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"Pflege ist mehr als Pflegeversicherung"

Die heute in Kraft tretende Reform der Pflegeversicherung bringt nach den Worten von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wesentliche Verbesserungen für die betroffenen Patienten. Die Rahmenbedingungen, beispielsweise für die Palliativmedizin, seien verbessert worden, sagte die SPD-Politikerin. Mehr Dynamik erhofft sich die Ministerin auch durch die erweiterten Qualitätskontrollen in den Pflegeeinrichtungen und die öffentliche Bewertung.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 01.07.2008
    Dirk-Oliver Heckmann: Wer selbst nicht in der Situation ist, zu Hause den bettlägerigen Vater oder das behinderte Kind zu pflegen, der wird sich wahrscheinlich gar nicht ausmalen können, welche Last damit verbunden sein kann - für beide Seiten übrigens: für den, der tagtäglich auf Hilfe angewiesen ist, aber natürlich auch für den, der sich jeden Tag einsetzt, damit ein Leben des Angehörigen im Heim vermieden werden kann. Die Angehörigen stehen oftmals am Limit. Die psychische Belastung ist oft so groß, dass es sogar zu Misshandlungen kommt. Und die Zahl der Fälle, in denen Patienten in völlig verwahrlostem Zustand oder sogar tot aufgefunden werden, sie steigt. Bei all dem ist das, was die Pflegekassen an Kosten für die Betreuung übernehmen, bisher oft lächerlich gering. Vor allem bei der Betreuung von Demenzkranken, die ansonsten körperlich gesund sind, aber rund um die Uhr betreut werden müssen, gibt es bisher so gut wie nichts. Das soll sich mit der Reform der Pflegeversicherung, die heute in Kraft tritt, zumindest ein Stück weit ändern. Allerdings gehen die Änderungen bei weitem nicht weit genug, wie Kritiker bemängeln.

    Am Telefon begrüße ich Ulla Schmidt von der SPD, Bundesgesundheitsministerin. Schönen guten Morgen Frau Schmidt!

    Ulla Schmidt: Guten Morgen.

    Heckmann: Frau Schmidt, oft ist ja vom Pflegenotstand in Deutschland die Rede und wenn man sich die Berichte über die Zustände in den Altenheimen Deutschlands durchliest, dann kann einem schon teilweise angst und bange werden. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit in Deutschland heute, in menschenunwürdigen Situationen alt werden zu müssen?

    Schmidt: Der Medizinische Dienst der Krankenkassen hat ja überprüft, und die sagen, dass praktisch 10 Prozent derjenigen, die gepflegt werden, schlecht gepflegt sind. Das muss uns beunruhigen, denn das sind 220.000 Frauen und Männer. Deswegen wollen wir ja auch mit der Reform noch mehr als bisher die Qualität verbessern und auch die Qualität kontrollieren und transparent machen, dass eine Veröffentlichungspflicht für jede Einrichtung, ambulant und stationär, ab dem 1.1. besteht.

    Heckmann: Zur Pflegereform kommen wir gleich später noch detailliert, Frau Schmidt. Sie haben die 10 Prozent der Patienten angesprochen, denen es durch die Pflege im Prinzip schlechter geht als vorher. Es ist auch so, dass jeder dritte Heimbewohner nicht genug zu essen bekommt. Rund ein Drittel aller Heimbewohner wird nicht häufig genug umgebettet und liegt sich wund. Das hat der Prüfbericht der Krankenkassen im vergangenen Jahr ergeben. Ist es da ein Wunder, dass es Menschen gibt, die lieber den Selbstmord wählen wie jetzt im Fall der 79-Jährigen aus Würzburg, die vom ehemaligen Innensenator Hamburgs Roger Kusch in den Tod begleitet wurde?

    Schmidt: Also das ist nicht eine Folge auch der Pflege in Deutschland, sondern ich kann schon verstehen, dass Menschen, die schwer krank sind, die Angst haben, ihre Würde verlieren zu können oder auch nicht schmerzfrei sterben zu können, dass die vielleicht über solche Auswege nachdenken. Nur für uns ist das keine Alternative. Deshalb haben wir ja auch die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert - zum Beispiel den Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung. Wir werden jetzt mit der Pflegereform dafür sorgen, dass jeder so lange wie möglich, auch so selbständig wie möglich zu Hause bleiben kann, und wir werden auch die Einrichtungen mehr dabei unterstützen, gute Qualität anzubieten. Ich glaube, das Streiten darum und der Versuch, alles so zu verbessern, dass die Würde erhalten bleibt und dass Menschen so schmerzfrei wie möglich leben können, das ist die einzige Alternative zu der Frage auch der aktiven Sterbehilfe.

    Heckmann: Jetzt ist es so, dass Patienten, die sich in Pflegeheimen befinden, nur dann mehr Geld erhalten, wenn sie schwer pflegebedürftig sind. Das heißt, die Pflegesätze I und II werden nicht erhöht. Geht man da nicht am Kern des Problems vorbei, an dem Problem, dass es eben diese Pflege nach Zeit, diese Pflege im Minutentakt gibt?

    Schmidt: Nein. Wir machen beides! Erstens: Im Moment wird getestet in sechs Bundesländern, wie wir eine neue Pflegeeinordnung vornehmen können - und zwar abhängig vom Grad der Selbständigkeit. Nur das muss man erst mal in bestimmten Gruppen auch austesten, und da werden wir im November den Bericht vorliegen haben, so dass wir die Frage Begutachtung und Einstufung danach auch neu regeln können. Das ist ja alles in der Reform mit auf den Weg gebracht.

    Heckmann: Das heißt, die jetzige Reform ist in der Tat auch schon jetzt reformbedürftig?

    Schmidt: Nein, so ist es nicht, sondern die Stufen sind ja eingeläutet. Das ist eine schwierige Aufgabe, wenn Sie statt der Einstufung jetzt, die ja über zwölf Jahre immer wieder geblieben ist, wenn man es getestet hat, ein neues Testverfahren haben, das auch den Menschen gerecht wird. Da haben in zwei Jahren Arbeit die Wissenschaftler - Pflege, alle zusammen - neue Möglichkeiten, Module erarbeitet. Die werden jetzt in Testregionen auch angewandt, um zu sehen: Gibt es dabei vielleicht Nachteile für viele, wo sind die Vorteile und wie können wir das sukzessive eben für alle Pflegebedürftigen auch ausweiten. Es wird welche geben die sagen, ich bin jetzt so eingestuft, ich möchte das lieber haben. Also ist das ein Prozess, der organisiert werden muss.

    Und das andere ist, dass wir die Wahlmöglichkeiten der Pflegebedürftigen stärken und wir vor allen Dingen zwei oder drei Gruppen stärken, auf die wir angewiesen sind: die Familie, um denen Entlastung zu geben, die professionell Tätigen, auch dadurch, dass wir zusätzliche Beschäftigung in den Einrichtungen schaffen, und das Dritte ist auch die Stärkung des zivilbürgerschaftlichen Engagements.

    Und Pflege ist mehr als Pflegeversicherung. Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung. Die gibt Zuschüsse. Pflege zu organisieren, wohnortnah, das Zusammenspiel der Akteure zu fördern, das machen wir mit dieser Reform, um auch hier bessere Angebote vor Ort zu geben.

    Heckmann: Das ist ja in der Tat ein ganzer bunter Strauß an Maßnahmen, die da angegangen worden sind. Aber es geht ja auch ums Geld. Schwer Pflegebedürftige bekommen nach dem, was jetzt beschlossen worden ist, im Monat 10 Euro mehr. Im Jahr 2010 und im Jahr 2012 dann noch einmal 10 Euro mehr. Und Demenzkranke bekommen im Monat 100 bis 200 Euro Betreuungsgeld. Soll das als gutes Signal verstanden werden?

    Schmidt: Die bekommen nicht 10 Euro mehr. Bei Stufe III, die ja als schwer pflegebedürftig gelten, werden praktisch die Leistungen ansteigen auf 1550 Euro. Das sind 120 Euro im Monat mehr. Und bei den schwer Pflegebedürftigen steigt in den stationären Einrichtungen der Beitrag um rund 300 Euro im Monat immer, nicht aufs Jahr berechnet. Bei demenziell Erkrankten steigt er von 496 auf bis zu 2400 Euro. Also das sind auch schon große finanzielle Leistungen.

    Heckmann: Das sind 200 Euro im Monat. Was kann man sich dafür kaufen an Betreuungsleistungen?

    Schmidt: Damit können Sie eine ganze Menge, weil Sie in niedrigschwelligen Angeboten, weil wir Gott sei Dank vor Ort viele Menschen haben, die sich engagieren, die auch sowohl professionell als auch vom Ehrenamt her mitarbeiten, dass die Betreuung organisieren. Ich habe mir vieles angeschaut. Manchmal ist für die Familien derer, die einen demenziell Erkrankten betreuen, wichtig, dass sie die Auseinandersetzung haben mit anderen, dass sie Hilfe bekommen, dass sie geschult werden oder dass sie sich stundenweise Entlastung einkaufen können. Wir haben jetzt auch gesagt, dass die Familien, die pflegen, die Tages- und Nachtpflege in Anspruch nehmen, um sich ein Stück zu entlasten, dass hier 150 Prozent der Leistungen gezahlt werden. Aber es ist nicht nur das Geld, sondern es ist das Angebot vor Ort, die Organisation von professioneller Hilfe, zivilbürgerschaftlichem Engagement und vor allen Dingen, dass einer da ist, der den zu Pflegenden begleitet und der alles koordiniert und die Hilfen, die aus verschiedenen Bereichen kommen, aus der Altenhilfe, aus der Behindertenhilfe und anderes mehr, so organisiert, dass es eine optimale Betreuung gibt.

    Heckmann: Ein wichtiger Punkt, Frau Schmidt, sind die Qualitätskontrollen, die Sie gerade schon angesprochen haben. In der Regel sollen die in Zukunft unangemeldet erfolgen - einmal im Jahr. Die Pflegekassen stellen dann die Ergebnisse ins Internet und bis Ende des Jahres soll ein Bewertungssystem erstellt werden, wie diese Ergebnisse aufbereitet werden. Im Gespräch ist da ein Ampelschema. Wird dieses Ampelschema kommen, damit die Menschen sich orientieren können?

    Schmidt: Ob es jetzt genau die Ampel ist oder ob es ein anderes Schema ist, aber eines, wo ich eine Einrichtung betrete oder einen ambulanten Pflegedienst betrete und wo dieses aushängt und ich kann sehen: Hier ist gut gepflegt worden, hier gibt es vielleicht da und da Mängel, die werden behoben, hier ist schlecht gepflegt worden. Und ich setze darauf, dass niemand in diesem Land dann eine Einrichtung wählt, die das Zertifikat hat: schlechte Pflege. Darüber verspreche ich mir viel mehr an Dynamik für eine Verbesserung der Qualität, als man das sonst über Gesetze machen kann, sondern nur Transparenz hilft, dass der Bürger erkennen kann: Dort gehe ich hin, oder dort gehe ich nicht hin.

    Heckmann: Frau Schmidt, wenn Sie sich Ihr Leben im Alter vorstellen, machen Sie sich dann manchmal auch Sorgen?

    Schmidt: Jeder macht sich glaube ich Sorgen. Die Frage: Wie lange bin ich denn selbständig? Kann ich mir helfen oder was auch immer? Bin ich schwer krank? Die Sorgen, glaube ich, macht sich jeder. Ich bin aber in einem sehr guten Familienkreis aufgewachsen. Ich weiß, dass meine Familie da ist. Aber ich weiß auch - und das muss ich hier auch mal sagen -, dass es viele, viele Menschen gibt, die professionell oder ehrenamtlich in diesem Bereich tätig sind und auch denen helfen, die die Familie nicht haben. Ohne diese Menschen, denen ich sehr dankbar bin, würde vieles in Deutschland nicht passieren. Das ist dann nicht eine Frage des Geldes, sondern davon, dass wir genügend finden, die bereit sind, diese wertvolle Arbeit zu leisten.