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Péter Nadás: "Leni weint". Essays
Nadás: Demokratie ist nicht importierbar

Sein Heimatland Ungarn hält der große Erzähler Péter Nadás nach wie vor für nicht demokratiefähig. Das sei das Ergebnis mehrerer gescheiterter Modernisierungsversuche in der Geschichte Ungarns, aber auch der Ära des Sozialismus geschuldet, so Nadás im Dlf.

Péter Nadás im Gespräch mit Angela Gutzeit |
    Der Autor Péter Nádas und sein Essay "Leni weint"
    Essays über ein Vierteljahrhundert bewegter Geschichte (Buchcover: Rowohlt Verlag, Autorenportrait Jelina Berzkalns)
    Angela Gutzeit: Er ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Osteuropas – der ungarische Schriftsteller Péter Nadás. Er wurde als Spross jüdischer Kommunisten und Widerstandskämpfer am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren – feiert also in Kürze seinen 76. Geburtstag. Nadás ist mit Monumentalwerken wie "Parallelgeschichten", "Buch der Erinnerung" und zuletzt seinen Lebenserinnerungen "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers" hervorgetreten – über 1000seitige Bücher sind das, in deren Zentrum immer die Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert stehen, ausgehend von den eigenen Erfahrungen mit der wechselvollen Geschichte Ungarns seit dem Zweiten Weltkrieg. Nun hat Péter Nadás einen Essayband vorgelegt mit dem Titel "Leni weint", eine Auswahl aus rund 2000 Texten, die neben den Romanen und Erzählungen entstanden sind, und diese Auswahl bezieht sich auf die Jahre 1989 bis 2014. Hier klingen noch einmal die wichtigsten Themen an, die Nadas‘ Denken und Schreiben begleiteten. Viele Essays reflektieren aber auch die aktuelle politische Situation in Osteuropa, speziell in Ungarn.- Ich habe mit Peter Nadas gesprochen und ihn zuerst gefragt, in welchem Verhältnis seine Essays zu seinen großen erzählerischen Werken stehen.
    Péter Nádas: Ja, man könnte sagen, dass auch die Romane Essays sind und auch die Essays Romane oder kleine Geschichten. Diese Sparten gehen ineinander sozusagen. Ich sehe keinen großen Unterschied. Der Mensch ist ein denkendes Tier, und dieses denkende Tier bin ich in diesem Fall in diesen Essays. Außerdem, seit dem Mauerfall war es gerade eine Aufgabe, Essays zu schreiben, sozusagen mein Zivilbewusstsein umzutun oder offenzulegen, und ich habe diese Geschichte vor ungefähr 25 Jahren oder etwas mehr mit Essays begleitet. Von Zeit zu Zeit habe ich mich als Bürger gemeldet, und ich habe über gewisse Fragen, brennende Fragen Essays geschrieben. Die haben eine polarisierende Wirkung gehabt. Es gab sehr große Kontroversen auch über diese Essays, bis heute gibt es darüber. Das stört mich nicht, sondern gerade freut mich.
    Gutzeit: Das ist ja vielleicht auch der Sinn der Sache, weil es ja unmittelbar auch in politische Debatten eingreift.
    Nádas: Ja.
    Gutzeit: Jetzt steigen wir da mal ein. Ich finde erst beim wiederholten Lesen und zurückblättern in diesem auch wieder über 500-Seiten-Band – unter dem machen Sie es ja nie – kann man die thematischen Leitlinien und Felder entdecken, die sich überlagern oder assoziativ miteinander verbunden sind. Dazu gehört einmal zum Beispiel Ihr Selbstverständnis als Schreibender als ein Themenfeld, dann das Nachdenken über die Beschaffenheit des Menschen und seine Abgründigkeit, und schließlich die historisch-politische Situation Europas, insbesondere Osteuropas. Sie eröffnen das Buch mit dem Text über ein Dorf, in dem Sie leben. Dieser Text trägt den Titel "Behutsame Ortsbestimmung ausgehend von der genauen Betrachtung eines einzelnen Wildbirnenbaums" und schließt mit einem Text über Ihre eigene Nahtoderfahrung. Das ist so etwas, vielleicht kann man es so bezeichnen, wie eine Klammer des Ganzen, denn Sie haben ja eine gewisse Komposition auch in diesem Essayband.
    Nádas: Das wollte ich genau so einrahmen, also Tod rahmt unser Leben sozusagen, und auch der Baum, der wächst und bleibt, der uns überlebt. Das ist auch eine sehr wichtige Komponente. Damit fängt er an, und das baue ich in das historische Bewusstsein hinein, als Dorfbaum. Der Dorfbaum, das ist das kollektive Gedächtnis sozusagen. Jedes Dorf hat einen Baum gehabt, wo sich die Menschen versammelt haben, ab und zu zu Gericht saßen, und wahrscheinlich unser Baum in unserem Garten war einer.
    Gutzeit: Das Motiv des Baums zieht sich ja durch das gesamte Buch. Zum Beispiel taucht es auf im Essay "Arbor Mundi" über die Baummalerei des ungarisch-französischen Künstlers Alexandre Hollan und des Franzosen Matisse. Hollan war der Meinung, dass Bäume sich in stetigem Wandel, in fließender Bewegung befinden, ohne Anfang und ohne Ende. Sie fühlen sich offensichtlich dieser Betrachtung von Natur und von Leben und Tod und Wandel und Werden sehr verbunden.
    Das Ineinanderfließen von Leben und Tod
    Nádas: Ja, das ist eine großartige Betrachtung, er ist ein großartiger unbekannter Maler oder fast unbekannt, in Frankreich etwas bekannt. Er malt ausschließlich Bäume, und er zeichnet die Bewegungen der Blätter nach. Sie geben nicht das Skelett, sondern sie geben das Leben, also die ständige Bewegung der Bäume uns wieder, und das ist sehr aufregend für mich, weil Literatur auch nur unter Schwierigkeiten fähig ist, diese ständige Bewegung im Leben zu halten und von den Buchstaben sozusagen loszulösen mit verschiedenen komplizierten Mitteln.
    Gutzeit: Welche poetologischen Konsequenzen hat das für Ihr Schreiben, diese Betrachtungsweise. Das ist offensichtlich wichtig im Essay, in der Körperwärme der Schriftlichkeit, schreiben Sie, es gebe keine Anfangs- und keine Endpunkte für das Schreiben. Also bei Ihnen gibt es ja auch dieses Ineinanderfließen, dieses Leben und Tod, nicht als Endpunkte, sondern offensichtlich als Wandel, als Verwandlung. Deswegen sind Sie ja offensichtlich diesem Künstler auch sehr nah, und das hat eine Bedeutung für Ihr Schreiben.
    Nádas: Ja, das hatte schon immer eine Bedeutung meines Schreibens beziehungsweise ich habe mich bemüht, in diese Richtung zu gehen, weil ich habe die Erfahrung gemacht, durch Geschichte, durch tragische familiäre Zustände, dass das Leben mit dem Tod nicht aufhört. Das ist eine Vereinfachung, eine verständliche, aber doch eine Vereinfachung, eine undifferenzierte Behauptung, und man fängt nicht sein eigenes Leben mit der Geburt an, sondern einerseits gibt es diese Vorgeburtsgeschichte, andererseits man ist kein unbeschriebenes Blatt, sondern genetisch ist es vorbereitet, also auf Gleisen gestellt und dann von Erziehung sehr beeinflusst, und Erziehung kommt auch aus dem Nichts, aus der Urzeit, aus den Zeiten, die wir überhaupt nicht kennen und doch in uns tragen. Also diese mythische, magische Zeit, archaische Zeit, diese drei großen Epochen der Menschheitsgeschichte ist mir sehr wichtig, und ich habe darauf gebaut.
    Gutzeit: Sie sind als Sohn jüdischer Kommunisten, die während der Kriegsjahre im Widerstand tätig waren und eine Familiensippe, die über Generationen Intellektuelle und Schriftsteller und Politiker hervorbrachte, eng mit der Geschichte Ungarns, mit der Geschichte Osteuropas verbunden, und Sie haben in Ihren Büchern diese Geschichte immer wieder durchdrungen, ohne die gesamteuropäische Entwicklung aus dem Blick zu verlieren. Mir mutet Ihr Blick auf die Geschichte Europas immer etwas sehr beladen, etwas sehr wenig hoffnungsvoll an.
    Amnesie in der Geschichte
    Nádas: Ja, mit Hoffnung und mit hoffnungsvoll oder Optimismus oder Pessimismus würde ich nicht operieren. Hoffnung ist mit Utopismus verbunden, und ich komme aus einer Welt, wo Utopien vernichtet worden sind, und ich will auch keine Utopien haben, obwohl ich weiß, dass eine Welt ohne Utopien ist wie eine Wüste. Also man muss Ideen haben, man muss über die Zukunft irgendwelche Ideen haben. Wenn man nur Rationalität zulässt, dann entsteht diese Wüste. Also je differenzierter desto besser.
    Gutzeit: Sie setzen sich ja in Ihrem Essayband sehr nachdrücklich mit der Geschichte, aber auch mit der derzeitigen Situation Osteuropas wie auch Gesamteuropas auseinander. Sie sprechen zum Beispiel von Amnesie, was das Geschichtsverständnis in Europa angeht, und wenn wir zunächst mal vielleicht auf Ungarn schauen, Ihrem Heimatland: Sie sprechen Ihrem Land nach dem derzeitigen Stand, so wie ich es gelesen habe, die Demokratiefähigkeit ab und begründen das historisch.
    Nádas: Die Geschichte zeigt, dass Demokratie nicht importierbar ist, sondern entsteht aus bürgerlichen Verhältnissen, und bürgerliche Verhältnisse entstehen in Städten, und Städte entstehen aus Industrie und Gewerbe, und Industrie und Gewerbe wird auf althergebrachte Traditionen aufgebaut, nämlich die Tradition der Kirchenmönche, die Handwerkliches pflegen.
    Gutzeit: Eine Herausbildung von Schichten.
    Nádas: Ja, und diese Geschichte ist in Osteuropa, in Ungarn mehrfach gestört. Deswegen ist die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft gestört, gehindert, mehrmals kaputtgemacht, regelrecht kaputtgemacht in dem letzten Jahrhundert, voriges Jahrhundert von ungarischen Nazis und deutschen Nazis kaputtgemacht, die bürgerliche Geschichte, dann wiederum von Kommunisten kaputtgemacht, und dadurch ist eine gleichgeschaltete Gesellschaft ohne Schichten, ohne Strukturierung entstanden, und diese strukturlose Gesellschaft entspricht zwar den Erfordernissen einer Massengesellschaft, aber politisch ohne Klassen, ohne diese ausgeprägten Schichten und politischen Kreise ist nicht regierbar, unregierbar. In Ungarn gibt es keine Regierung, womit die Bevölkerung zufrieden wäre.
    Gutzeit: Aber Sie nennen einen ganz interessanten Aspekt in einem dieser Essays, und zwar, dass im Grunde genommen unter dem Sozialismus, unter anderem jetzt nehmen wir das Beispiel Ungarn, sich eine bestimmte Verhaltensweise herausgebildet hat, den Staat zu unterminieren, um sozusagen sein Leben zu leben und sich seine Vorteile zu verschaffen, und diese Verhaltensweisen werden transponiert in den Kapitalismus, in die kapitalistischen, heute sozusagen demokratischen Verhältnisse, und da gibt es eine Art von Fortsetzung dieser Verhaltensweisen. Das erklärt doch eventuell, warum Ungarn oder die osteuropäischen Gesellschaften so demokratiefeindlich sich tatsächlich zeigen. Einer, der das ja nun besonders nach außen trägt, ist Ihr Ministerpräsident Orban, Ihr im Sinne von Ihres Landes.
    Nádas: Zu Demokratie gehören Demokraten, und Demokraten werden durch demokratische Verhältnisse ausgebildet. Das ist Selbstbildung. Das einzige Gegenbeispiel ist Deutschland, die Nachkriegsgeschichte, Deutschland, wo Demokratie oktroyiert wurde, also als Neuausrichtung gegeben wurde, aber es gab jahrhundertelange städtische Geschichte. Also städtische Geschichte heißt Selbstbestimmung. Ich bestimmte selbst mein Schicksal, und darauf konnte man bauen. In Osteuropa oder in Ungarn gab es diese städtische Geschichte nur beschränkt, beschränkt zum Beispiel auf Budapest, und es gab eine unheilvolle Geschichte der Demokratie, der neuen Demokratie im ganzen Europa. Also die Finanzkrise hat diesen aufstrebenden kleinen Demokratien ein Ende gesetzt.
    Gutzeit: Erklärt das denn die heutige Fremdenfeindlichkeit, –
    Nádas: Natürlich.
    Gutzeit: – die sich besonders ausprägt?
    Nádas: Natürlich. Das ist eine antideutsche, antifranzösische, antikolonialistische Haltung: Ich will keine Fremden, ich will diese Manager, die keine Ahnung über mein Land oder über meine Sprache oder über meine Verhaltensweisen haben, keine Notiz nehmen, und sie beherrschen mich doch.
    Gutzeit: Es geht aber nicht nur um Manager, es geht auch um Flüchtlinge, über die an den Grenzen sozusagen …
    Nádas: Ja, aber das gehört dazu. Dann kommt ein großer Flüchtlingsstrom, dieser Flüchtlingsstrom als Hilfsarbeiter, gut für Deutschland, gut für Frankreich, aber wozu brauchen wir Hilfsarbeiter, wir sind alle Hilfsarbeiter. Also ich versuche nur zu erklären. Ich halte das nicht für gut, nicht richtig, aber das ist ein Entwicklungsstand, und dieser Entwicklungsstand kann nicht umgangen werden.
    Gutzeit: Welchen Anteil daran haben die westlichen Demokratien, dass es so ist?
    Nádas: Groß.
    Gutzeit: Im Sinne von, dass sie die bipolare Welt aufrechterhalten?
    Nádas: Die bipolare Welt ist aufrechterhalten, schon aus der Sicht, dass die kapitalistische Welt dachte, bei dem Mauerfall, mit Genugtuung, gesiegt zu haben. Man dachte, ans Ende der Geschichte gekommen zu sein, und man dachte das ernst, aber so etwas einerseits gibt es nicht, andererseits so etwas denken nur Kolonialherren, die in so kleinen Wirtschaften nur Absatzmärkte sehen und einerseits kaputtmachen, bewusst kaputtmachen, um die Marktverhältnisse auf ihre Gunsten auszunutzen oder etwas aufbauen, etwas Vorübergehendes, leicht Abbaubares, die in dem Land nicht viel hinterlässt außer Schmutz.
    Das Wesen des Menschen
    Gutzeit: Jetzt werden wir noch mal einen Bogen machen und zu etwas Generellem kommen: Péter Nádas, Sie sind ein Schriftsteller, der die heutige Beschaffenheit Europas immer aus der Historie raus begründet. Das haben wir eben auch gehört. Sie habe ein immenses historisches Bewusstsein für und Wissen über die Entwicklung der Gesellschaften, in denen wir heute leben. Andererseits gibt es für Sie offensichtlich auch anthropologische Konstanten, die das Wesen des Menschen ausmachen und die man zähmen muss: die Neigung zur Grausamkeit, zur Lust am Schmerz und am Zuschauen, wenn anderen Schmerzen zugefügt werden. Sie haben sich selbst einer Prüfung, nenne ich mal so, unterzogen, wie im Essay "Großes weihnachtliches Morden" nachzulesen ist. Was hat Sie diese Prüfung gelehrt?
    Nádas: Dass ich immer auch mit mir selbst auf der Hut sein sollte.
    Gutzeit: Sagen Sie noch mal kurz, worum es geht in diesem …?
    Nádas: Ja, wenn ich die Hinrichtung des Diktatoren im Fernsehen –
    Gutzeit: Um Ceausescu geht es.
    Nádas: – es geht um Ceausescu – betrachte, dann muss ich mich hüten, dass zu genießen. Ich habe das genossen. Ich habe diesen Herrscher, diesen Alleinherrscher regelrecht gehasst. Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, dann hätte ich ohne Weiteres die beiden, also auch die Frau, niedergemetzelt oder gestochen. Einmal hätte ich auch Gelegenheit, wenn ich Waffe gehabt hätte und wenn ich schießen könnte, weil ich habe zufällig vom Straßenrand die beiden gesehen. Also davor soll man sich hüten, weil man hat im ganzen Europa in einem Film vorgeführt, wie Recht aus Recht gesetzt wird und Selbstgerechtigkeit feiert, und davor soll man sich hüten. Ich muss mich jeden Tag mit mir konfrontieren und mich jeden Morgen zersetzen, um zu sehen, ob ich diese anthropologische Inhalte noch trage, und das darf ich nicht in das Leben hinaustragen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Péter Nadás: "Leni weint". Essays.
    In der Übersetzung aus dem Ungarischen u.a. von Heinrich Eisterer, Heike Flemming und Ilma Rakusa.
    Rowohlt Verlag, Reinbek. 527 Seiten. 36.- Euro.