverschlag in der Vorstadt von Leymebamba liegt die Werkstatt von Miguel Huaman. Er ist in der Region aufgewachsen, als Sohn von Kleinbauern, unter ärmlichen Verhältnissen. Die Eltern besaßen ein Stück kommunales Land, die Erträge reichten gerade, um die Familie zu ernähren. Mit 13 Jahren begann er, für einen Großgrundbesitzer zu arbeiten, der ihn zur Grabräuberei zwang. Eines Tages machten Miguel und seine Freunde am Kondorsee, etwa zwölf Stunden mit dem Pferd südöstlich von Lemebamba gelegenen, einen einzigartigen Fund: Sie entdeckten über 200 Mumien der Chachapoya, meist unversehrt.
    "Einige Leute haben angefangen, die Gräber zu plündern. Ich habe mich ihnen angeschlossen. Dafür wäre ich fast ins Gefängnis gekommen. Der Richter hat aber entschieden, dass ich nur eine Geldstrafe zahlen musste. Das war 1997. Ich habe Glück gehabt."
    Grabräuberei ist in Peru keine Seltenheit. Die Bauern auf dem Land verdienen sich so ein Zubrot – zum Entsetzen der Forscher, die aus den Gräbern Lebensgewohnheiten alter Kulturen wie der Chachapoya rekonstruieren können. Mittlerweile wird die Plünderei mit Haft bestraft. Miguel ist aber glimpflich davongekommen. Die Archäologin Sonia Guillen aus der peruanischen Hauptstadt Lima stellte ihn sogar als Hilfskraft zur Rettung der Mumien ein, da er über gute Ortskenntnisse in dem unwegsamen, von Urwald bewachsenen Gelände am Kondorsee verfügt. Mittlerweile lebt Miguel vom Verkauf von Inkatellern und Skulpturen, die er selbst schnitzt – nach Vorbild der Grabbeigaben, die er früher gestohlen hat.
    Die mehr als 200 Mumien der Chachapoya haben Sonia Guillen und ihr Team in Sicherheit gebracht und erforscht. Seit dem Jahr 2000 sind sie in einem Museum in Leymebamba ausgestellt. Sie sind ein Bild des Schreckens. Die Haut der Mumien hängt wie Leder über Armen und Beinen, sie sitzen in der Hocke, die Hände vors Gesicht gebunden. Einige ihrer Münder sind weit aufgerissen, als stießen Sie einen furchterregenden Schrei aus. Die Begräbnisrituale verraten einiges über die religiösen Vorstellungen der Chachapoya.
    "In der Kosmologie der indigenen Einwohner Südamerikas ist die Verbindung zu ihren Ahnen auch ein Schlüssel zu ihrem eigenen Leben. In vielen Ritualen und Traditionen geht es darum, diese Verbindung herzustellen. Auch in der Vorstellung der Chachapoya sind ihre Ahnen nicht tot. Sie sind in ein anderes Leben übergegangen und dort wiederauferstanden. In diesem Fall wurden die Körper einem sehr aufwendigen Prozess unterzogen, um sie zu konservieren. Sie wurden mit Schwefel ausgeräuchert, um die Haut erhalten zu können. Weiterhin wurden sie einbalsamiert und anschließend in Mausoleen gebracht, in den Höhlen am Kondorsee. Wir wissen, dass die Mumien dort auch besucht und teilweise für Rituale und Zeremonien aus den Mausoleen herausgeholt wurden. Wenn ihre Kleidung in schlechter Verfassung war, wurden sie neu angezogen. Außerdem erhielten sie Beigaben: Chicha-Maisbier, Nahrung, aber auch Handwerkszeug, das sie für ihren früheren Beruf brauchten."
    Konservierte Mumien sagen viel über das Volk aus
    Dass die Mumien hockend konserviert wurden, hat ebenfalls mit den religiösen Ansichten der Chachapoya zu tun. In der Stellung eines Embryos bereiteten sie sich auf die Wiedergeburt in der anderen Welt vor. Dass sie Handwerkszeug mit auf die Reise bekamen, spricht dafür, dass die Chachapoya an eine Wiedergeburt in den gleichen Berufsstand, in dieselbe soziale Schicht glaubten. Für Sonia Guillen war der Fund von herausragender Bedeutung.
    "Es ist ein wahres Wunder. Wir haben uns nicht vorstellen könne, Mumien hier im Bergnebelwald zu finden. Das Klima hier ist so schwül und feucht, dass sich organisches Material für gewöhnlich zersetzt. Wir Archäologen sind in dieser Region daher vor allem auf Überreste in der Architektur und Keramik angewiesen. Eine gut erhaltene Sammlung wie diese mit Textilen, Mumien, ja ganzen Mumienbündeln zu finden ist sehr selten. Das ist, als hätten wir die andere Seite des Monds gesehen!"
    Die in einer Felsnische gelegenen Mausoleen am Kondorsee weisen günstige klimatische Bedingungen auf, in denen die Mumien die Zeit überstanden. Doch es sind nicht die ersten ihrer Art, die von Archäologen ausgegraben wurden. Schon Ende des 19. Jahrhundert entdeckten Forscher Mumien von ähnlicher Statur. Doch nicht nur Forscher, auch Künstler interessierten sich für die seltenen Funde.
    "Es ist ein interessanter Aspekt, dass auch Künstler der europäischen Moderne von den Chachapoya beeinflusst wurden. Das berühmte Werk 'Der Schrei' des expressionistischen Malers Edward Munch ist vermutlich durch Mumien aus dem Bergnebelwald inspiriert. Im späten 19. Jahrhundert wurden einige von ihnen nach Europa gebracht und dort ausgestellt. Mit großer Sicherheit hatte Munch sie gesehen."
    Anfang des 16. Jahrhunderts verbündeten sich die Chachapoya mit den spanischen Konquistadoren gegen ihren gemeinsamen Feind: die Inka. Doch schon wenige Jahre nach dem Eintreffen der Spanier waren die Chachapoya nahezu ausgestorben. Ihr Immunsystem verkraftete Kinderkrankheiten wie Masern und Pocken nicht, die die Schiffsleute mitbrachten.
    Ob die Chachapoya eine gemeinsame Sprache hatten, wie ihre Gesellschaft organisiert war – das alles ist noch nicht ausreichend erforscht. Das indigene Volk aus dem Bergnebelwald wird den Archäologen auch in Zukunft noch einige Rätsel aufgeben.