Die Weltbevölkerung wächst und die Temperaturen steigen. Bei der Suche nach neuen Nutzpflanzen könnte eine Idee helfen, die schon einmal Konjunktur hatte. Allerdings fehlte damals noch das wissenschaftliche Fundament.
Können Hitze oder Frost eine Pflanze so verändern, dass sie widerstandsfähiger wird? Und könnten Pflanzen diese erworbene Robustheit an die nächste Generation weitergeben – ohne ihr Erbmaterial zu verändern? Das verspricht die Epigenetik.
Die Umwelt prägt das Leben. Nicht nur über Zufall und Auswahl - Mutation und Selektion, sondern unmittelbar. In der frühen Sowjetunion der 1920er- und 1930er-Jahre erlebte die Vorstellung, man könne Pflanzen durch Training anpassen, eine Blüte. Anders als die Genetiker im Westen setzte der junge sozialistische Staat auf Umweltfaktoren statt auf Erbfaktoren. In der Erziehung wie in der Pflanzenzüchtung.
Lernen Pflanzen etwas aus ihren Wachstumsbedingungen?
Anpassung an die Umwelt, dann Vererbung der erworbenen Eigenschaften. Das erforscht auch die moderne Epigenetik. Einen der wichtigsten Vertreter, Ueli Grossniklaus, treffe ich in Zürich mitten im Botanischen Garten. Gemeinsam schlendern wir in ein Gewächshaus. Zielsicher steuert der Professor von der Universität Zürich auf einige nur 20 Zentimeter große, unscheinbare Pflanzen zu - mit winzigen Blüten.
"Hier sehen wir Ackerschmalwand-Pflanzen, die wir über viele Generationen selektioniert haben." Die gleichen Pflanzen erforschen zahlreiche Wissenschaftler, vor allem Genetiker. Aber als Epigenetiker muss Ueli Großniklaus bei der Anzucht besonders auf die Umweltbedingungen achten.
"Wir können natürlich die Temperatur ändern. Das sind stark kontrollierte Wachstumskammern. Wir können die Lichteinstrahlung ändern. Wir können relativ einfach den Salzgehalt im Wasser, den Nährstoffgehalt im Boden, das können wir alles beeinflussen."
Dass Pflanzen sich an ihre Umwelt anpassen, ist das Normalste von der Welt. Epigenetiker aber wollen wissen: Lernen die Pflanzen etwas aus den Bedingungen, unter denen sie wachsen? "Und dann in der nächsten Generation schauen wir, ob irgendwelche epigenetischen Veränderungen angereichert wurden, und dann auch bestehen bleiben zwei Generationen später."
Genetik als "Irrweg bürgerlicher Wissenschaft"
Gibt es also Vererbung, direkt geprägt durch Umweltfaktoren? Ein umstrittener russischer Agrar-Ingenieur hätte diese Frage in den 1930er-Jahren ohne zu zögern mit "Ja!" beantwortet.
Vererbung, Chromosomen, Gene, Mendel, Darwin. Alles falsch oder zumindest irrelevant. Die Genetik als Irrweg bürgerlicher Wissenschaft. Keiner verbreitete den Gegenentwurf so radikal und überzeugend wie Trofim Denissowitsch Lyssenko. Für ihn stand fest: Pflanzen können lernen, sich an eine neue Umwelt anzupassen, und diese Information weitervererben. In der Sowjetunion wurde Lyssenko lange Zeit verehrt, in der Wissenschaft hingegen wird er bis heute verachtet. Grossniklaus:
"Lyssenkoismus ist für mich – und ich bringe das auch in meinen Vorlesungen – das Paradebeispiel für absolut schlechte Wissenschaft. Und für die Vereinnahmung von Wissenschaft durch das politische System."
Lyssenkos Lehren passten nicht zu den Erkenntnissen der Genetik. Demnach wird die Erbinformation bei Mensch, Tier und Pflanze im Zellkern gespeichert. Dort bestimmen die Gene, welche Merkmale vererbt werden. In den Genen – im genetischen Code des Erbmoleküls DNA - kommt es immer wieder zufällig zu Mutationen. Nur was dem Organismus hilft, in seiner Umwelt zu bestehen, setzt sich in der Population durch. So funktioniert Evolution – und die dauert.
Hatte der Außenseiter doch den richtigen Riecher?
Einen direkten Einfluss auf die Vererbung haben Umweltfaktoren nicht. Normalerweise. Aber es gibt Ausnahmen. Da ist etwas in lebenden Zellen, das sehr wohl auf die Umwelt reagiert. Etwas, das die Gene steuert. Verantwortlich sind chemische Markierungen, die bei der Zellteilung weitergegeben werden – innerhalb einer Pflanze – und manchmal auch von Generation zu Generation. Das ist die Epigenetik. In den letzten 20 Jahren wurde sie Teil der seriösen Wissenschaft.
Umweltfaktoren und Vererbung in einem Atemzug. Das klingt ähnlich wie bei Lyssenko. Hatte der Außenseiter vielleicht doch den richtigen Riecher?
Weder in der Schule, noch an der Universität im Biologie-Studium habe ich je etwas gehört von Trofim Denissowitsch Lyssenko. Dabei prägte der umstrittene Agrarwissenschaftler Jahrzehnte lang die Pflanzenforschung in der Sowjetunion. Lyssenko stammte aus der Ukraine. Er hatte die große Hungersnot von 1921 miterlebt und wollte etwas dagegen tun. Gerne schimpfte er auf die Genetiker, die von Landwirtschaft keine Ahnung hätten. Die Vererbungsgesetze, wie sie der Mönch Gregor Mendel 1865 erstmals formuliert hatte, und die Lehre der Evolution von Charles Darwin hielt er für Theoriegebäude, die in der landwirtschaftlichen Realität keine Rolle spielten.
Unterstützung von Diktator Josef Stalin
In Lyssenkos Denken regierte die Umwelt. Das passte zwischen 1930 und 1956 gut ins revolutionäre, kommunistische Weltbild. Herkunft ist überwindbar, Menschen, Tiere und Pflanzen können sich ändern.
In der weltweiten Wissenschaftsgemeinde fanden seine Ideen wenig Zuspruch, wohl aber bei der sowjetischen Staatsführung. Josef Stalin persönlich sorgte dafür, dass Lyssenko seine Pläne umsetzen konnte.
Lyssenko wollte Nutzpflanzen beibringen, sich an neue Lebensräume anzupassen. Ohne Genetik und ohne Evolution wollte er Pflanzen entstehen lassen, die in extremen Umwelten überlebten. Ertragreicher Winterweizen etwa, der für gewöhnlich im Herbst ausgesät wird, kam wie Sommerweizen erst im Frühjahr aufs Feld. Konfrontiert mit der Natur sollte er neue Kräfte freisetzen.
Dramatische Folgen eines wissenschaftlichen Irrtums
Für moderne Epigenetiker wie Ueli Grossniklaus von der Universität Zürich ist Lyssenko kein Vorbild. "Lyssenko hat nämlich weder selbst vernünftige Experimente gemacht, noch hat er wirklich Evidenz für das, was er behauptet hat. Und das hatte dramatische Folgen. Erstens hat es zur Verfolgung der richtigen Wissenschaftler geführt, die den Tod fanden, viele Genetiker, und zu großen Hungersnöten, weil man einfach nicht angepasste Kulturpflanzen angebaut hat, in Regionen, wo sie nicht hingehören."
Zu Lyssenkos Zeiten gab es noch keine Epigenetik. Aber einige russische Autoren stellten später einen Zusammenhang her zwischen Lyssenkos Weltsicht und der Epigenetik. Lyssenko hätte wohl wenig damit anfangen können. Denn meist ignorierte er wissenschaftliche Erkenntnisse. Als die Sowjetunion 1946 und 1947 unter einer großen Hungersnot litt, hielt er stur an seinen Plänen fest. Große Flächen ließ er mit ertragreichen Weizensorten bepflanzen, die genetisch jedoch nicht an das Klima des Standorts angepasst waren. Die Missernten verschärften die Situation weiter. Zwei Millionen Menschen starben an Hunger.
Mit der Entdeckung der DNA-Doppelhelix 1953 und der neuen Molekulargenetik ging Lyssenkos Zeit zu Ende. Mendel und Darwin hatten ganz offensichtlich gewonnen. Trofim Denissowitsch Lyssenko wurde Persona non grata. Einer, über den man nicht spricht.
Ein Gentechnik-Experiment mit verblüffendem Ergebnis
Doch die Molekulargenetik konnte längst nicht alles erklären. Immer wieder tauchten Forschungsergebnisse auf, die das genetische Weltbild herausforderten.
Der 14. Mai 1990. Gentechnikgegner der Initiative "BürgerInnen beobachten Petunien" blockieren die Tore des Kölner Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung. Sie wollen den Beginn eines historischen Experiments verhindern. Die Proteste richteten sich gegen die erste Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen in Deutschland.
"Das war hier vor Ort schon aufgeheizt. Das ist keine Frage." Der Molekulargenetiker Heinz Saedler vom Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung musste sich 1990 nicht nur mit aufgebrachten BürgerInnen herumärgern. Auch die Pflanzen auf dem Versuchsfeld bereiteten ihm Probleme.
"Das waren so ungefähr 60.000 Petunien, die wir da ausgebracht hatten. Die produzieren jede im Laufe ihres Lebens so 50 Blüten. 60.000 mal 50. Das sind drei Millionen Blüten. Da hätten wir eine Handvoll Mutanten erwartet. Eine Hand voll gesprenkelte."
Aber es kam anders. Überall auf dem Versuchsfeld gesprenkelte Petunien-Blüten. "Das war die große Überraschung. Es waren nicht wenige, sondern es waren über 60 Prozent. Da haben wir gesagt: Da stimmt ja was nicht."
Jahre später entdeckten Max-Planck-Forscher die Ursache. Biochemische Prozesse, ausgelöst von Umweltfaktoren, hatten das Kommando übernommen. Sie kontrollierten die Gene und hebelten die Mendelschen Regeln aus.
"Das sind ganz klare Spielregeln, die der Mendel definiert hat. Aber wenn man das mit denen macht, dann stimmt nichts mehr. Da ist nichts Mendelndes dran. Man kann sagen: Im Grunde passiert, was will."
Stillgelegte Gene - die Rache Lyssenkos?
In den Blüten der Petunien waren einzelne Gene stillgelegt worden. Gene, die aktiv sein sollten. Irgendetwas hatte die Genetik ausgetrickst. Die Rache Lyssenkos?
Heute kennt jeder Wissenschaftler dieses Phänomen als Epigenetik. Sie ist das Spezialgebiet von Markus Kuhlmann. Ich treffe ihn am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben.
"Das war eine sehr interessante Geschichte. Und das konnte sich ursprünglich überhaupt keiner erklären. Das war eigentlich die initiale Entdeckung im Pflanzenbereich, dass es so etwas wie eine Genstilllegung gibt. Das waren genau die Anfänge der Epigenetik und der Aufklärung der Mechanismen, die zur Unterdrückung von Genen oder Genaktivität führen."
In der Zeit der Petunien-Proteste 1990 war ich Student der Biologie und bereitete mich auf die Diplom-Prüfungen vor. Von Epigenetik wusste ich so gut wie nichts. Im dicken Buch der Molekularbiologie stand viel über Gene, über die DNA, aber nur wenig über Epigenetik. In einem kleinen Absatz war von Methylierungen am Erbmolekül die Rede. Kleine chemische Anhängsel, die die Gene irgendwie zum Schweigen bringen und das einfache mechanistische Bild der Molekularbiologie stören. Sehr kompliziert. Muss ich das wissen? Hoffentlich ist das kein Prüfungsthema, dachte ich nur.
DNA-Archiv: die Pflanzensamen-Genbank in Gatersleben
Im Mai 1990 gehörten das Forschungsinstitut und die Genbank in Gatersleben noch zur DDR. Dort auf dem platten Land, östlich des Harz, begannen nach der Vereinigung der beiden Deutschlands bewegte Zeiten. Viele Einrichtungen wurden geschlossen. Aber die Genbank überlebte. Heute gehört sie zum Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung IPK. Nirgendwo sonst in Europa lagern so viele Pflanzensamen wie hier in Gatersleben. Gut gekühlt, geschützt und sauber beschriftet, hinter dicken Türen.
"Wir hören die Kühlaggregate laufen. Und unsere Kühlzellen sind mit solchen Rollregalen ausgestattet. In diesem Raum befinden sich 27.000 Proben, und insgesamt sind es 150.000."
Andreas Börner ist stolz auf die Genbank, in vielen Jahrzehnten zusammengetragen. Alles, was die gemäßigten Breiten an landwirtschaftlich nutzbaren Samen zu bieten haben, ist hier eingelagert.
"In dieser Kühlzelle haben wir vor allem Gerste und Sojabohne aus Kulturen. Und diese Samen sind in Weckgläser eingefüllt. Sie können diese Samen sehr lange aufbewahren über Jahrzehnte bis zu 100 Jahren. Aber die Samen müssen trocken sein. Wir haben eine Feuchtigkeit zwischen sechs und acht Prozent. Und es muss kühl sein. Minus 18 Grad Celsius."
Samen sind natürliche Speicher für Erbinformation, und die steht hier im Mittelpunkt. Die Genbank ist im Grunde ein großes DNA-Archiv. Die Epigenetik könnte man auch berücksichtigen. Das ist eine Aufgabe für die Zukunft.
Nikolai Wawilow - Opfer von Irrglaube und Denunziation
Als ich das Gebäude der Genbank verlasse, bemerke ich ein Schild: Wawilow-Haus. Der war mir bei meinen Recherchen zu Lyssenko begegnet: Nikolai Iwanowitsch Wawilow, einer der großen Pflanzengenetiker seiner Zeit. In den 1920er und 30er Jahren erforschte er die Gesetze von Mutation und Selektion und gründete im damaligen Leningrad die größte Genbank der Welt. Er war weltweit anerkannt, aber in Stalins Regierungsapparat hatte Wawilow viele Feinde. Biologie galt als bürgerlich, Genetik als faschistisch. 1940 wurde Wawilow denunziert, verhaftet und eingesperrt. Zwei Jahre später starb er im Gefängnis von Saratow an der Wolga, im Alter von 55 Jahren, wahrscheinlich an Unterernährung. Sein größter Konkurrent Trofim Denissowitsch Lyssenko bestritt später jegliche Mitschuld.
Die meisten der 180 Wissenschaftler im IPK Gatersleben interessieren sich wie Wawilow für die Genetik der Pflanzen, weniger für Epigenetik. Markus Kuhlmann ist da eine Ausnahme.
"Es ist wirklich jahrelang so gewesen: Man ist belächelt worden. Es kamen häufig Kollegen, die mit irgendwelchen Fragestellungen nicht mehr weitergekommen sind, die gesagt haben: Es muss etwas Epigenetisches sein. Kannst du mal gucken?"
Immer noch mehr Fragen als Antworten in der Epigenetik
Manchmal konnte Markus Kuhlmann helfen, manchmal auch nicht. Die Epigenetik hält immer noch mehr Fragen als Antworten bereit. Helfen können da nur Experimente. Um diese näher kennenzulernen gehen wir einmal quer durch das weitläufige Institutsgelände. In kleinen Gewächshäusern wächst Gerste unter Extrembedingungen.
"Wir sind jetzt hier in einem S1-Außengewächshaus, wo transgene Pflanzen unter feldnahen Bedingungen wachsen können. Das heißt: Das ist ein in sich abgeschlossener Bereich, so dass keine Pflanzenteile nach außen gelangen können. Aber trotzdem wachsen sie so, als ob sie auf dem Feld sind."
Die Gerstenpflanzen sind in kleine Parzellen unterteilt. Nach einer guten Ernte sehen sie nicht aus.
"Hier wurden die Pflanzen nahezu nicht mehr gewässert. Und sind nahezu unter Wüstenbedingungen gewachsen. Das merkt man dann auch an dem harten Boden. Man sieht hier sehr deutlich, dass die Körner in den Ähren sehr klein sind. Es sind zum Teil nicht alle Körner vollständig ausgebildet."
Epigenetische "Nachhilfe" mit RNA
Einige Pflanzen im Gewächshaus sehen besser aus. Anscheinend macht ihnen der Trockenstress weniger aus. Markus Kuhlmann hat diesen Pflanzen einen Schutz verpasst – sozusagen epigenetisch nachgeholfen. Dazu verwendete er maßgeschneiderte Biomoleküle: "Kleine regulatorische RNAs". Diese Biomoleküle ähneln der Erbsubstanz DNA, sind aber kleiner und vielseitiger. Die RNAs lassen sich programmieren, so dass sie gezielt einzelne Gene stilllegen.
Das heißt: Die Gersten-Gene selbst bleiben unverändert. Aber die RNAs verändern ihre Aktivität. Als Folge ignoriert das Getreide den Trockenstress.
Die gleichen Gene könnten auch durch Umweltfaktoren stillgelegt werden – via Epigenetik. "Die Ähren sind voller. Es sind zum Teil größere Körner. Diese Pflanzen waren in der Lage, dem Trockenstress besser zu widerstehen. Was man jetzt nicht mehr sieht: Die waren auch länger grün."
Markus Kuhlmann hat auch untersucht, welche Gene durch epigenetische Faktoren ausgeschaltet werden. Außerdem wollte er wissen, ob diese epigenetischen Anpassungen weitergegeben werden - von einer Generation an die nächste. Und tatsächlich: Obwohl die Erbinformation nicht verändert wurde, vererbte sich die Anpassung weiter.
"Das bedeutet im Prinzip für die Pflanze, dass die Mutterpflanze ihren Kindern die Information mitgegeben hat: Wir leben hier in einer trockenen Umwelt, beeile dich, dann kannst du schneller keimen. Dann wirst du eine erfolgreiche Pflanze."
Vererbung nicht nach Mendel oder Darwin, sondern nach Lamarck?
Eine genetische Anpassung an die Trockenheit würde Jahrzehnte dauern. Die Epigenetik schafft das deutlich schneller. Diese Form der Vererbung gehorcht nicht den Mendelschen Gesetzen. Und anscheinend passt sie auch nicht zu Darwins Evolutionslehre. Eher schon zu den Vorstellungen von Lamarck.
"Das klingt nach Lamarck". Unter Biologen gilt dieser Kommentar als harsche Kritik, fast schon eine Beleidigung. Als der Satz in einer Prüfung fiel, wusste ich, dass ich etwas falsch formuliert hatte. Jeder weiß doch, dass Charles Darwin die Gesetze der Evolution entdeckt hat, während sein Widersacher Jean-Baptiste de Lamarck danebenlag mit seiner These, dass Lebewesen Eigenschaften, die sie im Laufe ihres Lebens erworben haben, an ihre Nachkommen vererben. Wie bei einer Giraffe, die sich nach den saftigen Blättern strecken muss. So sei der Hals der Giraffen von Generation zu Generation immer länger geworden. Angeblich. Später wurde diese Sichtweise widerlegt.
Lamarck war ein Vordenker der Evolution, schon lange vor Darwins Buch über die Entstehung der Arten. Einige seiner Gedanken erinnern an Epigenetik. Markus Kuhlmann vom IPK Gatersleben formuliert es so:
"Letzten Endes kann man vielleicht sagen: Beide hatten Recht. Es gibt natürlich die Gene, die die Grundlage bilden. Aber darüber hinaus gibt es eben auch die Epigenetik, die in der Lage ist, noch einmal einen regulatorischen Einfluss zu haben."
Verpackung der DNA macht Gene zugänglich oder unzugänglich
In den vergangenen Jahrzehnten haben Biologen viel über die Mechanismen der Epigenetik gelernt.
"Epigenetik bedeutet nicht, wie es oft gesagt wurde: Über der Genetik. Nein, nein. Es bedeutet: Zusätzlich zur DNA-Sequenz. "
Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg hat Erfahrung, wenn es darum geht, komplizierte Epigenetik zu erklären. Er hat ein einfaches Modell bauen lassen. Damit demonstriert er die Verpackung des Erbmoleküls DNA, aus dem die Gene sind.
"Der DNA-Faden in einer Zelle liegt nie nackt vor. Er ist verpackt über Proteinkugeln. Und diese Proteinkugeln erlauben, dass über eine Kugel 147 Basenpaare aufgewickelt werden. Und in einem Zellkern sind über 10.000 dieser Proteinkugeln vorhanden."
Das Seil, das die DNA darstellt, ist mehrfach um die Kunststoffkugel herumgewickelt, und führt dann weiter zur nächsten Kugel.
"Wenn der DNA-Faden über die Proteinkugeln nur dünn verpackt ist, dann ist die DNA zugänglich, und Gene können aktiviert werden. Wenn aber der Faden über die Proteinkugeln sehr dicht verpackt wird, dann ist die Zugänglichkeit zum DNA-Faden und zu den Genen nicht mehr möglich. Und damit können Gene nicht angeschaltet werden."
Methylierungen Grundlage für epigenetische Vererbbarkeit
Ein freier Faden steht für aktivierbare Gene; dichte Verpackung für stillgelegte Gene. Die Umwelt beeinflusst die Verpackung und die wirkt auf die Aktivität der Gene. Diese Information lässt sich speichern, über kleine Anhängsel am DNA-Molekül. Das sind die so genannten Methylierungen, die Grundlage für die Vererbbarkeit von Anpassungen an die Umwelt. Franziska Turck vom Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln erklärt das so:
"Je verpackter eine Sache ist – ein Gen als Information – um so schwerer kommt man da heran. Und man kann sich das vorstellen, dass manche Sachen im Archiv landen und schwer zugänglich sind. Das sind Sachen, die epigenetisch abgeschaltet werden. Diese Gene können nicht verwendet werden. Sie können nicht ausgeprägt werden."
Informationen über die Verpackung können über die Samen an zukünftige Generationen weitergegeben werden. Nur durch Markierungen am Erbmolekül DNA. Der genetische Code bleibt unverändert. Die Umwelt von heute könnte so die Pflanzen von morgen beeinflussen. Manche sprechen von der Epigenetik als zweitem Code.
"Es ist mit Sicherheit ohne Zweifel so, dass in einer Elternpflanze ein Gen abgeschaltet werden kann, und sich dieses Abschalten stabil über Generationen hinweg weitervererben kann unter bestimmten Bedingungen."
Vernalisation als vermeintlicher Beleg für Lyssenkos Theorie
Ein Beispiel dafür ist die Kontrolle des Zeitpunktes, zu dem eine Pflanze blüht. Eine kurze Kälteperiode kann wie ein Signal wirken, das der Pflanze mitteilt, wann es Zeit ist zu blühen. Das ist das Forschungsthema von Franziska Turck.
"Das wird sehr genau reguliert. Teilweise hat es auch Hierarchien. Dieses Gen ist teilweise so reguliert, dass die Pflanze zuerst einen Winter erlebt haben muss, und dann reagieren kann auf Frühlingstage. Wenn der Winter vorher nicht war, ist die Pflanze blind für Frühlingstage."
Viele Pflanzen, die in Regionen mit starken Jahreszeiten wachsen, brauchen eine Art Kälteschock. Sie müssen eine gewisse Zeit mit niedrigen Temperaturen durchlebt haben, damit sie bereit sind zur Blütenbildung. Fachleute sprechen von Vernalisation.
Als ich im Internet das Wort "Vernalisation" eingebe, lande ich wieder bei Lyssenko. Er hat diesen Kälteschock, der die Blütenbildung beeinflusst, weder entdeckt noch erfunden. Aber er sah ihn als Beleg für seine Theorie, nach der die Umwelt das Leben der Pflanzen bestimmt, nicht die Gene. Durch Lyssenko verbreitete sich die Vernalisation in der damaligen Sowjetunion. Die Landwirte traktierten die Samen mit Kälte und ließen so ihre Pflanzen früher blühen. In dieser Frage lag Lyssenko also nicht ganz falsch.
Veränderungen zu instabil für kommerzielle Pflanzenzucht
Wenn Anpassungen sich genauso vererben lassen wie Gene, wäre es ein Leichtes, mit Hilfe der Epigenetik angepasste Pflanzen zu züchten. Aber so einfach ist es nicht. Kommerzielle Pflanzenzüchter beobachten zwar interessiert die neuen Forschungsergebnisse, bleiben aber zurückhaltend, wie Florian Jupe vom Saatguthersteller Bayer Crop Science. Das Problem sei die Instabilität epigenetischer Veränderungen, erklärt er.
"Pflanzenmerkmale, die wir in der Züchtung einbringen in unsere Saatgutprodukte, die müssen ständig stabil sein, nicht nur bei uns in der Produktion, auch beim Landwirt auf dem Feld."
Was bringt es, ein Merkmal in die Pflanzen einzubringen, wenn es ohne Grund nach zwei oder drei Generationen wieder verschwindet? So etwas lässt sich nicht verkaufen.
Es gibt nur wenige Ausnahmen. Dabei werden jedoch nicht die epigenetischen Faktoren im Saatgut vererbt. Vielmehr sind es Gene, die ein anderes Gen über einen epigenetischen Effekt stilllegen. Jupe:
"Ein Beispiel wäre beim Mais die Blütezeitregulierung, die sich durch einen genetischen Event viele hundert oder tausend Jahre zurück eingeschlichen hat in die DNA einiger natürlicher Mais-Landrassen. Sie hat dafür gesorgt, dass einige bestimmte Rezeptoren, die Gene steuern, ausgeschaltet werden. Und durch dieses Ausschalten war es auf einmal möglich, den Mais auch in nördlicheren Breitengraden wachsen zu lassen."
Auch die Epigenetik gehorcht Darwins Lehre
Wenn ein Pflanzenzüchter ein bestimmtes von der Umwelt geprägtes Merkmal auswählt – und das über viele Generationen – wird dieses Merkmal genetisch verankert, auch wenn es zunächst epigenetisch entstanden ist.
Wieder einmal – so scheint es - hat Darwin gesiegt über Lamarck. Auch die Epigenetik gehorcht Darwins Lehre. Für Ueli Großnilaus von der Universität Zürich besteht daran überhaupt kein Zweifel:
"In meiner Sicht der Dinge passt das sehr gut ins darwinsche Modell von Mutation und Selektion. Nur gibt es eben nicht nur eine Art von vererbbarer Information, die genetische, also Mutationen, sondern es gibt auch epigenetische Information, die relativ stabil sein kann, vererbt wird, und beide können selektioniert werden. Beide Typen von Variation, genetische oder epigenetische, können selektioniert werden zur Anpassung an neue Umstände."
Einen Wettkampf zweier Theorien gibt es nicht mehr – und auch die Konkurrenz zwischen Lyssenko und seinem Konkurrenten Wawilov war letztlich nicht wissenschaftlich – sondern politisch. Mit fatalen Folgen für die Wissenschaft.
Nach meinen Recherchen ergibt sich inzwischen ein deutliches Bild: Trofim Denissowitsch Lyssenko nutzte das Wohlwollen Stalins, um Darwins Evolutionslehre zu bekämpfen. Immer wieder kamen aus seinem Umfeld Anschuldigungen gegen russische Darwinisten. Institute wurden geschlossen, Wissenschaftler entlassen, und die führenden Köpfe der Genetik inhaftiert – so wie Nikolai Iwanowitsch Wawilow. Lyssenko dagegen wurde 1940 zum Leiter des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften ernannt. Trotz seiner katastrophalen Bilanz machte er Karriere in der Sowjetunion.
Epigenetische Variationen sind keine direkte Anpassung an Umwelt
Die Idee, dass Anpassungen an die Umwelt über Epigenetik direkt vererbt werden, hat Ueli Grossniklaus mit seinem Team viele Jahre lang untersucht und kam zu dem Schluss: Genau wie genetische Mutationen treten epigenetische Variationen zufällig auf – aber im Gegensatz zu den genetischen können die epigenetischen Veränderungen im Laufe weniger Generationen wieder verschwinden.
"Unsere Daten bisher sagen: Das läuft nicht gezielt ab. Das war eine Idee, die war vor 15 Jahren sehr populär. Viele Leute haben das versucht in zusätzlichen Experimenten nachzuweisen, dass da irgendeine gerichtete Veränderung stattfindet. Zum Beispiel Hitzestress, und dann sind sie besser angepasst an Hitze, oder Salzstress, dann sind sie besser angepasst an versalzten Boden. Zumindest wir in unseren Experimenten und auch viele andere konnten das so nicht bestätigen."
Das hieße aber: Der Einfluss der Epigenetik ist keinesfalls eine direkte Anpassung an die Umwelt. Also kein Lamarck. Keine Giraffe, die ihren Hals strecken muss, der dann immer länger wird.
"Wenn die Pflanze gestresst ist, durch Trockenstress, durch Hitzestress, geht vermutlich die Epimutationsrate hoch. Dann generiert man mehr Variationen in der Population, und dann hat man auch eine größere Vielfalt zum Auslesen. Ich denke nicht, das ist gerichtet, irgendwie etwas Lamarckisches, sondern das funktioniert nach darwinschem Prinzip. Das ist einfach eine andere Form, eine weniger stabile, aber häufigere Form der genetischen Variation."
Genetische Forschung Russlands leidet bis heute unter Lyssenkos Folgen
Die Epigenetik stellt eine bunte Mischung von Merkmalen zur Verfügung – und die Natur wählt aus – oder der Pflanzenzüchter - genau wie bei der genetischen Vererbung.
"Unsere Hypothese aus diesen Experimenten ist die Folgende: Wir denken, dass wir nur epigenetische Variationen selektionieren können, wenn sie bereits vorhanden sind in der Population." Mit Lyssenkos Ideen hat das nichts zu tun, so Ueli Grossniklaus.
Nachprüfbare Forschungsergebnisse, die seine Theorien stützten, lieferte Lyssenko nicht. Außerhalb der Sowjetunion geriet er schnell in Vergessenheit. Deshalb habe ich lange Zeit nichts von ihm gehört oder gelesen. Von Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow wurde Lyssenko Schritt für Schritt entmachtet und schließlich entlassen. Aufgearbeitet wurde diese Episode der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte jedoch nie. Die genetische Forschung Russlands leidet bis heute unter den Folgen.
Epigenetik seit Jahrtausenden an Pflanzenzucht beteiligt
Möglicherweise wurden seit Jahrtausenden epigenetische Merkmale ebenso zur Vermehrung ausgewählt wie genetische – ohne dass irgendjemand wusste, was genau die Ursache ist. Wahrscheinlich war es manchmal die Epigenetik.
"Genetik und Epigenetik lässt sich einfach nicht trennen. Das gehört zusammen wie Kartoffel mit Soße." Beide tragen bei zur Vielfalt in der Pflanzenwelt. Und auf beide wirkt die Selektion. Franziska Turck vom Kölner Max-Planck-Institut hat dazu das passende Bild:
"Stellen wir uns doch einen Raum vor mit einer Tür, die entweder geschlossen sein kann oder geöffnet. Dann entscheidet die Epigenetik, ob sie geöffnet werden kann oder verschlossen ist. Aber Genetik entscheidet, dass da überhaupt eine Tür ist."
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