Ein Mann sitzt mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern in einer Raststätte an einer Autobahn. Sie sind auf dem Weg in den Weihnachtsurlaub. Den Mann erreicht ein dringender geschäftlicher Anruf, den er vor der Tür annimmt. Als er in den Gastraum zurückkommt, sind seine Frau und seine beiden Kinder nicht mehr dort, und auch das Auto auf dem Parkplatz ist verschwunden.
In Peter Stamms neuen Erzählungen sind es oft solche Augenblicke, in denen die Wirklichkeit unmerklich kippt und seine Figuren in eine parallele, in sich ebenso konsistent erscheinende Welt fallen. Denn was nun in der Erzählung "Der erste Schnee" geschieht, gehorcht nicht mehr den Gesetzen des Rationalen: Der Mann läuft los, weg von der Autobahn, den Berg hoch in den Wald. Fast liest sich die Geschichte wie eine Vorstudie zu Stamms 2016 erschienenen Roman "Weit über das Land".
Erst beginnt es zu regnen, dann zu schneien. Schließlich landet er vor einem merkwürdigen Gebäude, das er anhand der Kinderzeichnungen in den Fenstern als Schulhaus identifiziert. Der Ich-Erzähler formt einen Schneeball, verfehlt sein eigentliches Ziel, trifft eines der Fenster und wird daraufhin von einer Frau, offensichtlich einer Lehrerin, aus dem Haus heraus zur Rede gestellt.
Setzen Sie sich. Strafarbeit!
Die anschließende Szene ist von grotesker Komik: Denn anstatt dem Erzähler im Schulgebäude zu gestatten, das Telefon zu benutzen, hat die Frau anderes mit ihm vor:
"Die Lehrerin führte mich in ein Klassenzimmer und schloss die Tür hinter uns ab. Sie zeigte auf eins der Schülerpulte. Setzen Sie sich. Sie nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade und legte es vor mich hin. Schreiben Sie auf, weshalb Sie Schneebälle gegen das Fenster geworfen haben. Eine Seite."
Die Rezeption von Peter Stamms Gesamtwerk leidet unter dem wenig originellen Vorurteil, dass er angeblich immer wieder und wieder ein- und dasselbe Buch schreiben würde. Das ist eine so oberflächliche wie falsche Wahrnehmung, hat Stamm doch sein Schreiben in den vergangenen Jahren zugespitzt, wenn auch auf die ihm eigene dezente und lakonische Weise. Seine Geschichten sind in ihren Spiegelmotiven surrealer geworden, vor allem aber unheimlicher.
Zweifelnde Schattengestalten
Die Protagonisten der elf Erzählungen in "Wenn es dunkel wird" sind überwiegend Schattengestalten. Menschen, die an sich selbst, ihrer Bedeutung, ihrer gesellschaftlichen Funktion zweifeln. Mit behutsamer Eleganz führt Stamm diese Menschen an Umschlagpunkte heran. Er inszeniert Augenblicke, in denen die von Zweifeln geprägte Selbstwahrnehmung der Figuren und ihr Angeschautwerden von außen eins werden.
So beispielsweise im Fall jenes Mannes in der Erzählung "Supermond", der in seiner Firma handschriftliche Listen für die Überprüfung von Flugzeugteilen führt und im Wissen um seine Überflüssigkeit nur noch auf die Pensionierung wartet. Doch dann kommt der Tag, an dem seine eingestandene Redundanz im Wirtschaftskreislauf auch auf sein Privatleben und mithin auf sein gesamtes Dasein übergreift:
"Ich weiß nicht, wie spät es ist, als Hedwig nach Hause kommt. Sie sieht müde aus. Auch sie scheint mich nicht zu sehen. Ich will beiseiterücken, um sie durchzulassen, aber sie geht einfach durch mich hindurch."
Leitmotivische Gespenster
Die Verwandlung von unbedeutenden Funktionsträgern, genervten Familienvätern oder unterprivilegierten Randgestalten in tatsächliche Gespenster ist das Leitmotiv in "Wenn es dunkel wird" und nicht selten gesellschaftlich determiniert.
So beispielsweise in der Erzählung "Sabrina 2019": Eine junge Frau aus prekären Verhältnissen steht einem renommierten Künstler Modell für eine Skulptur, die ihrem Körper nachempfunden ist. Zunächst ist sie stolz darauf, erfüllt mit einem Gefühl der Überlegenheit auch gegenüber den Gästen der Vernissage. Schließlich ist sie selbst indirekt zu Kunst geworden. Doch die Kunstszene und die finanziell potenten Mäzene verweisen sie in dem ihnen eigenen Dünkel schnell wieder auf ihren Platz. Was zurückbleibt, ist das Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper. Als der Käufer der Skulptur die junge Frau in sein Haus einlädt, um das Kunstwerk an seinem neuen Standort zu besichtigen, kommt es wie so oft bei Peter Stamm zu einer Umkehr der tatsächlichen Verhältnisse:
"Es war seltsam, aber plötzlich beneidete Sabrina ihr silbrig glänzendes Abbild darum, in diesem schönen Haus leben zu dürfen, weit weg von allen Unannehmlichkeiten des Alltags. Es kam ihr vor, als nehme die Statue den Platz ein, der eigentlich ihr zustünde."
Sprache lässt Ambivalenzen offen
Doppelgänger, befremdliche Begegnungen, Gewissheiten, die sich auflösen: Unter Peter Stamms minimal instrumentierter und gerade deshalb für Assoziationen und Ambivalenzen so offenen Sprache liegt eine schwarze Romantik des Alltags.
In der Titelgeschichte steigt eine Polizistin, die sich freiwillig auf einen einsamen Posten in einem abgelegenen Tal hat versetzen lassen, alleine auf eine Alp. Wanderer hatten gemeldet, dass sich dort oben in einer Hütte angeblich eine Frau mit zwei kleinen Kindern aufhalte. Im Lauf der Erzählung erfahren wir, dass die Polizistin in eben jener Hütte als Kind gemeinsam mit ihren Eltern ihre Sommer verbracht hat – und dass ihr Bruder dort oben eines Tages verschwunden ist.
"Ich war erst zehn Jahre alt, aber ich habe nie vergessen, wie die Männer auftauchten, wie sie sich breitmachten in der Hütte, sich besprachen, wie sie sich im Gebiet verteilten, in Kolonnen den Karst abgingen, wie die Hunde bellten und ihr Gekläff von den Felswänden widerhallte, stundenlang, tagelang. Aber was im Karst verlorengeht, wird nicht wiedergefunden."
Mystery trifft Nachtstücke
Auch in dieser meisterhaften Erzählung überlagern sich vermeintlich gegenwärtiges Erleben und Erinnerung; verschmilzt Peter Stamm Realität, Imagination und Traumsequenzen so subtil und unmerklich, dass daraus ein einziges Bild der Beunruhigung entsteht. Stamm nutzt Motive aus der Mystery-Literatur, ohne dabei effekthascherisch zu werden, und ganz sicher zählen auch E.T.A. Hoffmanns "Nachtstücke" zu Stamms Referenztexten.
Was die Polizistin oben auf der Alp vorfindet, soll ebenso wenig verraten werden wie der Ausgang der Geschichte zwischen dem Familienvater und der Lehrerin. Mit Sicherheit lässt sich nach der Lektüre von Peter Stamms ganz und gar nicht harmlosen Erzählungen nur eines sagen: dass wir unseren Wahrnehmungen und Selbstgewissheiten keinesfalls vertrauen sollten.
Peter Stamm: "Wenn es dunkel wird"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 192 Seiten, 21 Euro
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 192 Seiten, 21 Euro