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Pflegebeschlüsse
"Das ist noch nicht mal ein kleiner Wurf"

Mit sofortiger Wirkung sollen 8.000 Pflegekräfte eingestellt werden. Zudem sollen Tarifverträge erwirken, dass dabei auch die Gehälter flächendeckend stimmen. Mit ihrer Absichtserklärung hat die Politik "die Dramatik der Situation nicht wirklich erkannt", sagte Stefan Sell, Professor an der Hochschule Koblenz, im Dlf.

Stefan Sell im Gespräch mit Katja Scherer |
    Eine Krankenschwester im Flur des Klinikums Carl Gustav Carus in Dresden neben einem Patienten im Rollstuhl.
    "Das heißt noch nicht mal eine Stelle für jedes Heim zusätzlich." (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Katja Scherer: Zuerst aber blicken wir nach Berlin, zu den Gesprächen zur Großen Koalition. Dort haben Union und SPD einen Kompromiss bei der Pflege erzielt. Zum einen sollen mit sofortiger Wirkung 8.000 neue Pflegefachkräfte eingestellt werden. Und damit künftig auch die Gehälter stimmen, wollen Union und SPD gemeinsam mit den Tarifpartnern dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Pflege künftig flächendeckend zur Anwendung kommen. Das klingt allerdings noch sehr inkonkret und genau das kritisiert auch Pflegeexperte Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. Ich habe mit ihm vor der Sendung gesprochen und ihn gefragt: 8.000 neue Pflegekräfte – wieviel bringt das denn der Branche?
    Stefan Sell: Das, was heute verkauft wurde als eine Einigung bei dem Thema Pflege, irritiert den Beobachter, denn genau diese Punkte, die heute genannt werden, stehen schon im Sondierungs-Ergebnispapier vom 12. Januar genau so drin als Absichtserklärung. Fangen wir mal bei den 8.000 zusätzlichen Pflegekräften an. Das hört sich nur im ersten Moment viel an. Sie müssen das zum einen darauf beziehen, dass wir über 13.000 Pflegeeinrichtungen haben im Bereich der Altenpflege. Das heißt noch nicht mal eine Stelle für jedes Heim zusätzlich. Also schlichtweg an dieser Stelle eine Kapitulation vor der eigentlichen Personalherausforderung.
    Flächendeckende Tarifverträge
    Scherer: Ein anderes Thema, was im Tarifvertrag angesprochen wurde, das waren die flächendeckenden Tarifverträge, weil ein Grund, dass man so wenig Leute findet für diesen Beruf, sind ja auch die niedrigen Gehälter. Können flächendeckende Tarifverträge etwas daran ändern?
    Sell: Diese Ankündigung irritiert denjenigen, der sich mit Arbeitsmarkt- und vor allem Tarifvertragsfragen beschäftigt, mindestens genauso wie das Ausweichen vor der eigentlichen Personalknappheitsfrage. Warum? – Wir müssen sehen: Gerade der Bereich der Altenpflege zeichnet sich leider dadurch aus, dass es dort entweder Anbieter gibt wie die beiden Kirchen, katholisch/evangelisch, die ihr eigenes Arbeitsvertragsrechtswerk haben. Das ist so eine Art Tarifvertrag, aber der wird nicht mit Gewerkschaften im Regelfall ausgehandelt, sondern die haben hier ein Sonderarbeitsrecht. Und bei den anderen, vor allem den privat-gewerblichen Anbietern, die sehr stark vertreten sind in der Pflege, haben wir entweder überhaupt keine Tarifverträge, oder wenn, dann Haustarifverträge. Der gewerkschaftliche Organisationsgrat der Beschäftigten in der Altenpflege liegt bei zehn, manchmal unter zehn Prozent. Das heißt, die Voraussetzungen dafür, hier einen Tarifvertrag oder mehrere Tarifverträge zu stärken, sind schon mal sehr schlecht.
    Jetzt stellen uns heute die beiden Parteien in Aussicht, man wolle gesetzliche Regelungen machen, um das zu erleichtern. Ich frage mich, ehrlich gesagt, wie soll das passieren. Und Sie finden nichts Konkretes, nur diese Ankündigung, man wolle da etwas machen. Ich bin, ehrlich gesagt, gespannt, wie man diese Kuh vom Eis bekommen möchte.
    Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Gehälter
    Scherer: Welche Regelung hätten Sie sich denn konkret gewünscht?
    Sell: Ich glaube, wir müssen zwei Schneisen jetzt unbedingt in den Wald schlagen. Zum ersten haben wir die Situation, dass die Altenpflege wirklich uns derzeit gerade unterm Hintern wegbricht, weil wir dort viel zu wenig Personal haben und der Bedarf kontinuierlich steigt. Jetzt muss man die Arbeitsbedingungen dort verbessern und Arbeitsbedingungen bedeutet einmal die Gehälter. Man muss wissen, dass die Altenpflegekräfte bis zu 30 Prozent weniger bekommen als die Krankenpflegekräfte in den Krankenhäusern. Um das attraktiver zu machen, müssten wir mindestens das Gehaltsgefälle zwischen der Alten- und der Krankenpflege aufheben. Das würde uns knapp sechs Milliarden Euro im Jahr kosten, wenn wir das machen würden.
    Zweitens müssen wir aber auch für mehr Personal sorgen. Das würde man nur hinbekommen, wenn man in einem Kraftakt hingeht und sagt, trotz aller Unterschiede und Differenzen, wir brauchen einen Tarifvertrag, der wirklich dann auch über die Bundesländer hinweg allgemein verbindlich erklärt wird, damit sich alle Pflegeheimbetreiber daran halten müssen. Davon hören wir derzeit leider nichts.
    Scherer: Die Gehälter – da haben Sie einen Punkt angesprochen, was ja auch die SPD im Wahlkampf gefordert hatte: mindestens 30 Prozent mehr, davon war die Rede. Ist das, was jetzt am Ende dabei herausgekommen ist in Sachen Pflege, ist das der große Wurf, der angekündigt war?
    Sell: Nein, das ist kein großer Wurf. Das ist noch nicht mal ein kleiner Wurf, sondern hier ist man im wahrsten Sinne des Wortes als putziger Bettvorleger gelandet – leider in einem Bereich, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Ich habe den Eindruck, man hat nicht die Dramatik der Situation wirklich erkannt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.