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Peter Wyden: "Stella Goldschlag"
Die Wahrheit über Stella

Takis Würgers umstrittener Roman "Stella" hat mit seiner Grundlage, dem autobiografischen Sachbuch Peter Wydens, nicht viel gemein. Dieses wurde neu aufgelegt. Wyden zeichnet dort auf empathische Weise den Lebensweg der jüdischen Verräterin nach, verurteilt und entschuldigt sie dabei aber nicht.

Von Christoph Schröder |
Der 1998 gestorbene Journalist und Autor Peter Wyden und sein neu aufgelegtes Buch "Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte"
46 Jahre, so schreibt Wyden, habe er an seinem „Stella“-Buch gearbeitet. Wyden hat die Prozesse verfolgt und die Akten studiert (Foto / Cover: Steidl Verlag)
Peter Wyden, der zu diesem Zeitpunkt noch Peter Weidenreich heißt, ist elf Jahre alt, als er Stella Goldschlag kennenlernt. Die beiden besuchen die gleiche Schule in Berlin. Die Pädagogin Leonore Goldschmidt hatte sie im Jahr 1935 gegründet, als die Anfeindungen und staatlichen Repressionen gegenüber jüdischen Schülern an öffentlichen Schulen ein bereits schwer erträgliches Maß angenommen hatten. Die Goldschmidt-Schule war, zumindest für einen kurzen Zeitraum, ein Refugium, in dem sich der Alltag noch einigermaßen unbehelligt abspielte.
Schon dort, als gerade einmal Zwölfjährige, war Stella Goldschlag nach den Erinnerungen Peter Wydens eine Ausnahmeerscheinung. Ein strahlend schönes, großes blondes Mädchen mit ungeheurem Selbstbewusstsein, in das alle Jungen verliebt waren. Auch Peter selbst.
Stella war unerschrocken und furchtlos gegenüber Autoritäten. Vor allem aber umgab sie eine Aura des sexuell Lasziven, die darum so anziehend war, weil sie Fantasien zum Klingen brachte und Stella zur Projektionsfläche werden ließ. Aber da war noch etwas anderes: Eine Wut auf ihre Herkunft.
Stella fand es abscheulich, Jüdin zu sein
Die Privatschule konnten sich ihre Eltern nur mit Hilfe eines Stipendiums leisten. Stella fühlte sich, wie viele assimilierte Juden in dieser Epoche, als Deutsche. Von Anfang an charakterisiert Wyden Stella Goldschlag auch als paradigmatische Figur einer jüdischen Identitätskrise, die Theodor Lessing bereits 1930 als "jüdischen Selbsthass" beschrieben hatte:
"Stella fand es abscheulich, Jüdin zu sein. Ihr "arisches Aussehen" hatte ihre alte Schule nicht daran gehindert, sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auszuschließen. Die anderen jüdischen Jugendlichen wussten, dass das ein Bestandteil des Hitler’schen Maßnahmenkatalogs war. Stella betrachtete es als eine Ungerechtigkeit und persönliche Kränkung. Sie wollte mehr sein als eine Jüdin. Sie wollte ein Star sein, kein Fall für die Armenhilfe, und versuchte ihre Blondheit gezielt einzusetzen, um ihrer Erblast zu entrinnen."
Das Beeindruckende an Peter Wydens Buch ist seine Fähigkeit, Einzelschicksale als solche zu erzählen und zu rekonstruieren und trotzdem die historischen Verläufe und die politischen Kontexte als Ganzes im Blick zu behalten. Dabei beweist er sowohl bei der Beschreibung von Opfern, aber auch in der Darstellung der Täter ein hohes Maß an Differenzierungs- und Einfühlungsvermögen.
Opfer, Täterin, oder beides?
Ein Urteil darüber, was Stella Goldschlag war – Opfer, Täterin, oder beides – erlaubt Wyden sich bis zum Schluss nicht. Das hat ihm nach Erscheinen des Buchs vor allem in den USA erbitterte Vorwürfe von Holocaust-Überlebenden eingebracht. Wyden zeichnet Stella Goldschlags Lebensweg nach. Er sucht nicht nach Entschuldigungen, aber nach Erklärungen dafür, dass eine junge Jüdin im Dienst der Gestapo mutmaßlich hunderte von Juden verraten und mithin in den fast sicheren Tod geschickt hat.
Stella Goldschlags Vater war ein ambitionierter, aber erfolgloser Komponist und Musiker. Detailreich und anschaulich schildert Wyden den um 1937, spätestens aber nach der Reichspogromnacht einsetzenden Kampf um Ausreisevisa. Dabei waren immer Geld, Beziehungen und Privilegien im Spiel. Peter Wyden reiste 1937 mit seinen Eltern in die USA aus. Die Familie Goldschlag bemühte sich vergeblich um die Ausreise. Ein Umstand, der Stella Goldschlag in den Prozessen, die ihr nach dem Krieg gemacht wurden, zu der Aussage trieb, der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt habe sie zur Nazi-Kollaborateurin gemacht.
1943 taucht Stella mit ihren Eltern in Berlin unter und lebt fortan als ein so genanntes "U-Boot" versteckt an unterschiedlichen Orten. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wird sie schließlich festgenommen und im berüchtigten Keller des Gestapo-Hauptquartiers in der Berliner Burgstraße gefoltert. Ihre Eltern werden verhaftet und zunächst ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht.
Angst vor weiterer Folter
Nun hat man ein Druckmittel gegen Stella in der Hand. Sie wird umgedreht. Ihre Motive für ihre Tätigkeit als U-Boot-Jägerin beschreibt Peter Wyden im Rückblick folgendermaßen:
"Angst um das Leben ihrer Eltern. Angst vor einer eigenen möglichen Deportation. Angst vor weiteren Foltern im Keller. Angst vor einem noch immer möglichen Sieg Hitlers. Verlust ihrer Vorkriegsidentität. Entwertung ihrer gewohnten Rüstung – ihrer Schönheit – durch den Primitivismus der Gestapo. Und die Nachahmung des Vorbilds, das sie in ihrer neuen Gruppe von Greiferkollegen täglich sah."
Stellas erster Ehemann Manfred Kübler wurde bereits 1943 nach Auschwitz gebracht und starb dort wenige Wochen später. Nun tritt Stella gemeinsam mit ihrem Partner und späteren Ehemann Rolf Isaaksohn als Greiferin auf. Die beiden werden zu einem gefürchteten Paar: Zwei ausgesprochen attraktive und elegante junge Menschen; unterwegs auf den Straßen von Berlin, um versteckte Juden aufzuspüren und zu verraten. Die Perfidie, die die beiden dabei an den Tag legen, ist während der Lektüre schwer zu ertragen. Bevorzugt suchen sie die ihnen bestens bekannten Treffpunkte und Rückzugsorte der U-Boote auf, um dort entweder selbst Verhaftungen vorzunehmen oder die Gestapo zu alarmieren.
Die Bezeichnung "blondes Gift" oder auch "blondes Gespenst", mit der Stella Goldschlag häufig belegt wurde, weist auf eine geradezu mythische Aura hin, die ihr zugeschrieben wurde. Wyden verfällt dieser Aura nicht, aber er reproduziert sie auf beklemmende Weise. Inwieweit Stella Goldschlag Handlungsfreiheit hatte und inwieweit sie letztendlich eine von verschiedenen Interessen fremdbestimmte, von der Folter gebrochene Marionette war, lässt Wyden offen.
Abstoßende Enthüllungen
Wyden selbst studiert in den USA und kommt Ende 1945 als Angehöriger einer in psychologischer Kriegsführung geschulten Einsatztruppe nach Berlin, um am Aufbau eines neuen Zeitungswesens mitzuarbeiten. Hier erfährt er vom Wirken der so genannten Greifer und realisiert zunächst mit Unglauben, dann mit Schrecken, dass sein früherer Jugendschwarm Stella es zu trauriger Berühmtheit gebracht hat:
"Die Enthüllungen über Stella empfand ich als ebenso abstoßend wie die Fotos von den Leichen in den Lagern. Sie betrafen mich auch persönlich. Ich fühlte mich von ihren Taten besudelt. Plötzlich war es mir peinlich, dass ich mit Stella in einer Klasse gesessen hatte, so als hätte ich mit einem Frauenschänder zu Abend gespeist."
46 Jahre, so schreibt Wyden, habe er an seinem "Stella"-Buch gearbeitet. Stella Goldschlag, die seit 1943 den Nachnamen Kübler trägt, wird zunächst von einem russischen Militärgericht zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt; später nochmals von einem westdeutschen Gericht zu einer Gefängnisstrafe, die aber durch das Arbeitslager als verbüßt angesehen wurde. Wyden hat die Prozesse verfolgt und die Akten studiert. Gerade im zweiten Prozess, der ihr 1957 gemacht wird, erscheint ihm Stella als die gewohnt glänzende Schauspielerin, die jede Schuld von sich auf ihren Partner Isaaksohn abwälzt und sich selbst als NS-Opfer inszeniert.
Der psychiatrische Gutachter charakterisiert Stella Goldschlag als schizoide Psychopathin mit einem Hang zu Spätentwicklung, Theatralik und Egozentrik. Und auch der Gutachter kann sich augenscheinlich der Anziehungskraft der Stella Goldschlag nicht entziehen, wie Wyden bemerkt:
"Er war offensichtlich fasziniert, als er im Gerichtssaal ihren Charakter mit einer 'römischen Villa im Sommer' verglich: fest verschlossen, mit verhängten Fenstern. Einen Blick hineinzuwerfen sei unmöglich. Innen möge Totenstille herrschen – oder ein rauschendes Fest stattfinden; niemand könne das wissen."
Jalousien wie Gitter
Stella Goldschlag heiratete nach dem Krieg noch drei weitere Male, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1984 von Berlin nach Freiburg zog. Dort spürt Peter Wyden sie auf und besucht sie insgesamt drei Mal. Er begegnet einer Frau, die in kompletter Abgeschiedenheit ein finanziell abgesichertes, ansonsten trostloses Dasein führt. Die aber nach wie vor wie auf Knopfdruck ihre Selbstimprägnierungsmechanismen aktivieren kann. Selbst als Wyden sie mit Akten, Zeugenaussagen und Beweisen im Hinblick auf ihre Greifertätigkeit konfrontiert, wischt sie diese leichthin vom Tisch. Auf Wyden macht das Szenario insgesamt einen eher gespenstischen Eindruck:
"Noch mehr als bei meinen früheren Besuchen kam mir das kleine, abgedunkelte Zimmer wie eine Zelle vor und die Jalousien wie Gitter. Hier wurde ein lebenslängliches Urteil abgebüßt."
Peter Wyden hat nicht allein ein Buch über Stella Goldschlag geschrieben. Er hat in empathischer Weise Einzelschicksale und moralische Zwangslagen zum Gesamtbild einer heillosen Epoche verdichtet. Stella Goldschlag hat 1994 ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Wyden ist 1998 in den USA gestorben. Es verbietet sich, Peter Wydens autobiografisches Sachbuch mit Takis Würgers Roman zu vergleichen.
Die Frage, die sich angesichts der Neuauflage von Wydens Buch stellt, ist nicht: Darf man diesen Stoff zu einem Roman machen? Diese Frage hat im Übrigen auch niemand je ernsthaft gestellt. Die Frage ist vielmehr: Wie frivol und wie blind für Ambivalenzen, wie desinteressiert an Differenzierung muss ein Autor sein, um aus einer derart fabelhaften Vorlage wie Wydens Buch einen derart unterkomplexen und unanschaulichen Roman zu fabrizieren?
Peter Wyden: "Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte"
Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Strasmann.
Steidl Verlag, Göttingen. 384 Seiten, 20 Euro