Plötzlich war er wieder da: 2010 gewann Peter Wawerzinek den Ingeborg-Bachmann-Preis und sein autobiografischer Roman "Rabenliebe" wurde kurz darauf zu einem ungeahnten Erfolg. Eine triumphale Rückkehr auf die literarische Bühne - mit der keiner gerechnet hatte. Wawerzinek war in den 90er-Jahren ein Star der alternativen Ostberliner Literaturszene, einer, der als Stegreifpoet sein Publikum in Wallung brachte. Doch das Leben und die Auftritte des genialen Zampanos erforderten immer größere Mengen Alkohol. Zur Bühne für die grelle Show und den bitteren Abstieg wurden verschiedene Berliner Kneipen, allen voran das Kaffee Burger.
"Und da war noch eine Tanzfläche. Ich habe ja immer dazu geneigt, mich ganz wild tänzerisch, ekstatisch aufzuführen. Und im Suff habe ich immer gedacht, alle gucken nur auf mich, bewundern mich. Ich habe Stühle jongliert und sonst was gemacht, was man halt so macht. Ich bin dann aber immer mehr in delirische, komaartige Endstationen gekommen. Es gab auch Kneipen, wo ich dann durchaus in irgendeinem Winkel übernachtet habe. Also in der Kantine von der Volksbühne, damals waren da die Ratten, auch die Obdachlosen. Da war es immer ganz leicht, auch die ganze Nacht dazubleiben. Da brauchtest du ja nicht mal mehr ans Nachhausefahren oder Nachhausetorkeln denken."
Immer ausufernder wurden die Alkoholexzesse, immer dramatischer die Abstürze. Irgendwann musste Wawerzinek das Schreiben aufgeben. Nichts ging mehr. Die Droge hatte ihn fest im Griff und zerrte ihn weiter in Richtung Abgrund.
"Ich war in der letzten Zeit 2002 bis 2003 bestimmt jeden zweiten Tag voll besoffen. Das heißt also, ich habe da nur in der Bude herumvegetiert. Ich wäre in dieser Stadt ersoffen. Also ich wäre irgendwann erledigt gewesen. Ich wäre gestorben oder auf irgendwelchen Intensivstationen gelandet. Und möchte aber noch nicht fertig sein. Ich möchte noch mal einen Angriff starten. Einfach noch mal allein zeigen, dass ich doch ein Literat bin."
Keine Abstinenz, aber Trinkobergrenzen
Ein Freund, der ihn in der völlig verwahrlosten Bleibe aufstöberte, überredete Peter Wawerzinek dazu, sich für ein Literaturstipendium in Wewelsfleth zu bewerben. Der beinah Gescheiterte hatte doppeltes Glück: Er erhielt die Förderung. Und als er 2003 in dem kleinen Ort in Schleswig-Holstein ankam und ein Zimmer im Alfred-Döblin-Haus bezog, erschien es wie ein Wink des Schicksals, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft eine Heilanstalt für Alkoholiker befand. Drei Monate wollte der Berlin-Flüchtige bleiben, fünf Jahre wurden daraus. Er hat sich nicht zum Abstinenzler kuriert während des langen Aufenthaltes. Ziel der ungewöhnlichen Umerziehung war es lediglich, Trinkobergrenzen zu verankern.
"Ich habe ja jetzt mit der Therapie da in Wewelsfleth, die dann zu dem Buch geführt hat, mir die "Drei-Drinks" angewöhnt, erlernt. Das heißt also drei Gin Tonic, wenn ich abends weg bin, oder höchstens drei kleine Sektgläser. Immer drei, drei, drei. Wähle 333 am Telefon. Das hat sich dann so ergeben mit diesem Therapeuten, mit dem Dr. Gedig, der so ein Hippie-Typ gewesen ist und das Problem von mir gleich erfasst hat. Vollalkoholiker auf ein Maß zurückbringen, das ist schon der Erfolg. Ich will nicht trocken sein, weil ich habe keine Lust, sieben, acht Jahre mitzuzählen, zu sagen: "Soundso lange bin ich schon trocken." Und dann plötzlich durch irgendwelche Vorfälle, die es ganz schnell geben kann, also sagen wir mal ein Trauerfall oder ein literarischer Flop, dass man dann wieder Frust kriegt. Dann reicht ja manchmal ein Grund, dass man dann wieder alle Tore aufmacht. Und das ist ganz schlimm."
"Schluckspecht" heißt das Buch, in dem Peter Wawerzinek jetzt von seiner Alkoholiker-Laufbahn und von der Therapie in Wewelsfleth erzählt. Vieles von dem, was er erlebt und erinnert hat, findet sich wieder: die Auftritte im Kaffee Burger zum Beispiel. Oder die Kneipentouren mit dem Therapeuten, Forschungsaufenthalte gewissermaßen, mit dem Ziel, mehr über das Trinkverhalten des Zöglings Wawerzinek zu erfahren. Sogar nach Irland reist das ungleiche Paar gemeinsam, um den Patienten im Land der Pubs der größtmöglichen Versuchung auszusetzen. So ungewöhnlich die Therapiemethoden anmuten, so eigen ist auch das Buch in seiner ungestümen Mischung aus Schmerz, Trauer und Komik. Im Wechsel zwischen nüchternem Bericht und bildhaften Passagen dem Vorgänger "Rabenliebe" nicht unähnlich. Doch deutlich sind auch die Unterschiede: In dem 2010 erschienenen, ebenfalls autobiografischen Roman hat Wawerzinek mit ungeheurer Wucht und Unmittelbarkeit vom lebenslangen Trauma des von der Mutter verlassenen Kindes erzählt, seine Klage und Anklage hinausgeschrien. In "Schluckspecht" sind Tonlage und Lautstärke hingegen zurückhaltender und leiser. Es ist das abgeklärtere Buch. Wawerzinek zeichnet zwar sämtliche Stationen seiner Alkoholiker-Biografie nach - doch er blickt auf Zustände und Zwänge zurück, aus denen er sich befreit hat. Leicht war allerdings auch das nicht.
"Es ist eine Selbstauskunft, die einiges ausspart, was unerträglich ist. In der Trinkerheilanstalt sind alle allein, da ist Besuch nicht mit eingeplant. Und ich glaube, dass sehr viele neugierig sind. Man weiß nicht, was da abgeht, worum es da geht. Das wollte ich so ein bisschen umreißen. Und mal ein bisschen die Tür aufmachen und sagen, so sieht das aus. So sind die Leute da. So bewegen die sich. So werden die angehalten zu arbeiten, aber auch angehalten, nichts zu tun. Solche Macken entstehen da. Psychosen. Und so ist das, wenn jemand sich kräftig fühlt und scheitert wieder."
Mehr als ein Betroffenheitsbuch
Beschönigt hat er nichts - dafür fallen die Beschreibungen zu drastisch, zuweilen auch zu peinigend aus. Was ausgespart geblieben ist, muss also zum Dunkelsten gehören, das sich überhaupt vorstellen lässt. Anderes wird nur angedeutet - die Qualen des Entzugs etwa. Doch spiegelt sich darin nicht die Angst, das schier Unerträgliche noch einmal im Geiste zu durchleben. Es ist vielmehr eher die Sorge zu langweilen, versichert Wawerzinek.
"Da gibt es genügend Literatur, wie schrecklich das ist und wie man dem Wahnsinn ganz nahe ist. Und das wollte ich nicht noch mal durchdudeln. Das ist natürlich schon heftig, körperlich, seelisch sowieso. Man kann nächtelang nicht schlafen, rennt rum. Da ist nichts los draußen, stockdunkel. Was soll man machen? Und unten in der Küche sind die ganzen schnuckeligen Sachen. Weil der Doktor damit gearbeitet hat. Es ist alles da. Der Doktor hat immer gesagt: "Umgib dich mit so viel Alkohol, wie du willst! Es muss dich dauernd zwacken. Mach es!" Und ich habe es dann auch ein paar Mal gemacht, mehr als ein paar Mal."
Die Mühen, von der Sucht loszukommen, Rückfälle eingeschlossen, machen den Kern des Buches aus. Doch um diesen herum und mit ihm verwoben erzählt Wawerzinek auch von anderem. Für die Zumutung ebenso wie für die Schönheit des Landlebens findet er starke Bilder. Unter anderem in solchen Passagen wird der Anspruch kenntlich, mehr als ein Betroffenheitsbuch, einen therapeutischen Bericht vorzulegen. Und vielleicht ist Peter Wawerzinek als Erzähler immer da am meisten bei sich, wo er von der Geschichte der Sucht am weitesten sich entfernt. Der Autor selbst hat das vor Beginn der Arbeit an dem Buch, das auf keinerlei Tagebuchaufzeichnungen basiert, sondern allein aus der Erinnerung entstanden ist, reflektiert.
"Ich bewege mich auf diesem schmalen Pfad von Nicht-langweilen-wollen. Ich kann Bücher nicht leiden, die immer nur davon handeln, dass jemand Pferde gern hat und Pferde gerne küsst. Und dann sagt: "Ja, der Bauch vom Pferd hat heute Morgen so komisch gezittert." Wo man immer nur an diesem Thema dranbleibt. Das wäre für einen Alkoholroman nicht gut gewesen. Ich wollte immer noch was nebenbei, wie es schmeckt, wie es sich anfühlt, wie die Landschaft aussieht. So wie man durch den Garten geht. Man will zum Spargelfeld hin, und dann guckt man und sagt: "Och, der Salat, der steht aber hoch. Und die Gurken, och, die verstecken sich ja so." Man weiß, das muss nicht sein, man muss nicht über die Gurken reden, wenn man auf dem Weg zum Spargelfeld ist. Aber auf dem Weg zu dem zu sein, und dann noch etwas anders mit reinzupacken, das finde ich interessanter."
In "Schluckspecht" hineingepackt hat der in Heimen aufgewachsene Peter Wawerzinek wohl auch ein Stück Wunschbiografie. Das chronologisch erzählte Buch beginnt mit der Kindheit des Ich-Erzählers unter der Obhut eines skurrilen Paares: Da ist Onkelonkel, ein entlassener Werftarbeiter und veritabler Zecher. Aber vor allem gibt es Tante Luci. Die energische Hausfrau kümmert sich voller Zuneigung und Hingabe um ihren Zögling, dessen Schauspielereltern nichts von ihm wissen wollen. Dem Jungen selbst gelingt es so immer besser, eine tief verankerte Sehnsucht zu betäuben.
"Ich lege den Vater auf Eis. Ich lege die Mutter auf Eis. Mein Kopf ist ein Kühlfach. In ihm gefriert der Wunsch auf Vollständigkeit und Familie", gibt der Erzähler Bescheid. "Man kümmert sich nicht um den Mangel, wenn der Ersatz so gut ist wie Tante Luci und Onkelonkel."
Ein traurig-komisches Buch
Die Liebe der Ziehmutter ist eine Konstante im Fortgang des Romans. Spürbar ist sie auch dann noch, als der Romanheld das Haus seiner Kindheit mit dem Keller voller Selbstgebranntem längst verlassen hat und sämtliche Klassen einer Schule des Trinkens durchläuft - vom pubertären Wettsäufer bis hin zum Vollprofi. Während Onkelonkel - selbst früh vom Alkohol gezeichnet - zu Beginn des Romans stirbt, ist Tante Luci die wärmende Kraft im Buch. Sie zerrt den namenlosen Ich-Erzähler aus seinem Alkoholdelirium und boxt ihn in die Heilanstalt. Ulenhof heißt diese im Roman, Eulenhof in der Realität. Und Luci ist es auch, die später selbst als heimliche Trinkerin enttarnt wird und im Ulenhof landet. Doch Wawerzinek schildert diese Kur nicht als weiteres Martyrium. Im Gegenteil: Wie Tante Luci ihre Sucht bezwingt, das hat etwas Schwereloses und Lässiges. Durch tägliches Radsporttraining, bei dem sie noch jeden anfänglichen Begleiter hinter sich lässt, bringt sich die alte Dame wieder in Form. Mit dem - trotz eines tragischen Unfalls - lebensfrohen Finish des Romans hat Wawerzinek eine Vorgabe an sich selbst eingelöst.
"Ich möchte mit jedem Buch basierend auf dem, was ich schon gemacht habe, leichter und heiterer werden."
Seiner Lebensgeschichte entledigen kann sich Peter Wawerzinek nicht: Er bleibt derjenige, der als Kleinkind von der Mutter verlassen wurde und der sich später, um diesen Schmerz zu betäuben, fast zu Tode gesoffen hat. Doch ist es ihm gelungen, beide Erfahrungen in Literatur zu verwandeln. Und mit "Schluckspecht" hat er nun ein traurig-komisches Buch geschrieben.
Peter Wawerzinek: Schluckspecht, Roman. Verlag Galiani Berlin 2014, 464 Seiten, 19,99 Euro.