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Peter Esterhazy
Labyrinth in Prosaform

Peter Esterhazys neuer Roman mit dem Titel "Die Mantel-und-Degen-Version" ist, nicht anders als vorausgegangene Romane, ein Labyrinth in Prosaform. Wer eine klare chronologische Handlung, einen eindeutigen Zeitrahmen und einen stringenten Erzählverlauf erwartet, ist bei diesem Schriftsteller verloren, sagt unsere Rezensentin Ursula März.

Von Ursula März |
    Péter Esterházy im Gespräch auf der Leipziger Buchmesse
    Péter Esterházy im Gespräch auf der Leipziger Buchmesse (Deutschlandradio Kultur / Andreas Buron)
    "Der Legende nach war vor mehr als tausend Jahren an der Stelle der Burg ein Feengarten. Die Fischer sahen oft die sich vergnügenden Feen, doch sobald sie dorthin ruderte, verschwanden die. Denn entgegen ihrer Erwartung, die sich von ihren Müttern und Großmüttern und deren Müttern durch eine lange Reihe von Fischergenerationen hindurch überliefert hatte, waren die Feen gramverdammte Gestalten und keine heiteren Seelen, für die sie die Volksmeinung hielt. Sie waren aber tolle Frauen, so Prachtmädel."
    Peter Esterhazy spaßt gern. Man darf ruhig sagen: Er blödelt gern. Es schmälert mitnichten den literarischen und intellektuellen Rang des ungarischen Schriftstellers, der über Weltruhm und kosmopolitische Aura verfügt, und mit Peter Nadas eine Art Spitzenduo der ungarischen Gegenwartsliteratur darstellt. Peter Esterhazy scherzt, juxt und kalauert nicht nur gern in seinen Büchern, er tut es auch in der Realität. Wer die Chance hat, gelegentlich eines bleiernen Empfangs der Frankfurter Buchmesse in die Nähe des Mannes mit dem weiß leuchtenden Haarwust zu geraten, darf sich gerettet fühlen. Mit Peter Esterhazy lässt sich aus dem Stand heraus auf die amüsanteste Weise über Gott und die Welt plaudern, über Literatur ebenso wie über Fernsehshows und Fußball. Vielleicht erzählt er die Anekdote, wie er auf Einladung der Akademie für deutsche Fußballkultur einmal nach Nürnberg reiste - in einigen Esterhazy-Büchern geht es tatsächlich um Fußball - dort von Franz Beckenbauer mit Handschlag und dem Satz begrüßt wurde: "Ach, sie sind der Bruder von Márton!" Dieser Márton Esterhazy, vier Jahre jünger als Peter, spielte in der ungarischen Nationalmannschaft und erzielte bei der WM 1986 sogar ein Tor gegen Brasilien. Vielleicht stimmt die Beckenbauer-Geschichte, vielleicht stimmt sie nicht. Gut ist sie auf alle Fälle. Und man sollte, als Gesprächspartner wie als Leser von Peter Esterhazy immer darauf gefasst sein, dass Wahrheit und Erfindung, Realität und Fiktion, politischer Ernst und avantgardistische Spielerei schwer durcheinander gehen. Das macht es nicht gerade leicht, den Inhalt eines Esterhazy-Romans zusammenzufassen.
    "Bei meiner Arbeit habe ich mich bemüht, mich nach Kjell Askildsens Praxis zu richten: 'Ich habe über nichts geschrieben, das mir widerfahren ist. Ich habe mich bemüht, keinen Satz zu schreiben, an den ich bereits zuvor gedacht hatte. Andere sammeln die später verwendbaren Sätze in Notizheften, ich mitnichten. Beim Schreiben zählt nur das Schreiben und die magische, unermessliche Zeit des Schreibens.'"
    Eine augenzwinkernde Selbstparodie
    Peter Esterhazys neuer Roman mit dem Titel "Die Mantel-und-Degen-Version" ist, nicht anders als vorausgegangene Romane, ein Labyrinth in Prosaform. Wer eine klare chronologische Handlung, einen eindeutigen Zeitrahmen und einen stringenten Erzählverlauf erwartet, ist bei diesem Schriftsteller verloren. Wer es in der Literatur gern ein wenig wilder und unübersichtlicher mag, kann mit Esterhazys Büchern allerdings wahre Abenteuer erleben. Das fängt in der "Die Mantel-und-Degen-Version" schon bei der Typografie an: Zwischen den Absätzen und einzelnen Kapitel gibt es mal kleine, mal große unbedruckte Flächen, am Fuß jeder Seite finden sich zahlreiche, klein gedruckte Anmerkungen, aus denen wiederum Anmerkungen hervorgehen und die Seitennummerierung am oberen Rand stimmt nicht im Geringsten mit der am unteren überein. Wild durcheinander geht es auch, was die Zeitebenen und das Personal betrifft: Das Kernsujet ist im 17. Jahrhundert in Ungarn zur Zeit der Türkenkriege angesiedelt. Schon auf den ersten Seiten aber springt Esterhazys österreichischer Kollege Christoph Ransmayer durch den Text, eindeutig ein Zeitgenosse des 20. und, da er noch lebt, des 21. Jahrhunderts. Er mischt sich unter Könige und Kaiser, in ein Setting, das von den titelgebenden Mänteln und Degen illustriert wird und in dem Kutschen über schlammbedeckte Waltwegen fahren.
    "Die Kutsche fährt mit mir dahin, in unendlicher Stille, als flöge sie. Ich habe keinen Diamanten, ich hauch die Glasscheibe an und schreibe mit meinem Finger in den feuchten Schleier: sich freuen. Es verschwindet ständig, die Kälte weht herein. Und dann erneut: Solange ich atmen kann und da drinnen Wärme ist, geht es auch. Kutschengeruch; vor allem der von Leder und Holz. Nicht Holz, vielmehr das, womit das Holz behandelt wurde, wasserabweisendes Öl, Lasur, etwas Ruhiges, Schweres und Bitteres. Und der ewige, irgendwie ferne Geruch von Pferden. Die grimmige Kälte des Fensters an meinen Fingerkuppen. Als wäre ich selbst Glas. Und auch umgekehrt, was ich berühre, wird Glas und grimmige Kälte. Auch du, meine Liebe, Glas, grimmige Kälte. Und ein Stern! Ein Stern ist das Schreiben, ein Stern das Licht, ein Stern der Buchstaben schreibenden Finger. Du bist aus Sternen, und ein Stern wirst du sein."
    Hinter dem Wort "sein" findet der Leser ein winziges Sternchen. Dieses bezieht sich auf eine Fußnote am Ende der Seite und in dieser Fußnote heißt es:
    "Das lieferte die Idee für die, siehe da, Besternung der Fußnoten. Oben, unten, Himmel, Hölle, Stern, Fuß. Doch übertreiben wir es nicht. Meine Liebe."
    Nun ja - eine Art Übertreibung oder Überverrätselung ist es schon, was Peter Esterhazy hier inszeniert. Eine augenzwinkernde Selbstparodie jener intertextuellen Tricks, Methoden und Spiele, für die er seit dem Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn berühmt ist und für die er bei den Wächtern des sozialistischen Realismus in der kommunistischen Ära Ungarn als berüchtigt galt. Peter Graf Esterhazy, im Jahr 1950 in Budapest geboren, entstammt einem Zweig des bedeutenden Adelsgeschlechts der Esterhazys und ungarischen Magnaten gleichen Namens, das unter dem kommunistischen Regime enteignet und unterdrückt wurde. Da es ihm aus politischen Gründen nicht möglich war, Literatur und Philosophie zu studieren, absolvierter Peter Esterhazy zunächst ein Studium der Mathematik und spezialisierte sich auf das damals noch blutjunge Fach der Informatik. Vier Jahre arbeitete er von 1974 bis 1978 als EDV-Spezialist, bevor er zu publizieren begann und als freier Schriftsteller lebte. Dass er sich in seinem ersten Beruf in mathematischen und algorithmischen Systemen bewegte und zu den Pionieren der Computer-Entwicklung zählte, dürfte für den Labyrinthcharakter seiner Romane nicht ganz unwichtig sein. Dass er sich damit im Widerstand zur Kunstdoktrin des kommunistischen Regimes befand, ist nicht minder wichtig. Über zehn Jahre nach der Wende, im Jahr 2001, erschien Esterhazys opus magnum, der Roman "Harmonia Caelestis". Ein vielgestaltiges, wucherndes Panorama ungarischer und europäischer Geschichte anhand seiner eigenen Familie, der Esterhazy-Sippe, ein experimentelles Epos, in dem seinem eigenen Vater eine zentrale Rolle zukam. Dies ist in Erinnerung zu rufen, wenn man dem geheimen Sinn seines neuesten Romans auf die Spur kommen will. Denn als der Sohn Peter Esterhazy an "Harmonia Caelestis" arbeitete, hatte er noch keine Kenntnis von den Enthüllungen, die ihn kurz nach der Veröffentlichung einholten, entsetzten und zutiefst schockierten: Der Vater hatte als Spitzel, als IM, mit dem kommunistischen Geheimdienst Ungarns zusammengearbeitet. Dieser Erfahrung, dieser Umschrift des Vaterbildes ist das 2003 erschienene Buch "Verbesserte Ausgabe" gewidmet. Nun ist ein weiteres Jahrzehnt vergangen. Und nun findet sich bereits auf der zweiten Seite der "Mantel-und-Degen-Version" die Passage:
    "Ich würde gern, das ist mein Ehrgeiz, meine Hybris, vom Glück der letzten beiden Jahrzehnte im Leben meines Vaters berichten. Die soll meine Beute sein. Dass der Mann (dem ich mein Leben verdanke, usw. usw. - das war schon), den die Turbulenz der Geschichte und die eigene Schwäche mehrmals aus dem eigenen Leben ausstieß und dessen Leben dadurch gerade dieses Ausgestoßensein wurde und der so immer wieder im Niemandsland stand, wehrlos, zitternd (wer hat das Zittern gesehen? Ich nicht), derart einsam, dass ich, sobald ich daran denke, in Tränen ausbrechen könnte, dass dieser Mann also dennoch glücklich gestorben ist. Ich glaube nicht, dass er davor irgendwann einmal glücklich gewesen ist (und auch nicht, dass er die Frau, meine Mutter, mit er lebte, glücklich gemacht hatte)."
    Eine fiktionale Inkarnation des eigenen Vaters
    Wer Esterhazys Familien- und Werkgeschichte auch nur ein wenig kennt, muss bei diesen Sätzen hellhörig werden und sie auf jenes Buch aus dem Jahr 2001 rückbeziehen, in dem der Schriftsteller die Spitzeltätigkeit seines Vaters aufarbeitete.
    "Das Glück verringert unsere Sünden nicht, weder seine, wenn es sie gibt, noch meine, wenn es sie gibt. Es gibt sie. Das Gewicht des Gesagten mindert nicht, dass wir, logischerweise, so genau nicht wissen, wer glücklich ist und wer es nicht ist."
    Ein Spion, ein Spitzel ist überraschenderweise nun auch die Hauptfigur der "Mantel-und-Degen-Version". Er hat den Namen Pál Nyáry. Tatsächlich gibt es einen historisch realen Ungarn dieses Namens. In Budapest ist sogar eine Straße nach ihm benannt. Allerdings lebte er nicht im 17., sondern im 19. Jahrhundert und war ein Revolutionär. Peter Esterhazy versetzt ihn nun geschichtlich zurück ins 17. und er nimmt an diesem Pál Nyáry noch eine weitere Veränderung vor: Er lässt die Figur aus dem Revolutions- ins Geheimdienstgewerbe wechseln. Anders gesagt: Er macht ihn zu einer fiktionalen Inkarnation seines eigenen Vaters. Der Romanspitzel Pál Nyáry tritt sogar als klassischer Doppelspion in Erscheinung. Er arbeitet gleichzeitig für die beiden konkurrierenden Habsburger Vettern Ludwig und Leopold in einer Epoche, in der die Geschichte Ungarns so zerrissen und kompliziert war wie selten zuvor und danach. Eine Epoche, die Esterhazy freihändig so paraphrasiert:
    "Das Land in Fetzen. Aus dieser Himmelgegend sogen gepuderte Ferdinands und dickbäuchige Leopolds das kühne und stolze Blut der Ungarn, die österreichische doppelköpfige Adlerbestie verschlang die Kornspeicher, Speisekammern und Frauen. Zerschmetterte unserem röchelnden Turul die Eier. Wie hinwiederum hätten die auf Allahs Glauben Vereidigten sonst mit den christlichen Hunden umgehen sollen. Ex occidente wurde dem Land genommen, ex oriente an ihm gerissen, und auch der Rest fand einen Besitzer, ihn rafften die ansässigen ungarischen Herren zusammen. Ungar sein ist schwer, sagen - jauchzen und krächzen - die Ungarn, und auch das, dieses ständige Herbeten, erschwert das kühne und stolze Leben. Vielleicht erschreckt sie lediglich die eigene Leichtigkeit und deshalb laden sie Gewichte auf sich, zuallererst die närrische, von ihnen selbst gesponnene Schwere der Wörter."
    Ohne rudimentäre Kenntnisse des historischen Kontexts ist die labyrinthische, wild mäandernde "Die Mantel-und-Degen-Version" wohl noch weniger zu verstehen, als sie es ohnehin ist. Vom Jahr 1540 an war Ungarn bis fast bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dreigeteilt. Das heutige Burgenland, die heutige Slowakei sowie Westkroatien stellten faktisch eine Provinz der Habsburger dar. Zentralungarn wiederum, geografisch nahezu mit dem jetzigen Ungarn identisch, gehörte zum Osmanischen Reich, stand also unter türkischer Herrschaft. Die restlichen Gebiete versammelten sich zum Fürstentum Siebenbürgen, ein ebenfalls türkischer Vasallenstaat. Die türkischen Streitkräfte drangen immer weiter nach Westen und Süden vor und belagerten im Jahr 1683 die habsburgische Kapitale Wien. Die Belagerung scheiterte. Die Niederlage läutete das Ende der türkischen Herrschaft in Ungarn ein. In diesem Zeitraum politischer und militärischer Wirren ist Esterhazys Text angesiedelt - zumindest vordergründig. In geheimer Mission, und in einer Kutsche, reist der niederländische König Ludwig III, ein Anverwandter der Habsburger, nach Ungarn. Sein Ziel ist die Burg Gedöcs. Deren Herr ist kein anderer als Pál Nyáry. Ludwig will mit ihm über eine mögliche Entmachtung seines Vetters verhandeln, des österreichischen Kaisers Leopold, mit dem Pál Nyáry allerdings ebenfalls in bestem Einverständnis steht. Dies zumindest darf der detektivische Leser annehmen und errätseln. Denn worum es bei dem Geheimtreffen tatsächlich geht, das plaudert Peter Esterhazy keineswegs aus. Wir befinden uns hier, inhaltlich wie ästhetisch, im Reich der Geheimniskrämereien.
    "Er wurde Koch in Stambul, gelangte nach Ungarn zurück, in die Dienste der Nyárys, so wurde er nach kurzer Zeit Küchenmeister in der unter Pál Nyárys Oberhauptmannschaft stehenden Gedöcser Burg (dem burgartigen Schloss). Pál Nyáry war - noch vor Beginn unseres Textes! - gealtert. Er hatte in seinem Leben viel erreicht, doch gerade das, was er sehr wollte, nicht: Er hatte keinen Frieden zwischen seinem Herrscher und seinem Volk zustande gebracht. Und da habe ich mich noch taktvoll ausgedrückt: Er saß zwischen allen Stühlen: Weder der Wiener Hof noch seine nörgelnden Landsleute trauten ihm. Er empfand Neid gegenüber dem Menschen des Mittelalters, der auf Gott vertraut hatte. Sein Halbbruder ist Graf Heinrich Schweidenfeldt, die uneheliche Frucht eines frühen Fehltritts ihrer Mutter Klára Keczei. Der wankelmütige Charakter des Grafen ist vermutlich die direkte Folge der sich außerhalb der Ehe verschafften Wonne. Die ihm widerfahrene Wiener innenministerielle Erpressung gibt er an Bárány weiter, der wegen seiner Leidenschaft für Kara schutzlos ist. Bárány also hat sich in den dreißig Jahre weniger zählenden Koch verliebt, mit der wilden Leidenschaft des Körpers und der süßen des Herzens. Kara genoss die Situation - und auch Báránys Körper, selbstverständlich; an Herzensangelegenheiten dachte er nicht. Aber das ist doch komplizierter; über die Zusammenhänge von Körper und Herz, Genuss und Seele, Liebe und Wollust, wenn auch nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit …. Aber schauen wir uns das ein bisschen konkreter an."
    Wie in einem groß angelegten Vexierspiel bringt ein Name den nächsten, jede Anspielung eine weitere hervor. Ein kryptisches who is who ungarischer Mythen und Geschichte, ein kaum fassbares Textgewebe, dessen Fäden immer wieder in die Esterhazy´sche Familien- und Werkgeschichte hineinreichen.
    Er inszeniert ein Schelmenspiel mit personalen Identitäten
    "Mein Vater"
    heißt es an einer Stelle, hinter der sich ein Sternchen findet, das wiederum zu dem Fußnotenkommentar:
    "Verschreiber; Mihály Bárány."
    führt. Peter Esterhazy macht sich nicht nur über Ideen wie lineare Handlung, Realismus, erzählerische Logik und Chronologie lustig. Er inszeniert vor allem - und dies ist der Kern des Buches - ein Schelmenspiel mit personalen Identitäten. Die Figur des Vaters wird dabei zur Gestalt pluraler Möglichkeiten. Sie verschwimmt gleichsam in der methodischen Unschärfe des Textes, sie wird zur Rätselgestalt.
    "Mein Vater nahm Graf Schweidenfeldts Gesicht gründlich in Augenschein. Wegen irgendetwas erinnerte er ihn an den heiligen Johannes den Täufer. "Haben Sie diese klitzkleinen Speislein gesehen? Canapés, das sagte der Diener dazu, als ich ihn fragte, was um Himmels willen das sein soll. Na, aber, sagen Sie mir, Herr Graf, was ist das für ein Canapé, wenn man sich nicht einmal darauf setzen kann …" - "Daran habe ich noch nicht gedacht." Angeblich war er ein Verwandter Jesu. Und fastete in der Wüste. "Habe ich richtig verstanden, der Herr Graf erpresst mich?" - "Ja, ganz richtig mein guter Herr, genauer hätte auch ich es nicht in die elfenlichten Worte unserer holden Sprache fassen können. Die Genauigkeit jedoch ist irreführend. Schriller erschreckender als die Wirklichkeit, die sie entwirft. Denn denke der Herr Hauptmann nur an die aufgehende Sonne. Was für ein Gespinst! Diese ganze harmonices mundi, dieses "wer kreist um wen", dann die Ellipsen, Brennpunkte, Fahrstrahlen, Quadrate und Potenzen, Kräfte, Anziehungen, Wahlverwandtschaften, Abstoßungen, Gelehrten und Prozesse, eppur si muove, mit Verlaub. A…." - "Was für ein schwächlicher Hanswurst." - "Aber auch wenn all das lediglich der kluge und, meinetwegen, schwächliche Krawall des größenwahnsinnigen menschlichen Tieres ist, so steht selbst hinter dem winzigsten Detail unser allmächtiger Herr, sowohl hinter der himmlischen Ordnung als auch hinter Euren gequälten, armen ungarischen Stiefeln, sein heiliger Wille treibt alles an, sei es auf elliptischen Bahnen, sei es auf vollkommenen Kreisen, die Seine Vollkommenheit präziser preisen. So wird auch jener Krawall himmlische Weihe und Größe. Mal sind die knisternde Eitelkeit, der phosphoreszierende Ehrgeiz des Menschen, mal die Schrillheit der Fanfaren, die die harmonia caelestis verkünden, ohrenbetäubend."
    Harmonia Caelestis. Wie erinnern uns: Dies ist der Titel von Esterhazys Hauptwerk, der 2001 erschienenen Familiensaga, die den schrecklichen, auf dem Vater lastenden Verdacht und die Akten seiner Spitzeltätigkeit für den ungarischen Geheimdienst noch nicht kannte. Dies ist zugleich der geheime Fixpunkt von Peter Esterhazys neuem Buch. Es übersetzt die Vatertragödie in eine "Mantel-und-Degen-Version". Es ist ein Buch, dessen spielerische Raffinesse kaum überbietbar scheint. Zugleich aber auch ein Buch, das sich nie in die Karten schauen lässt und deshalb seine Intention schuldig bleibt. Vielleicht gibt es eine einfache Erklärung. Sie könnte lauten: Peter Esterhazy schickt den Vater ins 17. Jahrhundert, um in dieser verfremdenden Kulisse von einer Sohnesliebe zu sprechen, die letztendlich unabhängig ist von Moral. Ein heikles, aber höchst menschliches Bekenntnis.
    "Ich liebe meinen Vater"
    heißt es beiläufig an einer Stelle. Vielleicht ist dies der Kernsatz des Buches, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er sehr ernst gemeint, vielleicht ironisch wie vieles andere auch. Das wird bei Peter Esterhazy nie ganz klar. Die avancierte Verspieltheit seiner Literatur kann einigen Genuss bereiten, aber sie stößt hier an ihre Grenzen. Man sitzt am Ende ein klein wenig ratlos vor der "Mantel-und-Degen-Version" und fragt sich, ob dieser große ungarische Schriftsteller, dieser Meister der Raffinesse, allmählich dazu übergeht, mit sich allein zu spielen.
    Peter Esterhazy: "Die Mantel-und-Degen-Version". Roman, Verlag Hanser Berlin 2015, 237 Seiten. 19,90 Euro