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Petra Gerster, Christian Nürnberger: Stark für das Leben. Wege aus dem Erziehungsnotstand“, Rowohlt-Berlin, 271 S., EUR 19,90 und Albert Wunsch: Abschied von der Spaßpädagogik. Für einen Kurswechsel i

Mit ihrem Erstlingswerk Der Erziehungsnotstand hatte es das Journalistenehepaar Petra Gerster und Christian Nürnberger Ende 2001 bis in die Bestsellerlisten geschafft. Von diesem Erfolg und vielen gutbesuchten Lesungen beflügelt, hat das Autorenduo jetzt nachgelegt. In ihrem neuen Buch Stark für das Leben. Wege aus dem Erziehungsnotstand wollen sie ganz ausdrücklich den Eltern zeigen, wie sie "ihren Kindern trotz aller Widrigkeiten zu einem guten Start ins Leben verhelfen" können.

Kostas Petropulos | 30.06.2003
    Diesem Anspruch genügen die beiden pädagogischen Laien leider nicht. Zwar schreiben sie durchaus unterhaltsam und streckenweise auch informativ, aber dem Leser bleibt kaum verborgen, dass es sich hier um einen publizistischen Schnellschuss handelt.

    Dies ist unübersehbar, wenn Petra Gerster und Christian Nürnberger immer wieder wenig durchdachte, zum Teil offenkundig vollkommen widersprüchliche Positionen vertreten. Das zeigt sich exemplarisch bei einem zentralen Thema ihres Buches - nämlich bei der familien- und frauenpolitisch immer noch höchst umstrittenen Frage, wie viel Fremdbetreuung für ihre Kinder Eltern durch Kinderkrippen und Ganztagsschulen in Anspruch nehmen sollten. Wie sehr dieses Thema den Eltern, genauer den Frauen, auf den Nägeln brennt, hat das Journalistenduo auf seinen vielen Lesungen erlebt und ihrem neuen Buch gut dokumentiert. Auch das Erziehungsteam Gerster/Nürnberger hat dazu eine dezidierte Meinung. Nur welche? So erklären sie einerseits, dass Erziehung zuallererst in der Familie stattfinde:

    Im Nest der Familie machen die Jungen ihre ersten Übungen im Fach Leben. Dort ahmen sie nach, was ihnen vorgelebt wird. Dort erhält das Leben der Kinder eine erste Struktur, einen Rhythmus und eine Ordnung. Dort erfahren sie von Anfang an: Leben lernen heißt unterscheiden lernen.

    Eltern müssen begreifen, "dass sie die erste Instanz für ihre Kinder sind und bleiben". 5o Seiten später findet der Leser zu seiner Verblüffung dann aber folgende Aussage:

    Viele Eltern, wahrscheinlich die meisten, bilden sich ein, nur sie selbst seien das optimale Betreuungspersonal für ihr Kind. (...) Was spräche (...) dagegen, die Erziehung des eigenen Kindes Kompetenteren zu überlassen?" (...) Unabhängig von solchen Überlegungen meinen wir, dass Krippen, Ganztags-Kindergärten und -schulen, selbst nur mäßig gut geführte, wahrscheinlich nie nur eine bloße Notlösung sind, sondern immer auch eine Chance für Kinder."

    Es sind indes nicht nur die teilweise offenkundigen Widersprüche in der Argumentation des schreibenden Ehepaares, die leise Zweifel am Buch aufkommen lassen. Richtig ärgerlich ist die unübersehbare Tendenz, den Umfang des Buches verkaufsgerecht anwachsen zu lassen - etwa durch seitenlange Wiedergabe wissenschaftlicher Debatten oder ausufernde Inhaltsangaben bekannter Thomas Mann-Romane.

    Kurz: Eltern, die Hilfen bei der Bewältigung ihres Erziehungsalltages suchen, dürften bei der Lektüre des Buches von Petra Gerster und Christian Nürnberger kaum auf ihre Kosten kommen.

    Hierfür empfiehlt sich eher der Griff zum neuen Buch des Erziehungswissenschaftlers und Praktikers Albert Wunsch. Bereits vor drei Jahren hatte er mit seiner Streitschrift
    Die Verwöhnungsfalle eine bundesweite Debatte über die Erziehung zu mehr Eigenverantwortung provoziert. Nun hat er eine Art Fortsetzung geschrieben, die auch dies- mal nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt. Abschied von der Spaßpädagogik. Für einen Kurswechsel in der Erziehung lautet der Titel. Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen steht die Diagnose einer tiefen gesellschaftlichen Fehlentwicklung:

    Ob in den Bereichen Freundschaft und Partnerschaft, am Arbeitsplatz oder im Ver-hältnis zum Staat: Vorteilssuche zulasten andererer steht hoch im Kurs. Früher hieß es: ‚Ohne Fleiß kein Preis’. Die Losung der Spaßgesellschaft lautete dagegen: ‚Arbeit und Schweiß um keinen Preis!’ Je mehr Menschen einer persönlichen Spaßoptimierung oberste Priorität einräumen und das Leben ausschließlich an den eigenen Vorlieben ausrichten, desto geringer sind längerfristig die Überlebenschancen einer Gesellschaft.

    Spaß als Lebensziel - ohne eigene Anstrengungen und stets auf Kosten anderer - ist für Albert Wunsch eine Lebenseinstellung, die nicht nur viele Erwachsene, sondern vor allem immer mehr Jugendliche und Kinder prägt. Eine Anspruchsmentalität, kombiniert mit eige-ner Leistungsverweigerung, sei zwar ideal, um in unserer zu allen Diensten bereiten Konsum- und Freizeitgesellschaft, die Kassen der Wirtschaft klingeln zu lassen; zugleich sei aber diese Haltung das sicherste Mittel, um den Einzelnen selbst wie unser Gemein-wesen als Ganzes und unsere natürliche Umwelt zu zerstören. Der Blick auf die Drogen- oder Scheidungsstatistik, aber auch das Ausmaß an Schwarzarbeit oder an Steuerhinter-ziehung sprechen durchaus für diese Fundamentalkritik.

    An dieser dramatischen Fehlenwicklung wirken für den Pädagogen aus Neuss praktisch alle mit: die Wirtschaft, der Staat, die Verbände, die Schule, der Kindergarten - und, nicht zu vergessen: die Eltern. Bislang würden viele von ihnen ihrem Erziehungsauftrag nicht gerecht: die Kinder von Anfang an zu einem eigenständigen Leben zu ermutigen und zu befähigen. Den notwendigen "Kurswechsel in der Erziehung" begreift er dementsprechend als Aufgabe, an der sich alle zu beteiligen hätten. Im Mittelpunkt seines Reformansatzes stehen allerdings ganz klar die Eltern:

    Kinder brauchen bis ins Erwachsensein Partner, mit denen sie viel Zeit verbringen, welche ihnen Zugänge in neue Lebensräume erschließen, die verlässlich sind, nicht bei Ehekrisen abhanden kommen, mit denen Auseinandersetzung und Streit möglich ist, ohne in die Missachtung zu geraten, kurz: Sie brauchen Väter und Mütter, die sie lieben!

    Konsequenterweise erteilt der Leiter des katholischen Jugendamtes in Neuss der populären Forderung nach mehr frühzeitiger und umfassender Ganztagsbetreuung für Kinder eine glasklare Absage.

    Damit Eltern ihrer Erziehungspflicht nachkommen könnten, müsse die Gesellschaft indes die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Natürlich gehe es dabei um eine familiengerechte Gestaltung der Erwebsarbeitswelt. Mindestens genauso wichtig sei jedoch "eine neue Bewertung innerhäusiger und außerhäusiger Arbeit von Vätern und Müttern":

    (...) durch was wird Arbeit zum Beruf? (...) im Hort Kinder erziehen, im Altenheim kranke Menschen pflegen, dies sind eindeutig Berufstätigkeiten. Werden im eigenen Haushalt Zimmer gesäubert, schmackhafte Malzeiten aufgetischt, Kinder erzogen, die Großmutter gepflegt, auch eindeutig, keine Berufstätigkeit. (...) Auch wenn häufig die ach so erfüllende Berufstätigkeit im Gegensatz zur Hausarbeit unterstrichen wird, nicht die Aufgabenstellung, sondern Gehalts-Überweisungen oder Honorar-Rechnungen entscheiden, ob man/frau berufstätig ist.

    Deshalb sei es nur leistungsgerecht, Eltern ein staatliches ‚Erziehungs-Familiengehalt’ zu bezahlen. Damit könnten sie ohne wirtschaftlichen Druck frei wählen, ob sie ihre Erziehungsaufgabe selbst wahrnehmen oder auf eigene Kosten an andere übertragen. Darüber hinaus müssten sie darin unterstützt werden, ihrer Erziehungsaufgabe möglichst qualifiziert auszuüben. Etwa, in dem junge Paare nicht nur Geburtsvorbereitungs-, sondern genauso Erziehungskurse besuchen. Dort könnten sie zum Beispiel ein ‚Erziehungszertifikat’ erwerben, das zum Bezug des neuen ‚Familiengehaltes’ berechtige.

    Die Unmissverständlichkeit, mit der Albert Wunsch seine Vorstellungen über eine gelingende Kindererziehung nicht nur hier, sondern in seinem gesamten Buch formuliert, reizen spontan zum Widerspruch. Forderungen nach einer Erziehungspflicht der Eltern, einer Lernpflicht für Kinder, das Beharren auf Leistung als Grundlage des Erfolges für den Einzelnen und die Gesellschaft, das Einfordern von elterlicher Autorität klingen im ersten Augenblick nach einer rückwärtsgewandten ‚Rohrstockpädagogik’.

    Doch dieser Eindruck täuscht. Der pädogische Ansatz des Praktikers Albert Wunsch ist zwar wertorientiert und fordernd, aber nicht undifferenziert. So ist für ihn einerseits Erziehung ‚Lebenshilfe für Kinder’, weshalb Eltern und Lehrer sich nicht scheuen sollen, Orien-tierung vorzugeben; andererseits habe ‚Erziehung die Selbsterziehung des Erziehers zur Voraussetzung’. Wie dies im anspruchsvollen Erziehungsalltag von heute aussehen könnte, dafür liefert ihnen der Pädagoge aus Neuss in seinem Buch viele bedenkenswerte Ratschläge.