Jürgen Zurheide: Wir wollen über die Pflege reden. Dass bei der Pflege nicht alles zum Besten steht, das wissen all jene, die mit dem Thema zu tun haben, vor allen Dingen die, die selbst Pflege in Anspruch nehmen müssen und darunter leiden. Jetzt sollte ja der Pflege-TÜV und die Noten alles verbessern, aber das Ergebnis ist ziemlich eindeutig: Die Heime haben fast überall durch die ganze Republik die Note eins. Sie scheidet also aus als wirkliches Unterscheidungskriterium. Jetzt sollen sie möglicherweise abgeschafft werden, da haben wir die Woche verschiedene Aufschläge gehabt. Darüber wollen wir reden mit der Gesundheitsministerin aus Nordrhein-Westfalen, mit Barbara Steffens, die ich zunächst mal ganz herzlich begrüße. Guten Morgen, Frau Steffens!
Barbara Steffens: Schönen guten Morgen!
Zurheide: Frau Steffens, fangen wir an: Pflegenoten abschaffen – Laumann, der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, und Jens Spahn, der für die Gesundheit zuständige Parlamentarier, haben das gesagt. Erstens: Ist es wirklich so eine Katastrophe? Und zweitens: Sollen wir es abschaffen? Also Katastrophe, diese Noten – ja?
Steffens: Ja. So, wie wir die Noten haben, sind die Noten eine Katastrophe, weil die eine Sicherheit vorspielen. Wir haben Durchschnittsnoten, die liegen bei eins Komma so, also die bieten eine Sicherheit, und im Grunde genommen sagen sie überhaupt nichts darüber aus, wie gut die Pflege im Heim wirklich ist, weil es Durchschnittsnoten sind und weil verschiedene Bereiche nacheinander geprüft werden, und da kann dann die Pflege sehr schlecht abschneiden, aber das Essen und der Bewohnergarten ist schön und dann kommt eine gute Endnote raus. Und das Zweite ist: Es wird nicht wirklich die Pflege geprüft, sondern es wird eigentlich geprüft, ob denn die Vereinbarungen zwischen Heim und zwischen Kasse, ob die wirklich erfüllt werden. Also es wird geprüft, ob man alles das, was man auf dem Papier verspricht, zu machen, auch theoretisch macht, und das ist eine Scheinnote und eine Scheinsicherheit.
Zurheide: So, damit sind wir bei der Frage: Abschaffen, wie die beiden Vorgenannten, Laumann und Spahn, gesagt haben, oder Herr Gröhe, der Gesundheitsminister, der da zurückhaltender ist, der sagt, Nein? Wofür sind Sie?
"Schön, wenn die schon längst abgeschafft wären"
Steffens: Also so, wie die Noten heute sind, wäre es schön, wenn die schon längst abgeschafft wären, weil wir haben zum Beispiel die Situation, dass wir Heime haben, die mit 1,3 geprüft werden und die die Heimaufsicht trotzdem schließen muss, weil wir eine gefährliche Pflege haben. Das kann nicht sein, deswegen: Diese Noten gehören abgeschafft. Aber wo ich sehr nah bei Herrn Gröhe bin, ist: Wir können nicht ersatzlos für die Menschen jede Orientierung streichen, sondern das, was wir bräuchten, wäre was anderes. Die Menschen bräuchten zum Beispiel eine realistische Einschätzung, wie ist denn wirklich die Pflege, wie ist denn wirklich das Essen – aber nicht diese Durchschnittsnoten. Also Qualitätsorientierung ja, da gibt es aber auch andere Systeme, die man weiterentwickeln könnte, ein sogenanntes Indikatorenmodell, oder es gibt die Möglichkeit, dass die Ergebnisqualität bei wirklich allen Pflegebedürftigen und nicht nur stichpunktartig mal bei dem einen oder anderen geprüft wird. Damit wüsste man eher, wo will ich hin, weil dann kann man sagen, okay, das Essen ist schlecht, der Garten ist gut, Essen ist mir nicht wichtig, da will ich hin. Aber mit diesen Durchschnittsnoten hat man keine Orientierung.
Zurheide: Nun, wie viel Zeit haben wir? Weil es in der Pflege, wie ich vorhin gesagt habe, um die Pflege nicht zum Besten steht, müsste ja schnell irgendwas passieren. Wie schnell halten Sie denn Änderungen für realistisch, und gibt es da eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern, oder dauert das wieder, wie normalerweise im Gesundheitssystem, Jahre?
Steffens: Also das Problem ist, dass das alles Schritte und Maßnahmen sind, die der Bund alleine machen will, alleine machen kann und nicht macht. Das ist genauso wie der Pflegebedürftigkeitsbegriff, auf den wir seit Jahren warten, dass er neu definiert wird, so ist das auch mit den Pflegenoten. Ganz viele Experten und Expertinnen sagen: So gehen sie nicht, macht was Neues! Alleine dadurch, dass Gröhe sagt, wir brauchen sie noch, und Spahn und Laumann sagen, sie müssen weg, sieht man schon dran: Da werden die Herren sich wahrscheinlich nicht so schnell einigen. Das heißt, wir werden weiter warten und werden weiter mit dem defizitären System leben müssen. Wichtig wäre es aber, dass da Handlungen passieren, dass Veränderungen passieren, wie gesagt, beim Pflegebedürftigkeitsbegriff. Das Einzige, wo es gerade Diskussionen mit den Ländern gibt, ist in der Frage: Welche Rolle sollen die Kommunen spielen in der Pflege? Aber auch da sehe ich noch nicht, dass wir zu so richtig guten Ergebnissen kommen, weil da auch die unterschiedliche Bewertung sehr weit auseinander ist.
Zurheide: Nun hat die Bundesregierung ja über das Pflegestärkungsgesetz etwas getan. Es gibt auch ein Stück mehr Geld im System, was eigentlich positiv ist, was jeder begrüßen wird, der die Situation kennt. Warum ist der Pflegebegriff aus Ihrer Sicht jetzt so wichtig?
Tropfen auf den heißen Stein
Steffens: Also das Problem ist erst mal: Jetzt ist ein bisschen mehr Geld reingekommen – da kann man sagen, ist schön, aber es ist auch nicht zielgerichtet dahin gekommen, wo es eigentlich hin müsste. Wir bräuchten nach wie vor eine weitere Stärkung des ambulanten Bereichs, also auch der Menschen, die Pflegeversorgung in ihren eigenen vier Wänden wollen oder in kleineren Haus- und Wohngemeinschaften. Das ist wieder nicht so passiert. Für die stationäre Pflege gibt es sehr viel mehr Geld, deswegen sind da falsche Anreize gesetzt. Es gibt nicht mehr Geld in dem Maße, wie es notwendig ist für Menschen mit Demenz. Also das war ein Tropfen auf den heißen Stein. Und der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist so wichtig, weil heute haben wir diese Minutentaktpflege, also da gibt es dann so und so viele Minuten für Zähneputzen, für Kämmen, für Waschen. Das ist alles bezogen auf die Verrichtung, die die Pflegekraft macht. Die wissen aber, dass der alte Mensch, wenn er Unterstützung braucht, auch das Gespräch braucht, dass er auch gerade, wenn er demenziell erkrankt ist, nicht in den drei Minuten unbedingt die Zähne geputzt bekommen kann, weil er vielleicht gar nicht mehr weiß, wofür das sinnvoll ist. Also dieses muss weg, und es muss stärker an den Bedürfnissen des Menschen orientiert werden. Und dafür ist diese Neudefinition wichtig, damit nicht Pflege definiert wird als Minutenschubladen, sondern Pflege definiert wird als das, was den Menschen auch zufrieden macht, was ihm hilft und was ihn begleitet. Und das ist vor allen Dingen auch so wichtig auch für die Pflegefachkräfte. Was viele der Menschen, die in der Pflege arbeiten, sagen: Diese Minuten, die setzen mich unter einen solchen Druck und die geben mir nicht die Freiheit, die ich brauche, zu gucken, was braucht der Mensch, um glücklich zu sein, um zufrieden zu sein, damit es ihm gut geht. Und das muss eigentlich das Ziel von Pflege sein, und nicht, dass man einen Minutenplan mit Häkchen versieht! Und da brauchen wir diese Neudefinition. Aber ich sage mal: Alles, was ich im Moment höre – da bin ich sehr pessimistisch, ob das, was die Menschen brauchen in der Pflege, da auch wirklich rauskommt, oder ob wir da nicht wieder, wie auch schon bei anderen Maßnahmen, dabei sind, dass man einfach nur versucht: Wie verteilen wir das Geld anders, und nicht, wie sorgen wir dafür, dass die Pflege für die Menschen besser wird?
Zurheide: Die Pflege für die Menschen muss besser werden, deshalb braucht es einen Pflegebegriff; die Noten kann man, so, wie sie jetzt sind, abschaffen. Das war ein klares Plädoyer von Barbara Steffens, der grünen Gesundheitsministerin aus Nordrhein-Westfalen. Frau Steffens, ich bedanke mich für das Gespräch!
Steffens: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.