Dirk Müller: Versorgungskrise, Betreuungsdilemma, Personalmangel, Pflege in Deutschland ist ein Krisenszenario für die Pfleger, für die Bedürftigen, für die Patienten, für die Angehörigen. Die große Koalition hat sich nun auf die Fahnen geschrieben, die Situation zu verbessern. Jens Spahn hat nun vom Kabinett grünes Licht bekommen. 13.000 zusätzliche Arbeitsplätze sollen auf den Weg gebracht werden. Neue Pflegekräfte für die stationäre Altenpflege. Allein dieser Kostenpunkt rund 640 Millionen Euro. Dabei stehen bereits jetzt Tausende von Stellen offen, sind also unbesetzt. Am Telefon ist nun der Sozialpädagoge und Buchautor Claus Fussek, der sich seit vielen Jahren äußerst kritisch mit den Pflegeverhältnissen in Deutschland auseinandersetzt. Guten Morgen!
Claus Fussek: Guten Morgen!
Müller: Herr Fussek, wer soll die neuen Stellen besetzen?
Fussek: Das Problem ist ja kein neues Problem. Ich habe hier Zeitungsartikel liegen, der Pflegenotstand 1988. Die Probleme sind hausgemacht, und natürlich kann weder ein Herr Spahn noch sonst jemand in der Politik die Pflegekräfte zaubern, vor allem, weil wir natürlich ehrlich sein müssen: Dieser Pflegenotstand ist kein Tsunami, sondern hausgemacht und seit Jahren bekannt und ganz offensichtlich, weil jeder weiß es, der in eine Klinik geht oder der in einem Pflegeheim jemand besucht.
Müller: Das heißt, es gibt im Grunde keinen, der da bereit ist, zu arbeiten?
Fussek: Doch, schon. Ich denke, wir wissen, dass viele Pflegekräfte gehen, weil sie am Ende sind. Wir leisten uns sogar die Perversität – ich nenne das so deutlich –, dass selbst Auszubildende verheizt werden als Billigstarbeitskräfte genommen werden. Und die Pflegekräfte gehen, und gestern sagte mir eine Pflegekraft noch sehr deutlich, sie habe selber Angst, mal krank zu werden, ins Krankenhaus zu gehen, weil sie die Situation für unverantwortlich hält.
Müller: Warum ist das so unattraktiv? Zu geringe Bezahlung, zu viel Belastung?
Fussek: Das ist ja inzwischen eine Absurdität, weil es gibt ja – in München werden Pflegekräfte mit 5.000 bis 8.000 Euro Kopfprämie gesucht. Das heißt, auch – ich verstehe nicht, es gibt ja keinen Menschen in Deutschland, der gegen eine bessere Bezahlung von Pflegekräfte ist. Die Probleme sind – da würde die Sendung nicht reichen. Das ist natürlich klar, die Pflegekräfte haben über Jahrzehnte in ihrem Schichtendienst Pflegedokumentationen gefälscht. Jeder kann sich doch ausrechnen, wenn er die Dienstpläne sieht und die Pflegedokumentationen, dass da etwas nicht stimmen kann. Das zweite Problem ist, dass die kritischen Pflegekräfte, die den Mund aufmachen, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, haben Probleme, dass sie gemobbt werden. Auch das, ein Großteil der Probleme in der Pflege sind hausgemacht.
Müller: Was heißt denn, den Mut haben, den Mund aufzumachen? Das sind diejenigen, die die Situation kritisch benennen?
Fussek: Offen, ehrlich benennen. Wenn Sie heute als Journalist eine Pflegekraft interviewen wollen zum Thema, dann will die anonym bleiben oder im Fernsehen das Gesicht nicht zeigen. Das ist doch irre. Ich sage mal, wir drehen uns hier im Kreis. Und hinzu kommt natürlich ein Systemproblem. Es kann und darf doch nicht wahr sein, dass man mit Gesundheit beziehungsweise Krankheit an der Börse Rendite machen kann. Das ist doch – ich weiß nicht, wer sich so ein perverses System ausgedacht hat.
"Wir drehen uns hier im Kreis"
Müller: Also Marktwirtschaft in dem Feld funktioniert aus Ihrer Sicht gar nicht?
Fussek: Das kann so nicht funktionieren. Das ist ja – wir wissen, Stichworte sind DiGs und so weiter, das ist irre. Und vor allem wissen wir ja, wie teuer dieses schlechte System ist. Sie kennen ja die Hygieneproblematik. Pflegekräfte sagen, sie hätten keine Zeit, sich die Hände zu waschen, und dann haben wir die Krankenhauskeime, die ja ein Irrsinn sind und wahnsinnig viel auch kosten.
Müller: Reden wir noch mal über die Attraktivität oder fehlende Attraktivität. Ich hatte Sie gerade gefragt, liegt es am Geld. Da haben Sie gesagt, nein, daran kann es jetzt nicht mehr liegen, wobei sich ja viele Pflegekräfte seit vielen Jahren ja auch massiv beschweren über schlechte Bezahlung. Da gibt es aber, wenn ich Sie richtig verstanden habe, im Grunde eine Art Trendwende, auch weil es den politischen Konsens gibt, höher oder besser zu bezahlen. Was ist denn das Hauptproblem? Ist es die Arbeitsbelastung?
Fussek: Die Arbeitsbelastung ist es, die Arbeitsbedingungen sind es, das Arbeitsklima ist es. Es ist doch nach wie vor immer noch irre, dass wir so eine Hierarchie zwischen Ärzten haben. Der einfachste Nenner wäre doch zunächst mal, dass sich die Pflegekräfte untereinander solidarisieren würden. Die sind ja kaum gewerkschaftliche organisiert, ich glaube, nicht mal zu zehn Prozent organisiert. Dann das Zweite wäre, dass sich die Pflegekräfte mit ihren Patienten solidarisieren. Es kann doch nicht sein, dass die Patienten oder vor allen Dingen im Pflegeheim zum Teil Angst haben, sich zu beschweren. Und dann gibt es jetzt eine unangenehme Wahrheit für alle, das heißt, wenn jemand pflegebedürftig ist oder ins Krankenhaus muss, dann wissen wir inzwischen, dass Angehörige Urlaub nehmen müssen und ihre Patienten versorgen. Die Versorgung in sehr vielen Krankenhäusern ist nicht mal mehr sichergestellt.
Müller: Ist das für Sie als Experte, der die Situation, die Szenerie sehr gut kennt, ausgemachte Sache, dass wir auch künftig im Ausland beispielsweise noch viel mehr werben müssen dafür, dass wir neue Pflegekräfte ins Land bekommen?
Fussek: Die Situation ist ja noch viel dramatischer, als wir es Teilzeit wahrnehmen wollen. Auch ausländische Pflegekräfte, die zu uns kommen, gehen wieder, weil sie die Arbeitsbedingungen hier zum Teil noch katastrophaler finden wie zum Beispiel in Spanien. Außerdem können Pflegekräfte heute wählen. Es ist der mächtigste Berufsstand im Grunde genommen. Das heißt, auch ausländische Pflegekräfte gehen nicht mehr nach Deutschland, sondern die gehen nach Norwegen oder nach England, wo sie bessere Arbeitsbedingungen vorfinden. Also, wir haben nullkommanull Erkenntnisprobleme. Die Pflege muss die Schicksalsfrage der Nation werden, und wir müssen – das Problem ist nur gemeinsam zu lösen, und Herr Spahn ist ja für die Schaffung der Pflegekräfte nicht verantwortlich, das ist Sache der Arbeitgeber. Und die Bezahlung der Pflegekräfte ist Aufgabe der Tarifparteien. Herr Spahn ist jetzt eine Symbolpolitik, der für was herhalten muss. Die Pflegeprobleme sind hausgemacht und seit Jahrzehnten bekannt.
"Pflegedokumentationen sind gefälscht"
Müller: Immerhin ist das aber ein klares Signal, was die Bundesregierung jetzt setzt und Jens Spahn. Ein richtiges Signal.
Fussek: Es ist ein richtiges Signal, und er übernimmt auch Verantwortung. Und es ist ja interessant, dass er dann sogar zaghaft sagen muss, dass Dinge, die Pflegeleistungen, die nicht erbracht worden sind, dass man die auch nicht abrechnen kann. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Und das heißt, im Prinzip muss es so sein, die Pflegekräfte müssen ab sofort nur noch das dokumentieren, was sie leisten können, sie müssen Überlastungsanzeigen machen, und die müssen veröffentlicht werden. Und der Gesellschaft muss klar werden, dass das Problem ist, es geht uns alle an. Jeder wird irgendwann mal in ein Krankenhaus müssen oder in ein Pflegeheim. Es kann nicht sein, dass wir sehenden Auges diesem Notstand wie im Teufelskreis hier begegnen.
Müller: Jetzt hat es ja, Herr Fussek, gestern noch einen Punkt gegeben, den der Gesundheitsminister, der Bundesgesundheitsminister herausgestellt hat. Ab 2020 soll es auch Sanktionen geben gegen Krankenhäuser, wenn diese wiederum nicht bereit sind, genügend Pflegepersonal einzustellen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht das ja völlig nach hinten los?
Fussek: Das ist doch die absolute Selbstverständlichkeit. Ich kann doch nur das abrechnen gegenüber dem Kostenträger, was ich erbracht habe. Das zeigt, wir wissen, dass die Pflegedokumentationen gefälscht sind. Das sagen auch alle Pflegekräfte ständig. Hier wird auch noch betrogen auf dem Rücken … Das geht doch gar nicht. Und ich glaube, man muss einer Gesellschaft sagen, das ist ja nicht das Geld von Herrn Spahn oder von Frau Merkel. Das sind unsere Beiträge. Die Pflegekräfte werden aus Krankenkassenbeiträgen, das sind unsere Gelder, unsere Steuergelder, unsere Beiträge, bezahlt. Also, wir brauchen ein ehrliches Pflegesystem, ein ehrliches Gesundheitssystem, und nur so geht das, und das geht nur – und das hat auch nichts mit Parteipolitik zu tun.
"Die werben mit Spitzenmedizin"
Müller: Da möchte ich Sie noch mal konkret fragen in dem Punkt. Sie lassen hier jetzt ja viele etwas frustriert und verzweifelt zurück. Unsere Hörer, mich auch. Es gibt ja offenbar gar keine Lösung, weil es gibt Stellen, aber es gibt niemand, der dort arbeiten will.
Fussek: Momentan haben wir einen Notstand, den wir seit Jahren kennen, seit Jahren wie das Kaninchen auf die Schlange geschaut, und jetzt haben wir die Situation. Das ist wie beim Klimawandel. Wir stehen davor, wir haben eine Hitzeperiode, und wir müssen jetzt damit umgehen, und das geht nur gemeinsam. Es ist keine Zeit mehr für irgendwelche Schuldzuweisungen, sondern das Problem muss man gemeinsam lösen.
Müller: Also es muss jetzt ein Altenheim hinkommen und sagen, wir arbeiten unter fairen Bedingungen, und wir haben auch genug Personal.
Fussek: Und wir wissen das ja, es gibt ja auch die guten Beispiele. Wir kennen ja auch Kliniken, die beste Arbeitsbedingungen haben, wo man wertschätzend mit dem Personal umgeht, wo es kein Angstklima gibt, wo man ehrlich dokumentiert. Das gibt es ja auch. Es ist ja nicht so, dass wir hier das Rad neu erfinden müssen, sondern diese Probleme sind hausgemacht, und es kann nicht sein, dass man in einem so sensiblen Bereich, ich sagte bereits, Rendite macht, an die Börse geht. Die Kliniken sind ja auch alle zertifiziert. Man muss sich das ja vorstellen. Die werben mit Spitzenmedizin. Aber Spitzenmedizin kann man nur machen, wenn man Spitzenpflege hat, sonst geht das nicht.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Sozialpädagoge und Buchautor Klaus Fussek zum Zustand des deutschen Pflegesystems. Danke, dass Sie für uns wieder Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag!
Fussek: Danke schön!
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