Tarifpflicht in Kraft getreten
Höhere Löhne gegen den Personalmangel in der Altenpflege

Die neue verpflichtende Tarifbezahlung in der Altenpflege ist für die Beschäftigten ein Grund zum Feiern. Für viele Pflegebedürftige und deren Angehörige stellen die Lohnsteigerungen eine finanzielle Herausforderung dar. Politik und Sozialverbände sehen Handlungsbedarf.

    Eine Altenpflegerin hilft einer Seniorin beim halten eines Trinkbechers
    Die ab 1. September verpflichtende tarifliche Bezahlung in der Altenpflege sorgt für Gehaltssteigerungen um bis zu 30 Prozent (imago images / mhphoto / Mario Hösel via www.imago-images.de)
    Unter dem Kürzel GVWG wurden im vergangenen Jahr Neuregelungen in der Pflege beschlossen, die zum 1. September in Kraft treten. Ein zentraler Punkt des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) ist dabei: Pflege- und Betreuungskräfte in der ambulanten Pflege und in Pflegeheimen müssen ab sofort nach Tariflohn bezahlt werden. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist es nicht, denn lange gab es in der Pflegebranche nicht einmal einen Arbeitgeberverband, mit dem man hätte verhandeln können. Jetzt steigen die Löhne enorm. Doch die Neuregelung bringt auch Probleme mit sich.

    Woher kommen die höheren Löhne in der Altenpflege?

    Im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) tritt ab 1. September die sogenannte Tariftreueregelung in Kraft. Damit werden ambulante Pflegedienste und Pflegeheime, die bislang nicht nach Tarifverträgen bezahlt haben dazu verpflichtet, ihren Mitarbeitenden höhere Löhne zu zahlen.
    Die Unternehmen können dabei zwischen drei Optionen wählen: Sie können nach einem eigenen Tarifvertrag zahlen, sich an den Tarifvertrag eines Konkurrenten anlehnen oder ein sogenanntes regional übliches Entgelt zahlen - einen Lohn also, der das durchschnittliche Niveau im Bundesland widerspiegelt. Lange war unklar, ob die Löhne durch die komplizierte Regelung wirklich steigen. Jetzt ist klar: Sie tun es, und zwar enorm. Je nach Bundesland macht das zwischen 10 und 30 Prozent mehr aus. In Berlin beispielsweise werden Pflegefachkräfte, die bisher den Pflegemindestlohn und somit etwa 3.000 Euro Brutto monatlich verdient haben, bei regional üblichem Entgelt künftig fast 4.000 Euro brutto verdienen. Allerdings erhalten die Beschäftigten in der Altenpflege immer noch rund 700 Euro im Monat weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen in der Krankenpflege.
    Das Gesetz ist kurz vor der Bundestagswahl 2021 von der Großen Koalition noch relativ zügig beschlossen worden, weil es Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht gelungen war, einen flächendeckenden Tarifvertrag für die Pflegebeschäftigten herbeizuführen.

    Pflegekräfte in Deutschland

    Eine Grafik zeigt wie viele Menschen in der Pflege in Deutschland arbeiten
    Rund 1,8 Millionen Menschen arbeiteten Ende 2020 in der Pflege in Deutschland, rund 1,2 Millionen davon in der Krankenpflege und 0,6 Millionen in der Altenpflege. (picture alliance/dpa/dpa-infografik GmbH | dpa-infografik GmbH)

    Wie ist die Personalsituation in der Altenpflege?

    Aktuell gibt es in Deutschland 1,6 Millionen Pflegekräfte, darunter knapp 630.000 in der Altenpflege. Das wird aber nicht reichen, denn allmählich kommen die sogenannten Babyboomer in die Jahre und in die Pflege.
    Das Gesundheitsministerium rechnete zuletzt für 2050 mit rund 6,5 Millionen pflegebedürftigen Menschen in der sozialen Pflegeversicherung. Der Pflegekräftenachwuchs allerdings wird nicht in dieser Größenördnung nachwachsen. Auch wenn die Prognosen über die zu erwartende Versorgungslücke unterschiedlich ausfallen, ist unklar, wie und vor allem woher die fehlenden Fachkräfte kommen sollen. Schon jetzt besteht ein bundesweiter Fachkräftemangel bei examinierten Pflegefachleuten in nahezu allen Bereichen.
    Ein Lösungsansatz ist die Anwerbung von Pflegekräften im Ausland. 2021 kamen die meisten zugewanderten Pflegerinnen und Pfleger aus Polen, Bosnien und Herzegowina, der Türkei, Rumänien und Kroatien.

    Fachkräftebedarf in der Altenpflege in den Jahren 2015 bis 2035

    Grafik zeigt Fachkräftebedarf in der Altenpflege in den Jahren 2015 bis 2035
    Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft könnte die Zahl der benötigten Altenpfleger bis zum Jahr 2030 bundesweit auf insgesamt 461.320 anwachsen (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)

    Welche Kritik gibt es an der Tarifbezahlung?

    "Die Löhne der Pflegekräfte in den Heimen steigen erheblich, und das ist gewollt. Endlich wird ihre wichtige Arbeit besser entlohnt", sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur neuen Tarifpflicht in der Altenpflege. Doch diese Freude teilen nicht alle. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VDK, warnte etwa vor dem ersten September 2022 als "Tag des jüngsten Gerichts für Pflegebedürftige". Viele Anbieter von Pflegediensten oder Träger von Einrichtungen könnten die Kosten, die durch die höheren Löhne entstehen, an die Pflegebedürftigen weitergeben.
    Damit rechnet auch der gelernte Kranken- und Altenpfleger Marcus Jogerst-Ratzka. Als Folge würden Pflegebedürftige künftig vermutlich versuchen, einen stationären Aufenthalt hinauszuzögern, um das Vermögen zu schonen: "Wenn da ein Haus ist - das kann unter Umständen weg sein", sagte Jogerst-Ratzka im Interview mit Deutschlandradio Kultur.
    Zwar werden die Pflegeheime noch mit den Pflegekassen verhandeln, aber schon heute müssen Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen mit Eigenanteilen von 2.500 Euro pro Monat rechnen. Darin enthalten sind Eigenbeteiligungen für die Pflegekosten, Ausbildungskosten, sogenannte Investitionskosten sowie Kosten für Unterkunft und Verpflegung.
    Dieser Eigenanteil könnte jetzt noch mal deutlich steigen. Schon jetzt können viele Menschen ihre Pflege nicht mehr alleine bezahlen. Bei den Heimbewohnerinnen und -bewohnern sind es 30 bis 40 Prozent, die Sozialhilfe beziehen müssen. Das zahlen die Städte und Kommunen. Die Rufe nach einer Reform der Pflegeversicherung werden deshalb nun immer lauter. Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat für Endes Jahres die Vorstellung von Reformplänen angekündigt.
    Pflegeversicherung
    Sie wurde 1995 als neuer eigenständiger Zweig der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt. Es besteht eine umfassende Versicherungspflicht für alle gesetzlich und privat Versicherten. Das bedeutet, dass jeder, der gesetzlich krankenversichert ist, automatisch in der sozialen Pflegeversicherung versichert ist, und jeder privat Krankenversicherte eine private Pflegeversicherung abschließen muss. Zum 1. Januar 2017 sind im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) die neuen Pflegegrade 1 bis 5 eingeführt worden, welche die bisherigen Pflegestufen 1 bis 3 ersetzen: je höher der Grad, desto mehr Versorgung brauchen die Betroffenen.

    Welche Kosten kommen auf Pflegebedürftige zu?

    Die ambulante Pflege wird teurer, ebenso die Pflegeplätze für Heimbewohnerinnen und -bewohner. Aber: Das Gesetz sieht auch Entlastungen für Pflegebedürftige vor, die bereits am 1. Januar 2022 in Kraft getreten sind. Seitdem zahlt die Pflegeversicherung bei der Versorgung im Pflegeheim neben dem nach Pflegegrad differenzierten Leistungsbetrag einen Zuschlag. 
    Dieser Zuschuss steigt mit der Dauer der Pflege. Für jene, die das erste Jahr in einer stationären Einrichtung leben, wird es also sehr sicher teurer, denn da liegt die Entlastung nur bei fünf Prozent des Eigenanteils an den Pflegekosten. Bei Lohnsteigerungen der Pflegekräfte um bis zu 30 Prozent wird das sicherlich verpuffen. Ab dem zweiten Jahr im Heim aber reduziert sich der pflegebedingte Eigenanteil um 25 Prozent, im dritten Jahr um 45 Prozent, im vierten Jahr sogar um 70 Prozent.
    Quelle: Klemens Kindermann, Ann-Kathrin Jeske, Nastassja Shtrauchler, Statista, Bundesgesundheitsministerium