Silvia Engels: Dass es in einer alternden Gesellschaft schwierig ist, gute Pflege zu finanzieren, ist keine Neuigkeit, und auch der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und Seniorenheimen hat sich herumgesprochen. Gestern wurden neue Zahlen bekannt, die stimmen nicht optimistisch. Zum einen steigt die Zahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern nur langsam, 2017 waren es laut Statistischem Bundesamt nur 3.400 Pflegekräfte mehr als im Jahr zuvor, ein Zuwachs von gerade einmal einem Prozent. Und im Bereich der Pflegeversicherung steigt die Zahl der Empfänger rasant.
Laut einer Studie der Universität Duisburg-Essen waren es 2017 3,3 Millionen Pflegeberechtigte, das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Ausgaben wuchsen um 16,9 Prozent auf nun schon 35,5 Milliarden Euro. Am Telefon ist Andreas Westerfellhaus von der CDU. Er ist gelernter Pfleger, war lange Zeit Präsident des Deutschen Pflegerats, und er ist nun der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Westerfellhaus!
Andreas Westerfellhaus: Guten Morgen, Frau Engels!
Engels: Haben Sie diese doch dramatische Entwicklung bei den Zahlen erwartet?
Westerfellhaus: Ja. Diese Zahlen sind nicht neu. Sie unterstützen die Kenntnisse der letzten Monate, und deswegen letztendlich ist die Bundesregierung, und das muss ich in aller Deutlichkeit auch mal zu den Verlautbarungen von gestern sagen, ja sehr aktiv geworden in diesen wenigen Monaten der Amtszeit, der Regierungszeit. Ob Minister oder Pflegebevollmächtigter, über die Koalition hinaus, sich genau mit diesem Thema Pflege zu beschäftigen. Und ich lasse auch den Vorwurf nicht gelten, neue Programme, neue Minister und alles bleibt ganz gut. Ich denke, die Ernsthaftigkeit der Situation ist angekommen, aber wir müssen jetzt auch die Gelegenheit haben, zu arbeiten und diese Dinge zu liefern. Und daran sollte man uns messen und nicht an irgendwelchen Aussagen, die natürlich zu Beginn einer Maßnahme stehen müssen.
"Menschen sind bereit, diese Kosten zu tragen"
Engels: Versuchen wir es ein bisschen zu sortieren. Der Anteil derjenigen, die jetzt berechtigt sind, Pflegeleistungen zu erhalten, ist deutlich angestiegen, ich habe es angesprochen. Das liegt ja auch daran, dass es ja bei der letzten Pflegereform darum ging, auch den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern, gerade im Bereich der Demenz. Insofern ist diese Entwicklung ja auch so angelegt gewesen. Aber ist die Finanzierung darauf vorbereitet?
Westerfellhaus: Na ja, wissen Sie, erst mal das, was Sie richtig gesagt haben – es ist zu begrüßen, dass gerade in der letzten Legislaturperiode ja genau die Verbesserungen für die Patienten eingetreten sind. Also neue Pflegegrade, eine ganz andere Herangehensweise an die Versorgung, mehr ressourcenorientiert. Und was das letztlich in einer Umstellungsphase, in einer Neubewertung letztendlich auch ausmacht am Beitragssystem, das muss man auf dem Weg sicherlich dann erkennen und begleiten, und daraufhin hat die Bundesregierung ja bereits reagiert. Der Bundesgesundheitsminister hat ja letztendlich auch eine Kostensteigerung in Aussicht gestellt.
Und das Erstaunliche und das Gute daran ist ja, dass die Menschen, das bestätigen ja Umfragen, in dieser Gesellschaft auch sagen, dass sie bereit sind, diese Kosten denn dann zu tragen, sofern diese Leistungen, die daraus resultieren müssen, auch bei ihnen ankommen.
Engels: Beiträge zur Pflegeversicherung steigen, aber um wie viel? Was, denken Sie, ist kurz- und mittelfristig da nötig?
Westerfellhaus: In diese Diskussion mag ich mich ungern einmischen, weil der Bundesgesundheitsminister hat bereits Zahlen vorgelegt, und Sie kennen die Situation, das Innenministerium berechnet, was wird nötig sein. Aber ich denke, man muss auch immer gucken, was will ich da letztendlich mit erreichen. Und dass man sich jetzt damit auseinandersetzt, ob das nun ausreicht oder nicht, ich bin dabei, zu sagen, hier ist ein vernünftiger Vorschlag vorgelegt worden, wie eine Beitragssatzsteigerung in den nächsten Jahren aussehen kann. Und außerdem haben wir dann die Möglichkeit, im Rahmen von Dynamisierung sicherlich auch die Möglichkeiten, noch weiter nachzusteuern. Natürlich ist die Belastung derjenigen, die es tragen muss, endlich. Das ist auch klar.
"Wir brauchen eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen"
Engels: Dann tragen wir kurz die Zahl noch nach, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ja genannt hatte. Erst Mitte Juni hatte er angekündigt, dass der Satz zum 1. Januar um 0,3 Punkte steigen muss, möglicherweise müssten es aber 0,5 Punkte werden. So weit dazu. Dann schauen wir auf den anderen großen Themenkomplex in diesem Zusammenhang. Da geht es um die Personalausstattung. Mehr Pflegebedürftige, aber, wir haben es gerade gehört, zumindest in den Krankenhäusern gibt es derzeit kaum mehr Personal. Insgesamt in der Alten- und Krankenpflege 35.000 Stellen weiterhin unbesetzt. Was kann denn dieses Milliardenpaket von Gesundheitsminister Spahn für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege bewirken, wenn es diese Fachkräfte einfach nicht gibt?
Westerfellhaus: Wir müssen dies noch mal sauber trennen, diese 13.000 Stellen, die angedacht sind, sind für die Behandlungspflege in der Altenpflege dann vorgesehen. Und wir, sowohl der Bundesgesundheitsminister und ich auch haben immer gesagt, das ist der Einstieg, und das ist der Anfang. Wir haben vor wenigen Wochen in Berlin die konzertierte Aktion Pflege mit fünf Schwerpunkten dann letztendlich gestartet, und wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt über die Frage der Rahmenbedingungen, unter denen Menschen arbeiten in der Pflege, im Rahmen der Ausbildung, der Bezahlung, der Zuwanderung, und hier dann letztendlich innerhalb von zwölf Monaten Ergebnisse zu liefern. Das heißt auch übrigens nicht, innerhalb von zwölf Monaten, wir nutzen diese Zeit aus, sondern wir werden auch da, wo wir eher fertig sind, diese Dinge denn dann liefern. Das ist der Einstieg, und das ist der Beginn.
Und ich kann natürlich den einen oder anderen verstehen, der sagt, natürlich reichen 13.000 nicht, aber 13.000, dass die reichen, hat auch niemand gesagt. Ich will aber auf eins auch hinweisen. Einfach nur zu sagen, ich brauche 10.000, 20, 30, 40.000 Pflegekräfte in unterschiedlichen Sektoren mehr, ist möglicherweise auch der falsche Weg. Ich glaube, wir brauchen insgesamt auch eine Neujustierung in den Gesundheitsberufen, das heißt, wie arbeitet man zusammen, wie sehen die unterschiedlichen Aufgabenfelder auch in der Pflege aus, wo gibt es Pflegeassistenz, wo gibt es Pflegefachkraft, wo gibt es weitergebildete und akademisch qualifizierte Pflegende, und wie arbeiten sie im Zusammenspiel mit Physiotherapeuten, mit Ergotherapeuten und mit Ärztinnen und Ärzten zusammen. Gesundheitsversorgung ist ein gemeinsames Ziel der Gesundheitsberufe und deswegen trete ich ein für eine Neujustierung der Gesundheitsberufe in der Zusammenarbeit.
"Ein Arbeitgeber, der keinen Tariflohn zahlt, wird schlechter abschneiden"
Engels: Qualifizierung, Ausbildung, das sind Punkte, die ganz oben auf der Agenda stehen, aber die Bezahlung, die ist ja auch immer wieder ein Knackpunkt. Wie will man hier bessere Bezahlung durchsetzen, wenn 80 Prozent der Beschäftigten gar nicht tarifgebunden arbeiten und auch die Träger der Pflege sagen, wir haben nicht genug Geld.
Westerfellhaus: Auch das hat wieder mal natürlich zwei Seiten. Eine gute, wertvolle Arbeit muss gut und wertvoll bezahlt werden. Es kann nicht sein, dass im Handwerk deutlich bessere Löhne gezahlt werden als in einem so wichtigen Beruf wie in der qualifizierte Pflege. Das ist erst mal unbestritten. Es kann auch nicht sein, dass es regionale Unterschiede gibt zwischen Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Mecklenburg-Vorpommern. Auch das ist nicht möglich, die Arbeit ist überall gleich, die muss überall gut bezahlt werden.
Die Kostenträger haben gesagt, sie refinanzieren Löhne dann, wenn die Transparenz hergestellt wird, dass dieses Geld, was sie geben aus ihren Kassen, letztendlich auch für Tariflöhne dann gezahlt wird. Da gibt es noch einige, die sich zieren, genau diese Transparenz herbeizuführen. Und deswegen setze ich mich dafür ein mit anderen, zu sagen, wie kommen wir dahin, dass wir flächendeckende Tariflöhne dann letztendlich auch durchsetzen können. Das ist keine einfache Aufgabe, das wissen alle Beteiligten. Aber wenn das Gemeinwohl im Vordergrund steht, dann muss es im Sinne aller liegen, dies dann letztendlich auch durchzusetzen.
Und auf Dauer wird auch ein Arbeitgeber, der keinen Tariflohn zahlt, schlechter dabei abschneiden. Bei dem Personalmangel, der in der Pflege herrscht, wird doch eine Pflegekraft sich den attraktivsten Arbeitgeber dann aussuchen, der auch vernünftig bezahlt und letztendlich auch vernünftige Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt.
Engels: Sie kennen das System der Pflege sehr lang. Ihre Einschätzung: Wie viele Jahre vergehen, bis sich die Schere zwischen zu wenig Personal einerseits und mehr Pflegebedürftigen andererseits schließt?
Westerfellhaus: Das ist sicherlich schwer vorauszusagen. Und wenn ich einen Wunsch hätte und in dieser Kiste mich bewegen dürfte, dann würde ich sagen, innerhalb von ein bis zwei Jahren. Das ist möglicherweise visionär, aber ich finde, hier sind deutliche Zeichen gesetzt, weil sowohl der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wie auch ich sagen immer wieder und werden nicht müde, wir wollen, dass Ende dieses Jahres die Pflegenden und die Pflegebedürftigen merken, es tut sich was, und wir wollen am Ende des nächsten Jahres dann auch hören, dass mal gesagt wird, es tut sich tatsächlich was, wir merken, dass es spürbar bei uns angekommen ist. Und das ist der Schritt. Das ist keine Aufgabe, die innerhalb einer Legislaturperiode zu erledigen ist. Das ist ganz klar. Das heißt aber auch nicht, dass man sich auf das Polster legt und sagt, jetzt haben wir mal ein bisschen Zeit. Wir wissen alle, dass wir genau diese Zeit eben nicht haben, dass es drängt. Dafür brauchen wir auch die Unterstützung der Gesellschaft und all derjenigen, die es angeht.
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