Michael Böddeker: Jedes Kind muss lesen lernen – klingt nach einer sinnvollen Forderung und klingt auch erst mal so, als wären damit andere Länder gemeint als Deutschland, nämlich Länder mit einer höheren Rate von Analphabeten. Tatsächlich aber geht es dabei um deutsche Kinder und Jugendliche, denn richtig lesen können längst nicht alle. Ein Fünftel der Zehnjährigen hat damit Probleme, und funktionale Analphabeten gibt es auch unter den Erwachsenen jede Menge. Prominente Vertreter aus Bildung, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft möchten das ändern. Sie haben eine Petition gestartet, und die trägt genau diesen Titel: "Jedes Kind muss lesen lernen". Zu den ersten Unterzeichnern gehören Ulla Hahn und Ulrich Wickert, und auch die Kinderbuchautorin Kirsten Boie. Sie hat Bücher geschrieben wie "Der kleine Ritter Trenk" und ist jetzt am Telefon. Guten Tag!
Kirsten Boie: Hallo!
"Das sind 18,9 Prozent"
Böddeker: Was hat denn für Sie den Anstoß gegeben, diese Petition zu starten?
Boie: Die dramatische Zahl von Zehnjährigen, die in Deutschland nicht so lesen können, dass sie verstehen, was sie lesen. Das sind 18,9 Prozent. Das heißt fast ein Fünftel, und die werden es in den weiterführenden Schulen auch nicht mehr lernen. Das wissen wir aus der späteren 15-Jährigen-Studie PISA. Das heißt, wir können davon ausgehen, dass dies 18,9 Prozent auch als Erwachsene nicht richtig lesen können, und was bedeutet das für diese Menschen, und was bedeutet das für diese Gesellschaft. Ich finde das sehr dramatisch, die Folgen, es ist aber leider so ein leises Thema, das vollkommen untergeht in den Medien und offenbar auch in der Politik. Gesprochen wird da über andere Themen, und deshalb wollten wir versuchen, die Bildungspolitiker stärker zu motivieren, sich mit diesem Thema zu befassen und daran was zu ändern.
"Die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind sehr bescheiden"
Böddeker: Und deshalb haben Sie diese Petition gestartet. Welche Maßnahmen schlagen Sie denn vor, was könnte man denn machen, damit Kinder besser lesen lernen?
Boie: Also die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind sehr bescheiden, weil wir uns beschränken auf die Grundschule, einfach aus dem Grund, das ist der einzige Ort, an dem wir alle Kinder haben. Es gibt ja keine Kita-Pflicht bei uns zum Beispiel. Das heißt, vorher können wir relativ wenig machen, und wir schlagen deshalb so Maßnahmen vor, die sich auch aus dieser internationalen Studie ergeben, wie Förderanspruch für jedes Kind, das Förderung benötigt, Einstellung von so viel Grundschullehrern, dass das möglich wird, Schaffung von Studienplätzen für Grundschullehrer – die sind ja in den letzten Jahren abgebaut worden, und jetzt fehlt eine gigantische Zahl von Grundschullehrern –, Fortbildung der Lehrer, und natürlich Schaffung auch von Bibliotheken für die Grundschulen. Schulbüchereien sind ja bei uns auch nicht so weit vertreten wie das sein sollte, und ein Wunsch wäre im Grunde, dass dann die Bildungspolitiker nicht nur sagen, oh ja, Mensch, da gucken wir, sondern vielleicht sogar sagen, das reicht ja bei Weitem nicht, wir müssen auch den gesamten vorschulischen Bereich miteinbeziehen. Aber das wollten wir zunächst nicht, weil eben der einzige Ort, an dem wir alle Kinder bisher haben, die Grundschule ist.
"Wir haben so viele Kinder, die in die Schule kommen ohne die nötige sprachliche Kompetenz"
Böddeker: Sie haben es gerade schon angedeutet, wir haben gerade einen riesigen Lehrermangel. Bisher hat die Bildungspolitik, so wie sie ist, dazu geführt, dass die Lage suboptimal ist, dass eben so viele Zehnjährige nicht lesen können. Was gibt Ihnen denn Anlass zum Optimismus, dass das diesmal klappen könnte, dass Sie was bewegen können?
Boie: Also ich habe zumindest die Hoffnung. Wie groß mein Optimismus ist, das kann ich gar nicht sagen, aber ich denke, man muss es zumindest versuchen, weil wir uns ja nicht hinstellen können und sagen können, ja, gut, wir haben diese 18,9 Prozent funktionale Analphabeten unter den Zehnjährigen, aber die Bedingungen sind ja auch so schwierig, wir haben so viele Kinder, die in die Schule kommen ohne die nötige sprachliche Kompetenz, ohne den nötigen Wortschatz und so weiter, und so weiter. Wir können uns ja darauf nicht ausruhen, sondern wir müssten vielleicht zunächst mal gucken, was hat in einzelnen Bundesländern denn schon funktioniert. Da gibt es ja Beispiele: In Hamburg zum Beispiel müssen alle Kinder ein Vorschuljahr absolvieren, müssen alle Kinder eine Sprachförderung durchlaufen, bevor sie in die Schule kommen, wenn sie das benötigen, und Hamburg liegt bei den Kindern, die mit zehn noch nicht sinnentnehmend lesen können, um elf Prozent unter Berlin, das ja eine vergleichbare Population hat. Wenn wir all diese verschiedenen Beispiele zusammenfassen würden, wenn die Kulturministerkonferenz dieses Thema in Angriff nähme und wieder Standards setzen würde, wenn vielleicht, so wie es zu einem Digitalpakt gekommen ist, es auch zu einem Lesepakt käme, bei denen die Bundesregierung die Bundesländer unterstützen würde, die notwendigen Maßnahmen zu unternehmen, dann könnte vielleicht was passieren.
Böddeker: Ab heute sammeln Sie jetzt erst mal im Netz Unterschriften dafür. Wie soll es danach weitergehen mit der Petition?
Boie: Wir wollen die Petition dann an die zuständigen Länderministerien, an die Bundesministerin für Bildung und an die Kultusministerkonferenz übergeben und hoffen, dass es zu einem Gespräch kommt.
Böddeker: Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat die Petition "Jedes Kind muss lesen lernen" gestartet auf www.change.org. Mit ihr haben wir über die Gründe gesprochen und über mögliche Maßnahmen. Vielen Dank für das Interview!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.