Jürgen Liminski: Die USA erhöhen den Druck auf Mubarak. Washington fordert einen geordneten Übergang, was de facto eine Abkehr vom derzeitigen Präsidenten bedeutet. Und in Kairo selbst bereitet man sich auf den großen Protesttag vor.
Es wird eng für Mubarak. Aber was kommt danach? Ägypten ist das Stammland der Muslimbrüder. Hier wurde die Bruderschaft 1928 gegründet. Aus ihr kamen Leute wie Arafat und die Hamas, jene Gruppe, die im Gazastreifen vor der Haustür Israels eine Art Kalifat errichtet hat. Die Hamas darf man getrost als langen Arm der Muslimbrüder bezeichnen, und auch wenn die Islamisten jetzt nicht großartig in Erscheinung treten auf den Straßen von Kairo, Suez oder Alexandria, sie spielen bei den Spekulationen über die Zukunft Ägyptens eine Rolle. Über diese Zukunft wollen wir nun sprechen mit dem Publizisten Peter Scholl-Latour. Zunächst mal guten Morgen.
Peter Scholl-Latour: Ja, guten Morgen.
Liminski: Herr Scholl-Latour, auch an Sie die Frage. Mubarak sitzt noch fest im Sattel. Aber vielleicht ist das Pferd tot, also das System am Ende?
Scholl-Latour: Ja. Ich glaube, dass die Person Mubarak wohl auf kurzer Zeit von der Szene abtreten wird. Das ist kaum zu halten. Und sein Plan, seinen Sohn Gamal als Nachfolger einzusetzen, ist ebenfalls – wie soll ich sagen? -, gehört der Vergangenheit an. Aber die Frage ist einfach, was danach kommt. Die jetzige Regierung Süleyman reagiert anders als in Tunis. Das muss man zunächst einmal sagen. Sie hat die Armee auf ihrer Seite noch, jedenfalls einen Teil der Armee, und ist bisher klug genug gewesen, diese Armee nicht gegen die Bevölkerung einzusetzen. Farce war ja vor allem die Polizei gewesen, aber die Polizei hat sich seltsamerweise aufgelöst und das könnte natürlich auch ein zynischer Schachzug sein, nämlich dadurch ist jede Kontrolle über die öffentliche Ordnung abhandengekommen, es haben die Plünderungen stattgefunden und die neue Übergangsregierung, die der General Süleyman, der ja der Chef der Sicherheitskräfte ist, errichtet hat, macht vielleicht das zynische Kalkül, dass die Plünderungen, die totale Unordnung, das Chaos, das sich jetzt abzeichnet, die Leute so abschreckt, dass sie sich eher den Militias zuwenden, um Ordnung wieder herzustellen.
Liminski: Sie kennen Mubarak vermutlich persönlich. Wie lange wird er sich Ihrer Meinung nach halten wollen?
Scholl-Latour: Er möchte natürlich noch lange, wenigstens bis zum Ende seines Mandats bleiben. Aber das erscheint mir unmöglich und ich glaube auch, dass die Stunde für ihn geschlagen hat. Es geht jetzt darum, einen Übergang zu schaffen. Wer wird der Repräsentant, sagen wir, der Aufruhrbewegungen sein? Am Anfang war es sagen wir die mittlere Klasse in Ägypten, vor allem in den großen Städten, vor allem in Kairo, es waren Intellektuelle, es waren, sagen wir, auch relativ bürgerliche Elemente, die das vor allem getragen haben. Wie das breite Land reagiert, das ist anders. Seltsamerweise sind die Muslimbrüder bisher noch nicht so sehr in Erscheinung getreten, aber sie sind die einzige wirklich organisierte Kraft der Opposition. Auf der anderen Seite haben sie mal eine Wafd-Partei wiederbelebt, das ist nichts geworden. Und die Hoffnungen auf den sehr ehrenwerten und auch sehr geschätzten Herrn el Baradei sind begrenzt. Eventuell, wenn alles wirklich sehr gut ginge, könnte er eine Übergangsregierung bilden. Aber der Mann, der eher im Westen bekannt und geschätzt ist, zurecht übrigens, ist in Ägypten natürlich relativ wenig bekannt. Und wir dürfen nicht vergessen: Dieses ist ein Land von 80 Millionen Menschen und Kairo ist nur ein kleiner Teil davon und die Fellachen des Niltals leben noch in einem – wie soll ich sagen? – doch tief verwurzelten Islam. Die Leute, die sagen, dass der Höhepunkt der islamischen Erhebung damit vorüber sei, gehen da vielleicht einem Wunschdenken nach. Ich würde sagen, dass der Islam in Ägypten, auch der der Muslimbrüder inzwischen übrigens, gar nicht mehr radikal ist, das sind keine Terroristen.
Liminski: Herr Scholl-Latour, beschwichtigend weist man in europäischen Staatskanzleien ja darauf hin, dass die Muslimbrüder nicht gegen das Volk regieren würden. Außerdem wirke die Abschreckung in Nahost. Teilen Sie die Einschätzung, dass die Muslimbrüder sich auf Dauer zurückhalten?
Scholl-Latour: Die Muslimbrüder sind auch keine in sich geschlossene Geschichte. Sie sind ja nun auch schon unter Gamal Abdel Nasser verfolgt worden. Anwar el Sadat hat ihnen wieder eine gewisse Entfaltungsmöglichkeit gegeben, um, sagen wir, einen Wall gegen – wie soll ich sagen? – die radikalen Nationalisten oder die politischen Gegner zu schaffen. Aber das hat ihm ja nicht geholfen, er ist dann umgebracht worden. Anwar el Sadat ist nicht durch Muslimbrüder umgebracht worden, sondern es gibt natürlich extrem radikale Gruppen, diejenigen, die zum Beispiel die Schweizer Touristen in Luxor damals umgebracht haben, oder auch gegen Touristen in Kairo Bomben gezündet haben, aber das sind nicht die eigentlichen Muslimbrüder, sondern das sind kleine Organisationen wie "Taksjevajesa?" und so weiter. Die existieren weiter, die können Unruhe stiften und können vor allem ein gewisses Chaos schaffen, aber sie sind bisher Gott sei Dank noch nicht in Erscheinung getreten.
Liminski: Ein ungeschriebenes Gesetz in islamischen Ländern ist die Einheit von Staat und Religion, din wa daula. Ist eine weltanschaulich neutrale Demokratie kompatibel mit den Erfordernissen eines orthodoxen Islam?
Scholl-Latour: Dieses din wa daula steht nicht im Koran, aber es ist eine Praxis. Im Grunde können die Leute es sich anders auch gar nicht vorstellen. Wenn wir heute die Entwicklung in der Türkei sehen, wo ja ein gemäßigter Islam noch praktiziert wird, es wird auch auf eine gewisse Verschmelzung von Staat und Religion hinauslaufen. Aber das sind eben islamische Staaten und wir müssen uns damit abfinden, dass islamische Staaten nach anderen Gesetzen regiert werden als die westlichen Demokratien, die ja aus einer christlichen, vor allem aus einer aufklärerischen Tradition heraus hervorgegangen sind.
Liminski: Mubaraks letzte Stunde, jedenfalls politische Stunde hat geschlagen, sagt hier im Deutschlandfunk der Publizist Peter Scholl-Latour. Besten Dank für das Gespräch, Herr Scholl-Latour.
Ägypten: Armee erklärt Gewaltverzicht - Weiter Massenproteste gegen Mubarak
Es wird eng für Mubarak. Aber was kommt danach? Ägypten ist das Stammland der Muslimbrüder. Hier wurde die Bruderschaft 1928 gegründet. Aus ihr kamen Leute wie Arafat und die Hamas, jene Gruppe, die im Gazastreifen vor der Haustür Israels eine Art Kalifat errichtet hat. Die Hamas darf man getrost als langen Arm der Muslimbrüder bezeichnen, und auch wenn die Islamisten jetzt nicht großartig in Erscheinung treten auf den Straßen von Kairo, Suez oder Alexandria, sie spielen bei den Spekulationen über die Zukunft Ägyptens eine Rolle. Über diese Zukunft wollen wir nun sprechen mit dem Publizisten Peter Scholl-Latour. Zunächst mal guten Morgen.
Peter Scholl-Latour: Ja, guten Morgen.
Liminski: Herr Scholl-Latour, auch an Sie die Frage. Mubarak sitzt noch fest im Sattel. Aber vielleicht ist das Pferd tot, also das System am Ende?
Scholl-Latour: Ja. Ich glaube, dass die Person Mubarak wohl auf kurzer Zeit von der Szene abtreten wird. Das ist kaum zu halten. Und sein Plan, seinen Sohn Gamal als Nachfolger einzusetzen, ist ebenfalls – wie soll ich sagen? -, gehört der Vergangenheit an. Aber die Frage ist einfach, was danach kommt. Die jetzige Regierung Süleyman reagiert anders als in Tunis. Das muss man zunächst einmal sagen. Sie hat die Armee auf ihrer Seite noch, jedenfalls einen Teil der Armee, und ist bisher klug genug gewesen, diese Armee nicht gegen die Bevölkerung einzusetzen. Farce war ja vor allem die Polizei gewesen, aber die Polizei hat sich seltsamerweise aufgelöst und das könnte natürlich auch ein zynischer Schachzug sein, nämlich dadurch ist jede Kontrolle über die öffentliche Ordnung abhandengekommen, es haben die Plünderungen stattgefunden und die neue Übergangsregierung, die der General Süleyman, der ja der Chef der Sicherheitskräfte ist, errichtet hat, macht vielleicht das zynische Kalkül, dass die Plünderungen, die totale Unordnung, das Chaos, das sich jetzt abzeichnet, die Leute so abschreckt, dass sie sich eher den Militias zuwenden, um Ordnung wieder herzustellen.
Liminski: Sie kennen Mubarak vermutlich persönlich. Wie lange wird er sich Ihrer Meinung nach halten wollen?
Scholl-Latour: Er möchte natürlich noch lange, wenigstens bis zum Ende seines Mandats bleiben. Aber das erscheint mir unmöglich und ich glaube auch, dass die Stunde für ihn geschlagen hat. Es geht jetzt darum, einen Übergang zu schaffen. Wer wird der Repräsentant, sagen wir, der Aufruhrbewegungen sein? Am Anfang war es sagen wir die mittlere Klasse in Ägypten, vor allem in den großen Städten, vor allem in Kairo, es waren Intellektuelle, es waren, sagen wir, auch relativ bürgerliche Elemente, die das vor allem getragen haben. Wie das breite Land reagiert, das ist anders. Seltsamerweise sind die Muslimbrüder bisher noch nicht so sehr in Erscheinung getreten, aber sie sind die einzige wirklich organisierte Kraft der Opposition. Auf der anderen Seite haben sie mal eine Wafd-Partei wiederbelebt, das ist nichts geworden. Und die Hoffnungen auf den sehr ehrenwerten und auch sehr geschätzten Herrn el Baradei sind begrenzt. Eventuell, wenn alles wirklich sehr gut ginge, könnte er eine Übergangsregierung bilden. Aber der Mann, der eher im Westen bekannt und geschätzt ist, zurecht übrigens, ist in Ägypten natürlich relativ wenig bekannt. Und wir dürfen nicht vergessen: Dieses ist ein Land von 80 Millionen Menschen und Kairo ist nur ein kleiner Teil davon und die Fellachen des Niltals leben noch in einem – wie soll ich sagen? – doch tief verwurzelten Islam. Die Leute, die sagen, dass der Höhepunkt der islamischen Erhebung damit vorüber sei, gehen da vielleicht einem Wunschdenken nach. Ich würde sagen, dass der Islam in Ägypten, auch der der Muslimbrüder inzwischen übrigens, gar nicht mehr radikal ist, das sind keine Terroristen.
Liminski: Herr Scholl-Latour, beschwichtigend weist man in europäischen Staatskanzleien ja darauf hin, dass die Muslimbrüder nicht gegen das Volk regieren würden. Außerdem wirke die Abschreckung in Nahost. Teilen Sie die Einschätzung, dass die Muslimbrüder sich auf Dauer zurückhalten?
Scholl-Latour: Die Muslimbrüder sind auch keine in sich geschlossene Geschichte. Sie sind ja nun auch schon unter Gamal Abdel Nasser verfolgt worden. Anwar el Sadat hat ihnen wieder eine gewisse Entfaltungsmöglichkeit gegeben, um, sagen wir, einen Wall gegen – wie soll ich sagen? – die radikalen Nationalisten oder die politischen Gegner zu schaffen. Aber das hat ihm ja nicht geholfen, er ist dann umgebracht worden. Anwar el Sadat ist nicht durch Muslimbrüder umgebracht worden, sondern es gibt natürlich extrem radikale Gruppen, diejenigen, die zum Beispiel die Schweizer Touristen in Luxor damals umgebracht haben, oder auch gegen Touristen in Kairo Bomben gezündet haben, aber das sind nicht die eigentlichen Muslimbrüder, sondern das sind kleine Organisationen wie "Taksjevajesa?" und so weiter. Die existieren weiter, die können Unruhe stiften und können vor allem ein gewisses Chaos schaffen, aber sie sind bisher Gott sei Dank noch nicht in Erscheinung getreten.
Liminski: Ein ungeschriebenes Gesetz in islamischen Ländern ist die Einheit von Staat und Religion, din wa daula. Ist eine weltanschaulich neutrale Demokratie kompatibel mit den Erfordernissen eines orthodoxen Islam?
Scholl-Latour: Dieses din wa daula steht nicht im Koran, aber es ist eine Praxis. Im Grunde können die Leute es sich anders auch gar nicht vorstellen. Wenn wir heute die Entwicklung in der Türkei sehen, wo ja ein gemäßigter Islam noch praktiziert wird, es wird auch auf eine gewisse Verschmelzung von Staat und Religion hinauslaufen. Aber das sind eben islamische Staaten und wir müssen uns damit abfinden, dass islamische Staaten nach anderen Gesetzen regiert werden als die westlichen Demokratien, die ja aus einer christlichen, vor allem aus einer aufklärerischen Tradition heraus hervorgegangen sind.
Liminski: Mubaraks letzte Stunde, jedenfalls politische Stunde hat geschlagen, sagt hier im Deutschlandfunk der Publizist Peter Scholl-Latour. Besten Dank für das Gespräch, Herr Scholl-Latour.
Ägypten: Armee erklärt Gewaltverzicht - Weiter Massenproteste gegen Mubarak