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Pessimistische Weltsicht

Vermutlich gibt es aus dem Umfeld der Frankfurter Schule kein Buch, das auf lange Sicht folgenreicher war als die "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Das Fragment gebliebene kulturkritische Werk fand erst 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ein großes Publikum.

Von Hans Martin Lohmann |
    Obwohl bereits während des Zweiten Weltkriegs in den USA geschrieben und 1947 im Amsterdamer Exilverlag Querido als Buch erschienen, entfaltete die "Dialektik der Aufklärung" erst seit Mitte der 60er Jahre ihre eigentliche Wirkung. Das so gut wie verschollene Werk wurde von einer kapitalismuskritischen jungen Generation wiederentdeckt und in zahllosen Raubdrucken verbreitet, ehe es 1969 bei S. Fischer in einer Neuauflage herauskam. Die Flaschenpost aus dem amerikanischen Exil, ohne Zweifel ein Schlüsselwerk der Frankfurter Schule und die linke Antwort auf Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes", hatte endlich ihren Adressaten gefunden.

    Ende 1942, nachdem die ersten Nachrichten über die Vernichtung der europäischen Juden auch die Vereinigten Staaten erreicht hatten, notierte Horkheimer:

    "Diese Tage sind solche der Trauer. Die Vernichtung des jüdischen Volkes hat Dimensionen wie noch nie zuvor in der Geschichte angenommen. Ich glaube, die Nacht im Gefolge dieser Ereignisse wird sehr lang sein und könnte die Menschheit verschlingen."

    Kein Wunder, dass die "Dialektik der Aufklärung" ein Werk ist, welches an pessimistischer und verzweifelter Weltwahrnehmung schwer zu überbieten ist. Jürgen Habermas nannte es "das schwärzeste Buch" der Kritischen Theorie. Ähnlich sieht es auch der Philosoph Alfred Schmidt:

    "Die 'Dialektik der Aufklärung' ist eine negative Geschichtsphilosophie, kann man sagen, die Heilsgewissheit ist da ganz weg, es ist ein wirklich schwarzes Buch. Man denkt hier auch an den Begriff der Entzauberung der Welt durch Max Weber."

    Was die beiden Autoren seinerzeit umtrieb, war eine Verfinsterung der Vernunft, wie sie die Welt nicht gesehen hatte. Während in Europa ein mörderischer Antisemitismus tobt und Hitlers Krieg sich zum Weltkrieg ausgeweitet hat, zeigen die Demokratien des Westens, allen voran die USA, Zeichen von zumindest latenter Judenfeindschaft sowie die Tendenz zur ideologischen Mobilisierung der Bevölkerung, zumal die kommerzialisierte Massenkultur, so Horkheimer und Adorno, in den westlichen kapitalistischen Ländern für eine Manipulation der Menschen sorge, die ihrerseits faschistische Züge annehme. Hinzu kommt schließlich die von den Autoren illusionslos zur Kenntnis genommene Tatsache, dass die linke Utopie einer herrschaftsfreien klassenlosen Gesellschaft im zeitgenössischen Stalinismus vollständig in ihr Gegenteil verkehrt worden ist.

    All diese zutiefst beunruhigenden Phänomene schreien geradezu nach einer umfassenden geschichtsphilosophischen Deutung, und die Autoren der "Dialektik der Aufklärung" bieten eine, die an Radikalität nichts zu wünschen übrig lässt. Aufklärung wird, über die Charakterisierung einer begrenzten geschichtlichen Epoche hinaus, als Inbegriff eines Prozesses genommen, in dem zivilisatorischer Fortschritt im Sinne von wachsender Naturbeherrschung und die Herrschaft von Menschen über Menschen Hand in Hand gehen. Wie die Triumphe des homerischen Helden Odysseus, dem das sprachlich suggestivste Kapitel des Buches gewidmet ist, über die mythischen Naturgewalten bezahlt werden müssen mit Gewalttaten des Subjekts gegen sich selbst und andere, so werden im Zuge fortschreitender Aufklärung die Triumphe einer wissenschaftlich-technischen Rationalität notwendig erkauft mit gesellschaftlicher Unterdrückung und Unfreiheit. Was also auf der einen Seite gewonnen wird, verbucht die andere Seite als Verlust - das ist die in den Augen Horkheimers und Adornos unvermeidliche Dialektik der Aufklärung. Faschismus, Stalinismus und Antisemitismus sind so gesehen der "Preis" von Aufklärung und wissenschaftlich-technischem Fortschritt:

    "Man kann nicht den Schrecken abschaffen und Zivilisation übrigbehalten. Schon jenen zu lockern bedeutet den Beginn der Auflösung."

    Immer wieder ist den Autoren der "Dialektik der Aufklärung" vorgeworfen worden, ihre Geschichtsdiagnose sei heillos spekulativ, es mangele ihr an überzeugender Untermauerung durch eindeutige historische und philosophiegeschichtliche Tatsachen. Solchen Vorwürfen ist Adorno mit ebensoviel Selbstbewusstsein wie Eloquenz entgegengetreten:

    "Was einmal den Gedanken bezeichnen sollte, der seiner eigenen Borniertheit sich entäußert, und dadurch Objektivität gewinnt, wird subjektiver Willkür gleichgesetzt."

    Jedenfalls kann man von der "Dialektik der Aufklärung" sagen, dass sie in ihrer unerbittlichen Negativität wesentlich realistischer ist als das Meiste, was seitdem im Namen von Philosophie und Gesellschaftstheorie verhandelt worden ist. Die Harmlosigkeit des heutigen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Betriebs, der weitgehende Verzicht auf Kühnheit und Strenge des Gedankens lässt das Licht der "Dialektik der Aufklärung" nur um so heller strahlen.
    Der Philosoph Max Horkheimer erhielt am 18. Februar 1971 den Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg.
    Max Horkheimer erhielt am 18. Februar 1971 den Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg. (AP Archiv)