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Peter von Matt: "Sieben Küsse"
Studie über das Glück

"Sieben Küsse" nimmt Peter von Matt in seinem gleichnamigen Buch zum Anlass für einen Streifzug durch die Literatur auf der Suche nach Darstellungen von Glück und Unglück. In Texten von Heinrich von Kleist bis Marguerite Duras entdeckt er Kuss-Szenen, die äußerste Seligkeit, aber auch Todessehnsucht bedeuten können.

Von Eva Pfister |
    Der schwedische Filmstar Anita Ekberg und ihr italienischer Kollege Marcello Mastroianni in der berühmten Kussszene in "La Dolce Vita" im römischen Trevi-Brunnen (Archivbild von 1960)
    Der schwedische Filmstar Anita Ekberg und ihr italienischer Kollege Marcello Mastroianni in der berühmten Kussszene in "La Dolce Vita" im römischen Trevi-Brunnen (Archivbild von 1960). (dpa / picture-alliance / Keystone)
    Wenn ein Kuss so überwältigend ist, dass er ein absolutes Glücksgefühl auslöst, dann kann er für das weitere Leben entscheidend sein: als Kraftspender für den innersten Kern der Persönlichkeit. So empfindet es Clarissa im Roman "Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf. Der Kuss, den sie von ihrer Freundin Sally empfing und an den sie sich 30 Jahre später während der Vorbereitung zu einem ihrer Empfänge erinnert, haucht ihr immer noch Leben ein. Das ist der erste von sieben Küssen, die Peter von Matt in seinem neuen Buch zum Anlass nimmt, um die literarischen Beschreibungen von Glück unter die Lupe zu nehmen.
    "Dieser Moment gehört zur Anatomie des akuten Glücks, als welche die Kuss-Szene als Ganzes begriffen werden kann. Die junge Clarissa hat nie gedacht: 'Ich liebe Sally.' Sie hat ihre Gefühle nicht nach den Konventionen und der Terminologie der Verliebtheit benannt, sie hat einfach erlebt, dass sie sich der Freundin nahe fühlte und sie beschützen wollte ... Diese fürsorgliche Zuneigung steigert sich eines Abends vor dem Dinner, als sie sich in ihrem Zimmer zurechtmacht, zu einer Glückswelle allein schon beim Gedanken, dass Sally hier ist, unter diesem Dach. Hic et nunc - hier und jetzt. Die Sehnsucht ist immer auf eine Ferne in der Zukunft ausgerichtet, das akute Glück aber fällt zusammen mit einem heftigen Gefühl der Gegenwart an diesem Ort." (Zitat)
    Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat oft und gern einzelnen Motiven nachgespürt. Etwa den "Treulosen in der Literatur" im Buch "Liebesverrat" oder dem "Familiendesaster in der Literatur". Zuletzt erschien seine Studie zur "Intrige": "Theorie und Praxis der Hinterlist". Er sammelt aber nicht einfach nur die entsprechenden Motive quer durch die Literaturgeschichte, sondern untersucht dabei zentrale Konflikte des menschlichen Lebens.
    Zum Glück gehören zwei
    Anhand der Küsse analysiert er die Vorstellungen von Glück und Unglück, wie sie sich in literarischen Texten zeigen. Darum beginnt er sein Buch mit einem kleinen kulturgeschichtlichen Exkurs: "Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust. Es schmerzt nicht immer, aber es macht unruhig. Die Folge ist, dass der Mensch, um Pascals berühmte Diagnose zu zitieren, nicht fähig ist, gelassen in einem Zimmer zu bleiben." (Zitat)
    Sondern er muss sich zerstreuen, um nicht über sich nachzudenken. So der Philosoph Pascal. In den Werken der Dichter allerdings verkörpert das einsame Zimmer an sich schon das Unglück der Menschen, denn: "… die Unfähigkeit, es dort drin allein auszuhalten, beruht auf der Tatsache, dass es für den Inbegriff des Glücks, wo immer sich die Literatur dazu äußert, zwei Menschen braucht." (Zitat)
    Natürlich sind die Vorstellungen von Glück, wie sie sich in der Literatur zeigen, auch von den Umständen und der Entstehungszeit geprägt. Während in Virginia Woolfs Roman von 1925 das Glück auf einer sehr intimen Erfahrung beruht, beschert es dem jungen Mann in Gottfried Kellers Legende "Die Jungfrau als Ritter" nicht nur die angebetete Frau, sondern auch den sozialen Aufstieg.
    In der bürgerlichen Gesellschaft ging es ja darum, sein "Glück zu machen", also sich eine gute Existenz zu erarbeiten. Dass Gottfried Keller in seiner Legende von 1872 dieses Glück als Geschenk der wundertätigen Jungfrau Maria gerade einem trägen, untüchtigen Helden in den Schoß plumpsen lässt, kann man auch als einen Akt der Rebellion gegen die Ideologie der Zeit lesen. Eine Rebellion, die von feinem Witz getragen ist - genauso wie Peter von Matts Anfang dieses Kapitels über "ein Traumspiel bürgerlichen Erzählens":
    "Zwei Frauen küssen einander, wobei die eine der andern einen Mann vorspielt, aber weil sie als Frau weiß, wie eine Frau von einem Mann geküsst werden möchte, übersteigt das zärtliche Ereignis für die andere alle Erfahrungen, die sie in dieser Hinsicht bisher gemacht hat. Dabei ist die Küssende die Jungfrau Maria, nach kirchlicher Lehre also ohne einschlägige Vorkenntnisse, und die Geküsste ist eine Witwe, die ihren abscheulichen Ehemann vor einiger Zeit mit Hilfe ebendieser Jungfrau Maria losgeworden ist. Für Theologen, insbesondere für die katholische Abteilung der Zunft, dürften sich hier einige schwierige Fragen stellen; sie wurden allerdings, soweit bekannt, bisher nie systematisch diskutiert." (Zitat)
    Literarische Toren als Figuren des Widerstands
    Eine ähnliche Art von Widerstand wie in Gottfried Kellers Legende findet Peter von Matt in der Novelle "Der arme Spielmann" von Franz Grillparzer. Sie berichtet von einem jungen Mann, der im Denken und Handeln etwas langsamer ist als seine Brüder und der deswegen von seinem Vater schikaniert und später sogar verstoßen wird. Der Ich-Erzähler lernt ihn als alten Mann kennen, der als Straßenmusikant die Geige spielt, wobei er allerdings nur dissonante Klänge hervorbringt. Dabei, so erzählt der Spielmann, bedeutet Musik in seinem Leben nicht nur Trost, sondern das höchste Glück. Und die Musik hatte ihn auch zu der Frau geführt, die er schließlich küsste, wenn auch nur ein Mal - und nur durch die Glasscheibe einer verschlossenen Tür.
    Peter von Matt rückt diese Figur in die Reihe der literarischen Toren, etwa der russischen Gottesnarren - so in Dostojewskis "Idiot" - oder der Pechvögel und Schlemihle und all jener in sich gekehrten, einfältig wirkenden Einzelgänger, die sich dem Zug der Zeit entgegenstemmen. Einen Bogen schlägt er auch zu "Bartleby" von Herman Melville, jenem Schreiber an der Wall Street, der jeden Auftrag mit den Worten ablehnt: "I would prefer not to" - "Ich möchte lieber nicht."
    "Zu Grillparzers Spielmann wie zu Melvilles Bartleby sagt man Narr und nimmt das Wort zurück, sagt Dummkopf und nimmt das Wort zurück, sagt Verrückter und nimmt das Wort zurück, sagt Randständiger, Außenseiter, Asozialer und nimmt alle Wörter zurück. Keines trifft wirklich zu, aber zu sagen, dass diese Wörter auf diese Gestalten nicht zutreffen, scheint zuletzt der einzige Weg zu deren näherer Bestimmung zu sein.
    Das zeigt sich in den beiden Erzählungen auch darin, dass solche Bezeichnungen aus dem Munde von Leuten, die mit den Betreffenden zu tun haben, reichlich fallen, der Erzähler selbst aber sich von diesem Reden jeweils klar distanziert. Es sind die ihrerseits Unverständigen, die so reden. Damit ist ein erzähltechnisches Verfahren beschrieben, das charakteristisch ist für Geschichten, in denen der Beschränkte als exemplarische Gegenfigur zu den regierenden Normen erscheint." (Zitat)
    Im Fall von Franz Grillparzer handelt es sich bei den herrschenden Normen um das reaktionäre Regime der Metternich-Zeit, denn die Arbeit an der Novelle "Der arme Spielmann" erstreckte sich von 1831 bis 1847. Das ist jene Zeit zwischen zwei Revolutionen in Europa, die in der Geschichte als "Vormärz" einging und auch eine neue Literatur hervorbrachte, man denke an Heinrich Heine oder Georg Büchner. Grillparzer gehört zwar nicht zu diesen politisch aktiven Schriftstellern, aber Peter von Matt, der über die Bühnenkunst des österreichischen Klassikers dissertiert hat, betont doch den starken Zeitbezug, der im "Armen Spielmann" sichtbar wird.
    "Ein revolutionäres Manifest ist die Erzählung nicht, aber die politischen Erregungen ihrer Entstehungszeit sind in sie dennoch eingegangen. Schon in der Art, wie der Vater mit wenigen, aber schneidend genauen Strichen gezeichnet und als politischer Repräsentant hingestellt wird, blitzt die zornige Intelligenz jener Jahre auf. Und auf seine Art ist auch der arme Spielmann selbst, dieser ganz und gar gute Mensch, der Versager, ein Gegenwort gegen die Parolen der Mächtigen und Erfolgreichen." (Zitat)
    Sorgfältiges Lesen statt Festhalten an Methoden
    Anhand von sieben Küssen nimmt Peter von Matt in seinem Buch die Leser mit auf einen Streifzug durch die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts mit Exkursen in andere Künste, in die Politik oder auch in die Theologie. Man folgt ihm gern, er kann wunderbar erzählen und auch literaturtheoretische Ausführungen so verständlich vermitteln, dass man ihn beim Lesen mühelos auf seinen Höhenflügen begleitet.
    Man merkt, dass der Autor als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich jahrelang Erfahrung darin gesammelt hat, wie man ein Auditorium fesselt. Dass ihm das so gut gelingt, liegt auch daran, dass er so präzise wie überraschende Fragen an die Texte stellt - und dass er sich nie sklavisch einer Methode verschrieben hat. Im starren Festhalten an Methoden sieht Peter von Matt eine Gefahr, denn sie "schützen vor der chaotischen Dimension der Literatur", wie er schon 2011 in einem Interview ausführte:
    "Die radikalen Methodenheinis … sitzen wie in einem Panzer drin, fahren durch die literarische Landschaft und walzen alles nieder, was da kreucht und fleucht und wächst und sprießt." (Zitat)
    Die Marquise von O.: Auszug aus der Inszenierung in Monte Carlo
    Die Marquise von O.: Auszug aus der Inszenierung in Monte Carlo (S. Flament/Opéra de Monte Carlo)
    Man kann in dieser Aussage eine Kollegenschelte erkennen, die sich auch im neuen Buch wieder findet, nämlich beim fünften Kuss, der aus Heinrich von Kleists Novelle "Die Marquise von O." stammt. Bekanntlich wird die Titelheldin schwanger, ohne zu wissen, wie es dazu kam. Später wird sich herausstellen, dass sie während einer Ohnmacht vergewaltigt wurde. Bis dahin wird sie von ihrem Vater als Hure beschimpft und verstoßen.
    Irritierend ist Kleists Beschreibung der Versöhnung. Der Vater wirft sich in seiner Rührung weinend über die Tochter und drückt ihr "lange, heiße und lechzende Küsse" auf den Mund. Eine, wie Peter von Matt zugibt, monströse Szene, die er aber nicht als einen Akt von Inzest oder Vergewaltigung verstanden wissen will. Dass aktuelle Interpretationen dies tun und Kleist auch regelrecht abkanzeln, bringt Von Matt auf die Palme. Wie könne man einfach wegwischen, dass im Text steht, wie glücklich die Mutter über die Versöhnung ist, und wie könne man die bürgerliche Gefühlskultur außer Acht lassen, die damals vorherrschte?
    "Sicher ist, dass die Tränen auch zur Zeit Kleists noch ernster genommen wurden als heute und dass ihre Steigerung ins 'Grenzenlose' …nicht unfreiwillig komisch wirkte, sondern von den Lesern oder Zuschauern mitvollzogen wurde. Man sieht das an der Reaktion der Mutter, die im Geschehen zwischen Vater und Tochter 'die Lust der himmelfrohen Versöhnung' erkennt, 'die ihrem Hause wieder geworden war'.
    Diese Formulierung sollte genau betrachtet werden. Sie besagt, dass die unverkennbare Lust im enormen Küssen des Vaters in den Augen der Mutter nichts anderes ist als sein Glücksgefühl über die Versöhnung mit der Tochter. … Hier muss man feststellen, dass nicht nur die Tränenfluten in der damaligen Literatur dem heutigen Empfinden fremd geworden sind, sondern dass dies auch für die emotionale Aufladung des Aktes der Versöhnung an sich gilt.
    Gibt es denn im 21. Jahrhundert überhaupt noch eine Ästhetik der Versöhnung? Ist die Versöhnung in der Literatur und auf dem Theater heute nicht grundsätzlich dem Verdacht der Unwahrheit ausgesetzt? Obwohl der gequälte Planet nichts dringlicher bräuchte als eine neue Kultur der Versöhnung." (Zitat)
    Peter von Matt als Gewissen der Nation
    Diese Passage verrät nicht nur ein gewisses Pathos, sondern auch, dass Peter von Matt mit seinem Denken nicht im literarischen Elfenbeinturm verharrt. In der Schweiz ist er zu vielen Themen ein gefragter Gesprächspartner. 2009 hielt er sogar die Rede zum Nationalfeiertag. Sie ist in dem Buch enthalten, das zu seinem 75. Geburtstag erschien ist und Texte zur Literatur und Politik der Schweiz versammelt.
    Eröffnet wird es mit der Analyse eines Bildes, das dem Band auch den Titel gibt: "Das Kalb vor der Gotthardpost". Wer etwas über die Kultur und das Selbstverständnis der Schweiz erfahren will, sollte dieses Buch lesen, das übrigens auch das Verhältnis zwischen Deutschen und Eidgenossen reflektiert. Dass Peter von Matt für diese Publikation 2012 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, bezeugt seine literarischen Qualitäten und zeigt darüber hinaus, dass der Germanist in der Schweiz eine Position einnimmt, wie sie früher Autoren wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt innehatten: das intellektuelle Gewissen der Nation.
    Filmstill aus "The Great Gatsby" von Jack Clayton mit Robert Redford und Mia Farrow (1974)
    "The Great Gatsby", mit Robert Redford und Mia Farrow (imago/AGD)
    Nun also schreibt der 80-jährige Von Matt über Küsse. Sie können höchstes Glück auslösen, wie bei Mrs. Dalloway, aber auch eine quälende Erinnerung sein, was für "The Great Gatsby" im Roman von F. Scott Fitzgerald gilt. Küsse können für Versöhnung stehen, wie in der irritierenden Szene von Kleist, oder für Entfremdung - in der traurigen Erzählung Grillparzers.
    In der Legende von Gottfried Keller ist der Kuss ein ironisch verpacktes Gottesgeschenk. Küsse können aber auch eng mit dem Tod in Verbindung stehen. In Marguerite Duras‘ Roman "Moderato Cantabile" erschießt ein Mann auf ihren Wunsch hin die geliebte Frau und küsst das blutverschmierte Gesicht der Toten. Die Heldin des Romans, die ein langweiliges Leben als Ehefrau eines wohlhabenden Mannes führt, ist erschüttert von diesem Akt der Leidenschaft.
    Mit einem Augenzeugen des Vorfalls führt sie lange Gespräche darüber - in eben jenem Café, in dem der Mord geschah. Aber am Ende spüren die beiden, dass sie trotz aller Faszination nicht selbst zu einer solchen Passion fähig sind, und besiegeln mit einem kühlen Kuss ihren Abschied. "Moderato Cantabile" erschien 1958, und Peter von Matt verweist darauf, dass im gleichen Jahr auch Ingeborg Bachmann das Thema der Unmöglichkeit einer leidenschaftlichen Liebe aufgriff, in ihrem Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan".
    "Auch bei Bachmann wird die radikale Liebe als ein Ereignis dargestellt, das der alltäglichen Ordnung als ein ganz anderes gegenübersteht. Ein Paar, das dahin gelangt, tritt aus der Welt aller Übrigen heraus - im Hörspiel dargestellt als das Immer-höher-Steigen in einem Wolkenkratzer. Die Welt um sie herum kann das nicht akzeptieren. Der 'gute Gott von Manhattan', eine geheimnisvolle Figur, die die alltägliche Ordnung mit Gewalt bewahren will, sprengt das Zimmer im 57. Stockwerk, wo das verliebte Paar haust, in die Luft." (Zitat)
    Eine Liebeserklärung an die Literatur
    Der letzte Fall in Peter von Matts Buch stammt aus Anton Tschechows Erzählung "Der Kuss". Hier geschieht die Umarmung aus einem Missverständnis heraus, und obwohl der Protagonist, ein langweiliger und hässlicher Offizier, das genau weiß, wiegt er sich einen Sommer lang in einer illusionären Verliebtheit. Von Matt weist auch bei dieser Erzählung darauf hin, wie sehr gute Literatur in Szenen denkt und nicht von Thesen ausgeht, auch wenn er den Arzt und Schriftsteller Anton Tschechow als geradezu naturwissenschaftlichen Glücksforscher bezeichnet. Allerdings wisse der auch, wie nahe Glück und Unglück beisammen liegen, und wie schnell der Umschlag vom einen zum andern geschehen kann.
    Peter von Matts Studie über das Glück, von dem Sigmund Freud gesagt hat, dass es im Schöpfungsplan wohl nicht vorgesehen sei, kann bei der Lektüre ihrerseits Glücksgefühle auslösen. Die Textinterpretationen sind so anregend wie unterhaltsam, und im Gesamten ist das Buch eine Liebeserklärung an die Literatur.
    "Sie ist ein jahrtausendealtes Unternehmen der Welterklärung, wie die Philosophie es ist, wie die Wissenschaften es sind und auch die Religionen, die einst sogar alle andern Systeme in sich einbeschlossen haben. Wie jede von diesen dreien treibt die Literatur das große Geschäft auf ihre Weise. Auch sie fragt zwar nach den ersten und letzten Dingen, nach dem, was immer war und immer sein wird, nach den Gesetzen, die alles steuern, was auf dem Planeten geschieht, aber sie nimmt sich das Recht, die größten Prozesse gegebenenfalls an den winzigsten Wesen zu studieren. Das Universale erkennen die Dichter am schärfsten im Belanglosen. Der Tod einer Fliege kann für sie so wichtig sein wie der Trojanische Krieg." (Zitat)
    Der Doyen der Schweizer Literaturwissenschaft gibt hier seinem Lesepublikum - und vor allem seinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen - den eindringlichen Rat auf den Weg, einen Text nicht mit einer festgelegten Methode analytisch "niederzuwalzen", sondern ihm sein Geheimnis zu lassen. Darum zitiert er gleich zwei Mal, nämlich zu Beginn und am Ende seines Buches, die Sätze von Novalis:
    "Es ist seltsam, dass in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist - etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren - und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen." (Zitat)
    Peter von Matt: "Sieben Küsse - Glück und Unglück in der Literatur"
    Hanser Verlag, 288 S., 22 Euro