Deutschland hat schon heute ein Problem bei der Altenpflege. Seit 2017 liegt der jährliche Anstieg der Pflegebedürftigen im Durchschnitt bei 326.000 pro Jahr. Laut Spitzenverband der Krankenkassen lag der Anstieg im vergangenen Jahr allerdings bei 361.000 Pflegebedürftigen.
Vier von fünf Pflegeeinrichtungen mussten 2023 ihr Angebot einschränken, weil Personal fehlt. Das hat eine Befragung des Evangelischen Verbands für Altenpflege (DEVAP) unter Anbietern verschiedener Träger ergeben. 72 Prozent der Pflegeheime konnten nicht mehr alle Leistungen erbringen, 89 Prozent der ambulanten Dienste lehnten Neukunden ab. Das bedeutet, dass pflegebedürftige Menschen unversorgt bleiben.
Voraussichtlich wird sich diese Lage noch zuspitzen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält eine Pflegereform für dringlich, sieht in dieser Legislaturperiode aber keine Chance mehr dafür. Zu unterschiedlich seien die Zielvorstellungen der Koalitionspartner.
Wie sehen die Szenarien für die Pflege in den nächsten 20 Jahren aus?
Der Bedarf an Pflegeleistungen wird in Deutschland in den nächsten 15 bis 20 Jahren kontinuierlich steigen. Darin sind sich unterschiedliche Institute und Stiftungen in ihren Prognosen für Deutschland einig. Die Studien fußen auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes.
Nach Ansicht von Jochen Pimpertz, Leiter der Abteilung Sozialpolitik und Pflege beim Institut der deutschen Wirtschaft, wird sich die Anzahl der Pflegebedürftigen von heute rund fünf Millionen auf sechs Millionen bis 2040 erhöhen und in den Jahrzehnten danach bei rund 6,7 Prozent einpendeln.
Doch der Bedarf wird nicht überall gleich sein. Während in Sachsen-Anhalt und Thüringen bis 2055 von einem geringen Anstieg von Pflegebedürftigen um sieben Prozent bzw. neun Prozent ausgegangen wird, ist aufgrund der Alterung in Bayern mit einem Anstieg um 56 Prozent und in Baden-Württemberg mit einem Anstieg um 51 Prozent zu rechnen.
Auch in den Bundesländern selbst sind die Unterschiede groß, wie das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt. Im Landesdurchschnitt wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis Mitte des Jahrhunderts nach einer Pflegemodellrechnung zwar um 30 Prozent anwachsen. Doch während im Kreis Coesfeld 63,5 Prozent mehr Pflegebedürftige zu versorgen sein werden, liegen Hagen oder Gelsenkirchen mit Steigerungen von kaum mehr als acht Prozent weit unter dem Schnitt.
Wer soll die Pflege leisten?
In kaum einer Branche ist der Fachkräftemangel so groß wie in der Pflege. Schon jetzt dauert es 230 Tage, bis die Stelle einer Krankenpflegefachkraft besetzt werden kann und 210 Tage bei einer Altenpflegekraft, rechnete die Bundesanstalt für Arbeit im vergangenen Mai vor.
Bis 2040 müssten mehr als 191.000 zusätzliche Pflegekräfte in die Branche geholt werden, berechnete die Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform. Der Deutsche Pflegerat geht von einem noch höheren Bedarf aus: Bis zum Jahr 2034 sollen rund 500.000 Pflegekräfte fehlen, so die Präsidentin Christine Vogler. Bereits jetzt seien 115.000 Stellen nicht besetzt.
Um dem Personalmangel in der Pflege gegenzusteuern, wirbt die Bundesregierung aktiv um ausländische Pflegekräfte. Im Jahr 2022 gab es insgesamt 244.000 ausländische Pflegekräfte, so die Bundesagentur für Arbeit.
Damit hat sich ihr Anteil innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Auch Ausbildung und Bezahlung in den Pflegeberufen wurden verbessert. Doch all das hat zu keiner Trendwende beigetragen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche könnten eine weitere Maßnahme sein, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen.
Die Aufgaben neu aufzuteilen ist ein weiterer Weg, dem Problem zu begegnen. Forschungen zeigen, dass Pflegefachkräfte in den Einrichtungen die Hälfte ihrer Zeit mit Tätigkeiten verbringen, für die man gar keine Fachkraft bräuchte. Der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang von der Universität Bremen kommt zu dem Ergebnis: "Wenn es gelingt, diese Tätigkeiten an Hilfskräfte zu delegieren, dann haben Fachkräfte auch mehr Zeit für die Aufgaben, für die man sie eigentlich braucht.“
Auf Basis seiner Forschung wurden die gesetzlichen Regeln der Personalbemessung geändert. Hilfskräfte können nun mehr Aufgaben übernehmen, etwa Strümpfe anziehen oder Essen anreichen. Laut Rothgang komme man auf diese Weise auch künftig fast mit derselben Zahl von Fachkräften wie derzeit aus.
Welche alternativen Pflegekonzepte gibt es?
„Buurtzorg“
Die gemeinnützige GmbH mit dem holländischen Namen „Buurtzorg“, was so viel wie „Nachbarschaftspflege“ bedeutet, wurde 2007 in den Niederlanden gegründet und ist auch in Deutschland aktiv. Das Besondere: Während die meisten Pflegedienste mit den Kassen verschiedene einzelne Leistungen abrechnen, die ihre Mitarbeiter erbringen, rechnet Buurtzorg nach Zeit ab. Das heißt: Buurtzorg vereinbart mit den Klienten und deren Pflegekassen ein bestimmtes Zeitbudget. Damit will man flexibler auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen eingehen. Idealerweise will Buurtzorg auch die Angehörigen oder Nachbarn mit einbinden, wenn es darum geht, Pflegebedürftigen zu helfen – und zwar enger als es in Deutschland bislang oft geschieht.
Ein weiteres Prinzip, mit dem Buurtzorg sich von traditionellen Pflegediensten unterscheidet, ist die Idee der Selbstorganisation. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen ihre Dienstpläne nicht von einer Pflegedienstleitung vorgesetzt bekommen, sondern miteinander vereinbaren. Dadurch spare das Unternehmen nach eigenen Angaben rund ein Drittel an Verwaltungskosten ein. In Deutschland ist das schwierig umsetzbar – hier müsse es bei den Behörden einen offiziellen Chef angeben, sagt Teamleiter Julian Wendland.
Während das Konzept in den Niederlanden erfolgreich ist, musste der deutsche Ableger 2022 nach herben finanziellen Rückschlägen Insolvenz anmelden. Vor allem die Idee, nach Zeit abzurechnen, und nicht nach einzelnen Leistungen, habe nicht zum deutschen System der Pflegeversicherung gepasst, heißt es von dem Unternehmen. Von 13 Standorten ist nur noch einer geblieben. Man hoffe aber, expandieren zu können.
„Regionale Pflegekompetenzzentren“ (Reko)
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen haben einen Bedarf an konkret ansprechbaren, verlässlichen, fachlich kompetenten und kontinuierlich bereitstehenden Ansprechpersonen, die einen durch den Prozess des Pflege-Verlaufs möglicherweise über Jahre begleiten. Anlaufstellen gibt es zwar viele, doch das Angebot ist zersplittert und unübersichtlich. In dem Modellprojekt Reko wurde mit öffentlicher Förderung gut vier Jahre lang - beschränkt auf die Region Emsland - erprobt, wie es bei den Menschen ankommt, wenn sich eine einzelne Pflege-Fachkraft um alles kümmert, was mit der Organisation von Pflegeleistungen zu tun hat.
Pflegewissenschaftler Manfred Hülsken-Giesler von der Universität Osnabrück und seine Mitarbeiter haben das Projekt wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Nicht nur Pflegebedürftige und ihre Angehörigen seien mit dem Modellprojekt sehr zufrieden gewesen.
Das Projekt spart aller Voraussicht nach auch Geld, weil die Arbeitskraft von Pflege-Profis effizienter eingesetzt wird und weil Prävention einen höheren Stellenwert bekommt. Doch erst einmal müsste Geld aufgebracht werden, um diesen neuen Weg in der Pflege zu gehen. Zuständig dafür sind die Kommunen, doch die sind finanziell meist an ihren Grenzen. Deswegen ist momentan nicht absehbar, ob das im Emsland mit Erfolg erprobte Projekt auf andere Teile Deutschlands ausgeweitet wird.
„Dein Nachbar“
Der Verein wurde vor gut zehn Jahren von Thomas Oeben gegründet. Er war lange im Rettungsdienst aktiv, ist aber vor allem Logistiker. Mit diesem Fachwissen hat Oeben unter dem Dach des gemeinnützigen Vereins „Dein Nachbar“ Computerprogramme und Smartphone-Apps entwickelt. Damit lassen sich Gesuche von Menschen, die Unterstützung brauchen, mit den Angeboten Ehrenamtlicher zusammenbringen. In einer weiteren Ausbaustufe sollen auch etwa Arztpraxen eingebunden werden, wenn es darum geht, Termine digital abzustimmen. Der Verein versteht sich als Besuchs- und Begleitdienst, ist kein Pflegedienst.
In München bringt der Verein derzeit mehrere Hundert Menschen, die Hilfe brauchen, mit mehreren Hundert Ehrenamtlichen zusammen, die Unterstützung leisten wollen. Die Idee hat sich in den zehn Jahren seit Gründung des Vereins bewährt. Immer wieder wurde „Dein Nachbar“ für seine Arbeit auch ausgezeichnet – aber Schule gemacht hat das Konzept bislang nicht.
Wie kann Pflege künftig finanziert werden?
Neben der Personalnot sind die Kosten für die Pflege das größte Problem in den kommenden Jahrzehnten. Wenn mehr Menschen ein Recht auf Pflegeleistungen haben, braucht die Pflegekasse mehr Geld, beispielsweise über steigende Beiträge zur Pflegeversicherung.
Die Krankenkassen rechnet schon im nächsten Jahr mit einer Erhöhung um mindestens 0,2 Prozent. Bereits 2023 sind die Beiträge zur Pflegeversicherung gestiegen, auf vier Prozent für Kinderlose, für Menschen mit einem Kind sind es 3,4 Prozent.
Schon jetzt reicht das Geld nicht aus. Der Bund unterstützt die Pflegekasse mit einer Milliarde Euro jährlich. Dieser Zuschuss könnte jedoch im Zuge der Haushaltssanierung bald wegfallen. Die Suche nach Alternativen läuft.
Volkswirt Jochen Pimpertz hält ohnehin wenig von Finanzhilfe aus Steuermitteln. Sie würde diejenigen entlasten, die eigentlich mehr leisten könnten. Aus seiner Sicht müsste man die älteren Menschen selbst mehr in die Pflicht nehmen. Er schlägt deshalb eine ergänzende private Vorsorgeversicherung vor - als neue zweite Säule der Pflegeversicherung. Das wäre auch gerechter für die künftige Generation der Beitragszahler.
Finanzielle Vorsorge tut ohnehin not, denn die Pflegebedürftigen selbst müssen auch noch ihren Eigenanteil im Pflegeheim bezahlen. Der liegt aktuell auf einem Höchststand, weil endlich die lange geforderte Besserbezahlung für Pflegekräfte vereinbart wurde. Die Heime haben dadurch höhere Kosten, die jedoch über sogenannte Pflegesätze nur zum Teil an die Einrichtungen zurückgezahlt werden. Der Fehlbetrag muss von den Bewohnern getragen werden. Reichen deren Finanzmittel nicht aus, werden die Kosten von den Sozialkassen übernommen. Am Ende ist der Staat also ohnehin finanziell in der Pflicht.
Welche Rolle können Technik und Digitalisierung spielen?
Wo Ressourcen knapp sind, kann Technik dabei helfen, sie gezielter einzusetzen, angefangen bei smarten Bettdecken oder Teppichen, wenn jemand morgens nicht aufsteht oder stürzt, bis hin zu Krankheitsmanagement-Programmen, die Vitalwerte an eine Station im Heim liefern, sodass man im Heim rechtzeitig sehe: "Da muss jetzt mal jemand hin“, sagt Sozialdezernent Ziemons aus der Pflegemodellregion Aachen.
Die nötige Anschubfinanzierung steht schon bereit. Mit Bundesmitteln werden digitale Pflegehilfen bereits entwickelt und erprobt. Bis zum Jahr 2030 bekommen ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen Zuschüsse für digitale oder technische Investitionen. Bislang wurden knapp 100 Millionen Euro für laufende Kosten, Wartung und die nötige Software abgerufen.
Was kann die Politik für die Pflege tun?
Hauptaufgabe der Politik ist es, die Kosten im Blick zu behalten und Anreize für den Pflegeberuf zu setzen. Sie kann aber noch mehr tun, zum Beispiel bürokratische Hürden abbauen.
Heute sind die Säulen des Pflegesystems voneinander getrennt: Stationäre Pflege kann nicht mit Leistungen für die Versorgung zu Hause kombiniert werden. Ein Pflegedienst verträgt sich nicht mit Pflegegeld für die Hilfe durch Angehörige.
Würde das flexibler gehandhabt werden, könnten sich neue Möglichkeiten ergeben. Ein Altenheim, das Betten leer stehen lässt, weil es nicht ausreichend Personal für die 24-Stunden-Pflege hat, könnte alternativ zu festen Tageszeiten ambulante Grundversorgung anbieten.
Auf kommunaler Ebene wird neu über altbekannte Modelle nachgedacht, wie beispielsweise die sogenannte Gemeindeschwester. Die hält im Auftrag der Kommune Kontakt zu den Älteren, sie gibt Sicherheit und kann Hilfen vorausdenken.
Rheinland-Pfalz hat das Modell in den letzten Jahren erprobt und für gut befunden. Die neuen Ansprechpersonen - genannt Gemeindeschwester plus, es dürfen aber auch gern Gemeindepfleger sein – werden dort seit 2023 dauerfinanziert.
jk