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Peter Brook
Über die Wunder des Gehirns

Das neue Stück von Regisseur Peter Brook am Pariser Théâtre des Bouffes du Nord entführt den Zuschauer aus der Normalität. Im Mittelpunkt dieser englischsprachigen Arbeit stehen Synästhetiker, die die Welt auf ganz eigene Art und Weise wahrnehmen.

Von Eberhard Spreng |
    Der britische Theaterregisseur Peter Brook zeigt ein gut gelauntes Lächeln.
    Peter Brook 2008 bei der Entgegennahme des Ibsen-Preises in Oslo (picture alliance / dpa / epa / Scanpix Kyrre Lien)
    Sally Costas hat ein Problem. Für sie ist die Welt völlig überbevölkert: An jeder Straßenecke, in jedem Winkel, in allen Städten und Dörfern, die sie je sah, lauern die Wörter, Namen, Daten. Jede Haustür ein Pfad zu einem Begriff, jede Hauswand eine Projektionsfläche für die Erinnerung. Das ist die Welt in Sally Costers Gehirn: eine Fusion aus Orten und Daten. Eselsbrücken, wohin man schaut. Sie kann sich an alles erinnern, was ihr jemals mitgeteilt wurde und hat all das neuronal mit anderen Erinnerungsgehalten, vor allem Bildern verknüpft.
    Das Schlimme dabei ist: Sie kann nichts mehr vergessen, auch keine Abfolgen von Silben oder Zahlen, die für sie keinen Sinn ergeben. So kann sie ohne weiteres die ersten Zeilen von Dantes Inferno nachsprechen, ohne je Italienisch gelernt zu haben. "Sie sind ein Phänomen" hatten ihr die Neurologen in einem Untersuchungslabor für das menschliche Gehirn gesagt.
    Synästhetiker und ihrer eigenen Verknüpfungen
    Auch ein schmieriger Impressario erkennt sofort, dass er mit der Frau auf seiner Showbühne viel Geld verdienen kann. Und da geschieht in dem herrlich abgelebten Pariser Theater wieder eines von Peter Brooks Theaterwundern. Aus der nüchternen Spielfläche mit den paar Stühlen wird für Augenblicke wieder die Show-Arena, das Variété, die leichte Unterhaltung, für die das Théâtre des Bouffes du Nord früher einmal gestanden hat. Verwandlungen machen auch die drei Akteure im Handumdrehen durch, wenn sie schnell einen weißen Kittel überziehen, um aus der Patientenrolle in die des Neurologen zu wechseln. Sie führen uns Menschen wie Sally Costas vor, allen voran Synästhetiker, die zwischen Lauten, Zahlen, Worten, Farben, Formen und Mustern, Ort und Raum ganz eigene Verknüpfungen herstellen.
    Aus der Welt der Normalität entführt
    Woanders wäre das Anlass für dröges Dokumentartheater, in Brooks kleiner englischsprachiger Arbeit aber lauscht das Publikum von Minute zu Minute gespannter und verzückter den Erforschungen des Gehirns. Denn Brook schafft es tatsächlich, das alles so zauberhaft leicht, altersmilde und kindlich verspielt vorzuführen, dass uns bei der Reise ins "Tal des Erstaunens" eine unendliche Freude überkommt. Und es ist die Freude darüber, ohne den pädagogischen Zeigefinger aus der Welt der Normalität entführt zu werden und das eigene Denken wie im Kinderspiel zu erweitern.
    Noch spielerischer, als dies in Brooks erster Arbeit über das Gehirn "L'homme qui" und "Je suis un phénomène" vor 16 Jahren der Fall war. Kathryn Hunter spielt hier eine zierliche Frau, die mit abgewinkelten Armen und einem von Erstaunen zu Amüsement wechselndem Gesicht dasteht, wenn man ihr die Besonderheiten ihrer Gehirnaktivität erklärt: Eine skurrile Akteurin, deren Gesten teilweise an Charlie Chaplin erinnern. Marcello Magni zeigt uns einen introvertierten Forscher, wechselt dann in die Rolle des Patienten, der seinen ansonsten paralysierten Körper lediglich mit Hilfe seiner Augen bewegen und koordinieren kann. Zum Abschluss des kurzen Abends verkörpert er schließlich einen Kartentrickkünstler. Und Jared McNeill spielt einen jungen Nachwuchsneurologen, der ebenfalls die Erfahrungen eines Patienten mit ungewöhnlicher Gehirnfunktion durchmacht. Allesamt Zauberer in minimalistischer, purer Darstellung.
    Raphael Chambouvet und Toshi Tsuchitori begleiten die Folge kurzer Szenen mit einer Fusion aus Bach und ostasiatischen Klängen. Am Ende hat es nur eineinviertel Stunden gedauert, das ist Zeit genug für ein ganz großes Theaterwunder.