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Peter Waterhouse: "Die Auswandernden"
Poetische Perspektive auf eines der größten Themen der Gegenwart

In seinem Buch "Die Auswandernden" wirft der österreichische Schriftsteller Peter Waterhouse einen ungewohnten und erkenntnisreichen Blick auf unsere Kultur und unsere Sprache. Das Fremde erscheint dabei als Bereicherung, das auch die Grenzen der eigenen Sprache deutlich macht.

Von Maik Brüggemeyer |
    Der österreichische Schriftsteller Peter Waterhouse. Der Sohn eines britischen Offiziers und einer österreichischen Mutter wurde am 24. März 1956 in Berlin geboren. Peter Waterhouse verfasst Lyrik, Essays, Erzählungen, Theaterstücke, Sachbücher und Romane; daneben übersetzt er aus dem Englischen und Italienischen.
    Der österreichische Schriftsteller Peter Waterhouse. (imago / gezett)
    Die Texte des 1956 in Berlin als Sohn eines britischen Offiziers und einer Österreicherin geborenen Peter Waterhouse sind schwer zu kategorisieren. Der in Wien lebende Autor verbindet Lyrik und Prosa, Fakt und Fiktion, Geschichtsschreibung und Fabulierkunst auf eine eigenwillige Weise. Ganz am Ende seines aktuellen Buches "Die Auswandernden" schlägt er selbst eine Gattungsbezeichnung vor, indem er seinen Ich-Erzähler aus Walter Benjamins erkenntniskritischer Vorrede zum "Ursprung des deutsche Trauerspiels" zitieren lässt:
    "Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik."
    Das Fremde erscheint als Bereicherung
    Waterhouses Traktat beginnt am Einsiedlerplatz der Gemeinde Hundsturm im fünften Wiener Gemeindebezirk. Dort steht eine Tafel, auf der von der Geschichte dieses Ortes berichtet wird. Unter anderem erfährt man, dass der Schuldiener Johan Urban unweit dieses Platzes am 15. Oktober 1936 von einem Unbekannten niedergeschossen wurde. Vor dieser Tafel stehen zwei Menschen. Ein Mann, vermutlich ein Schriftsteller, jedenfalls ein Erzähler, und eine Frau, die Media heißt und mit ihrer achtjährigen Tochter Miranducht aus der Kaukasusregion nach Wien geflohen ist. Beide lesen diese Tafel. Sie, die Fremde, muss ihn, den Heimischen, nach den Bedeutungen einiger Wörter fragen, die sie nicht kennt.
    "Wieviel machte Media neu in dieser Stadt. Wenn sie mich manchmal nach der Bedeutung eines Wortes fragte, wurde das Wort dann nicht neu für mich? Wenn sie nach einem Wort fragte, stand es dann am Anfang. Manchmal fragte sie nicht nach der Bedeutung eines Worts, sondern sprach ein Wort auf eine neue Weise und erneuerte es vielleicht. Sie nannte das Buch von Astrid Lindgren Pippi Langstrumpfhose. Sie schrieb in einem Bewerbungsbrief das Wort Timm. Auf meine Frage, was ein Timm sei, sagte sie, das wisse sie nicht, Timm, sie habe das Wort gehört. Oder Tims vielleicht. Man habe ihr gesagt, sie würde in einem Timm arbeiten. Ein gutes Timm, wenn Menschen gut zueinander passen."
    Durch seine Begleiterin sieht der Mann seine Stadt und seine Sprache mit neuen Augen. Das Fremde erscheint als Bereicherung, als eine ungewohnte und erkenntnisreiche Perspektive auf unsere Kultur und unsere Sprache. Selbst seine geliebte Literatur von Stifter, Dickens, Hebbel und Schiller sieht der Ich-Erzähler in einem neuen Licht. Auch beginnt er die Wörterbücher und Asylantragsformulare der jungen Frau und die Gesetzestexte zum Asylrecht zu lesen. Dabei horcht er auf den Nachhall der Begriffe im Sprachraum und der Literatur, legt neue und versteckte Bedeutungen nah und stößt dabei auch an die Grenzen der deutschen Sprache.
    Die Grenzen deutscher Sprache
    In der Aufführung eines Films über die Zusammenarbeit des Komponisten Arthur Sullivan und des Librettisten William Gilbert, die er in einem Wiener Kino anschaut, fragt ein Sänger wenige Minuten vor der Premiere ihres Stücks "Madame Butterfly" einen der beiden: "Will you grant me just a few minutes of grace?" Und der Erzähler stellt fest, dass das Wort "grace" etwas beschreibt, dass es in seiner Sprache nicht gibt.
    "Aber das Wort beschrieb auf einmal den Kinosaal. Und es beschrieb mich. Es beschrieb die lange Zeit. Und ich erinnerte mich: Es bedeutete ein paar Minuten Zeit. Aber es war nicht zu übersetzen und es bedeutete nicht Zeit, Entlastung, Verzögerung. Es war eines der schönsten Wörter der Welt. ... Als es in Wien zu immer mehr Verhaftungen und amtlichen Befragungen und polizeilichen Überprüfungen der Identität kam, Protokolle von Hand zu Hand weitergereicht wurden und Haftbefehle und 50 Seiten lange Beschlüsse, erinnerte ich mich an das Wort grace: Die vielen, die aus so vielen Ländern nach Österreich und nach Wien und nach Europa flüchteten, sie suchten nicht nach Asyl, sie suchten nicht nach Schutz, sie suchten nicht darum an, vorübergehend oder lange Zeit geduldet zu werden, sie baten um das, worum der Sänger gebeten hatte, auf der Schwelle, vor der Premiere. Sie baten um grace, also nicht um einen Zeitraum, nicht um Immunität, sondern um die Schönheit der Welt. Um Gunst; um Freundschaft; um Liebe; um Wohlwollen. Will you grant me grace? Lebensfreude? Die Schwelle betreten?"
    Die Flucht der jungen Frau mit ihrer Tochter erscheint dem Erzähler schließlich als ein Märchen der Gegenwart, das er mit Goethes, seinen Novellenzyklus "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" beschließenden Kunstmärchen gegenschneidet. Aus dem Erzähler wird ein mythischer Fährmann, ein Übersetzer.
    Es ist sicher kein Zufall, dass es sich auch beim Autor dieses Textes um einen Übersetzer handelt. Peter Waterhouse hat unter anderem Michael Hamburger, Andrea Zanzotto und Allen Ginsberg ins Deutsche übertragen. Die Künstlerin und Berliner Kunstprofessorin Nanne Meyer übersetzt wiederum Waterhouses Prosa in Illustrationen, die den Text unterbrechen. So spiegelt sich die Konstellation des Textes in der Autorenschaft – der wortgewandte und wortwendende Schriftsteller und die sich von seinen Erzählungen ein Bild machende Frau. "Die Auswandernden" ist eine fordernde aber auch sehr lustvolle Lektüre, die eine frische, poetische Perspektive auf eines der größten Themen unserer Gegenwart gibt. Wenn, nach Wittgenstein, die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt sind, hat Peter Waterhouse diese mit "Die Auswandernden" ein wenig durchlässiger gemacht.
    Peter Waterhouse/Nanne Meyer: "Die Auswandernden", Starfruit publications, Fürth 2016, 28 Euro