"Nicole sieht jetzt einfach auch, je älter sie wird, dass dieses Leben, das die Mutter führt, einfach nicht erstrebenswert ist, und dass es für sie schrecklich wäre im Grunde, da wieder zurückzukehren in diese Umgebung. Dass sie da keine Chance hat. Ich denke, die Sehnsucht nach der Mutter bleibt immer."
Nicole ist das Pflegekind von Friedlinde D. Seit drei Jahren lebt die 14-Jährige bei ihr und dem Pflegevater im Süden von Berlin. Der Beginn dieser Beziehung liegt jedoch weiter zurück. Das Ehepaar hatte vor mehr als zehn Jahren eine Patenschaft für das Mädchen übernommen: Nicole verbrachte ganze Wochenenden in dem großen Haus mit Garten, und einmal im Jahr gab es eine gemeinsame Reise mit den Pflegeeltern und deren Sohn. Dann kam der Wendepunkt: Weil die leibliche, allein erziehende Mutter sich immer mehr verschuldete und die Wohnung vermüllte, nahm das Jugendamt Nicole aus diesem Umfeld heraus. Nun ist sie eines von rund 50.000 Pflegekindern in Deutschland. Elisabeth Helming, Soziologin am Deutschen Jugendinstitut mit dem Schwerpunkt Familie und Familienpolitik:
"Wir haben in Deutschland ein sehr gut ausgebautes Angebot ambulanter Hilfen. Die werden erstmal in den Familien eingesetzt, um auch den Kindern, die eigene, die Herkunftsfamilie zu erhalten. Wenn Kinder dann fremdplatziert werden, vor allen Dingen auch in Pflegefamilien mit dieser Option, dass es für eine längere Zeit sein wird, dann ist dem sehr viel vorher gegangen. Also die Kinder sind sehr belastet."
Die Wissenschaftler vom Deutschen Jugendinstitut befragten nicht nur die Pflegekinder und Pflegeeltern, sondern auch die leiblichen Eltern. Sie untersuchten in vier Kommunen mehr als 600 Pflegekindschaftsverhältnisse - und nahmen besonders die psychische und soziale Gesundheit der Kinder unter die Lupe.
13 Prozent der Pflegekinder sind traumatisiert, lautet das Ergebnis der Studie. Knapp zwei Drittel haben Probleme in ihrer Entwicklung oder mit der Schule, sind psychisch krank oder körperlich behindert. Anders bei Nicole: Sie litt in der ersten Zeit bei ihrer neuen Familie unter psychosomatischen Störungen wie Panikattacken oder Kopfschmerzen.
Was viele Pflegekinder außerdem belastet: 30 Prozent werden nach der Trennung von ihrer Familie an zwei oder mehr fremden Orten untergebracht. Eine bittere Erfahrung:
"Diese Zahl ist nicht unbedingt als Scheitern zu qualifizieren. Und trotzdem ist die Zahl der Abbrüche der Pflegeverhältnisse doch relativ hoch, und wir würden auch gerne mit unserer Studie dazu beitragen, Pflegeverhältnisse so zu qualifizieren oder die Jugendhilfe, die sich damit befasst, dass wir das verringern können. Weil wir wissen, dass mehrfache Trennungserfahrungen und Fremdplatzierungen (...) an mehreren Stellen für die Kinder sehr, sehr belastend ist. Das wissen wir auch aus internationalen Studien ganz eindeutig."
Die Kommunikation zwischen Pflegekind, Herkunftseltern und Pflegeeltern ist emotional stark belastet. Nur fünf bis sechs Prozent der Kinder kehren in ihre ursprüngliche Familie zurück. Doch immerhin 60 Prozent treffen ihre leiblichen Eltern mehr oder weniger regelmäßig. Dazu müssen die "alten" und die "neuen" Eltern miteinander in Kontakt treten. Ein schwieriges Unterfangen - sprechen sie doch häufig eine "unterschiedliche Sprache" und leben in gegensätzlichen Welten. Die Pflegemutter Friedlinde D. erzählt über Nicoles leibliche Mutter:
"Sie ruft von selber nicht an, weil sie auch das Geld nicht dafür hat, sie hat nur Handy. Und von selber kommt da nicht viel. Also da müsste ich jetzt heute anrufen, mal so eben für fünf sechs Euro telefonieren mit ihr. Da würde sie mir erzählen, was so Sache ist, würde aber unter Umständen kaum nach Nicole fragen, weil sie mit sich selber so beschäftigt ist, dass das gar keinen Platz mehr hat."
"Das bedeutet, dass die Pflegeeltern und die Kinder - und auch die Herkunftseltern - wirklich mehr und bessere Unterstützung brauchen, um mit diesem schwierigen Dreieck umzugehen,"
sagt Elisabeth Helming vom Deutschen Jugendinstitut. Die Jugendämter und Pflegekinderdienste suchen die Pflegeeltern aus und vermitteln ihnen ein Kind zur Pflege. In der Praxis allerdings stehen häufig die Eltern und Kinder mit ihren Problemen allein da. Erstens lässt der Betreuungsschlüssel in den Jugendämtern zu wünschen übrig. In knapp der Hälfte der Kommunen ist eine Mitarbeiterin im Pflegekinderdienst für mehr als 50 Kinder zuständig - Fachleute empfehlen, maximal 35 Kinder zu betreuen - ansonsten leidet die Beratung und Begleitung aller Beteiligten.
Und zweitens ist in Deutschland die Arbeit mit den Herkunftseltern im internationalen Vergleich schlecht ausgeprägt. Das liegt nicht nur am Zeitmangel - sondern auch an Vorbehalten. Sagt Peter Heinßen, Geschäftsführer des Berliner Pflegekinderdienstes "Familien für Kinder":
"Es ist eine Einstellungssache, es gibt auch verschiedene theoretische Ausrichtungen. Es gibt auch Wissenschaftler, die sagen, das ist nicht gut. Es gibt eine Reihe von Kindern, die beispielsweise von ihren Eltern traumatisiert wurden, die sollen keinen Kontakt haben. Und das bildet sich natürlich dann auch bei Mitarbeitern in Pflegekinderdiensten ab, die sich unter Umständen eben nicht darum kümmern, dass da was stattfindet."
Das Deutsche Jugendinstitut plädiert für den Kontakt zwischen Kindern und leiblichen Eltern. Die Kinder sind stark verunsichert, wenn sie nicht wissen, wie es ihren Eltern geht, argumentieren die Forscher. Sie zu treffen, gebe ihnen ein Gefühl von Kontinuität.
Auch die Eltern trauern, wenn der Kontakt abgebrochen ist.
"Oder wenn auch längere Zeit kein Kontakt bestand, dass eine Mutter im Interview sagte zu mir zum Beispiel: Ich habe meine Tochter zwei Jahre nicht gesehen. Ich weiß gar nicht, wie ich auf sie zugehen soll. Was soll ich der sagen? Soll ich sie umarmen? Was soll ich da machen? Eine andere Mutter schilderte: Das war so schmerzhaft für mich, ich konnte nur weinen. Und dann habe ich beschlossen, ich lasse es erstmal mit diesen Besuchskontakten. Mein Kind soll mich doch nicht immer weinend erleben. Das ist für sie nicht gut und für mich nicht gut. Und dann interpretiert man das: Die haben kein Interesse an diesem Kontakt,"
sagt die Wissenschaftlerin Elisabeth Helming.
Vor allem aber muss sich die Arbeit der Pflegekinderhilfe qualifizieren, meinen die Experten. Noch fehlen bundesweit einheitliche Standards: Etwa für den Übergang des Kindes von der eigenen in die Pflegefamilie. Oder für die Auswahl und Schulung der Pflegeeltern. Peter Heinßen von "Familien für Kinder" weiß, dass diese zwar in Berlin einheitlich angeleitet werden. So manche Kommune aber handhabe das ganz anders:
"Das kann bedeuten, dass eine Familie zum Jugendamt geht und sagt, sie wollen Pflegekinder aufnehmen, zwei Gespräche haben und dann ein Kind in die Hand gedrückt kriegen."
Friedlinde D. jedenfalls fühlt sich bei "Familien für Kinder" gut aufgehoben. Sie kann sich dort fort bilden und jederzeit beraten lassen.
"Jetzt sagt Nicole zur Zeit - ich rede dann ganz offen mit ihr: Hast Du Sehnsucht nach Deiner Mama, wollen wir mal wieder ein Treffen machen? - jetzt sagt sie: Die Mama soll sich mal gefälligst drum kümmern, die soll mal anrufen. Ich will jetzt nicht. Sie ist jetzt auch mal ein bisschen in Antihaltung gegen die Mutter. Weil: Sie ist einfach zu sehr enttäuscht worden."
Nicole ist das Pflegekind von Friedlinde D. Seit drei Jahren lebt die 14-Jährige bei ihr und dem Pflegevater im Süden von Berlin. Der Beginn dieser Beziehung liegt jedoch weiter zurück. Das Ehepaar hatte vor mehr als zehn Jahren eine Patenschaft für das Mädchen übernommen: Nicole verbrachte ganze Wochenenden in dem großen Haus mit Garten, und einmal im Jahr gab es eine gemeinsame Reise mit den Pflegeeltern und deren Sohn. Dann kam der Wendepunkt: Weil die leibliche, allein erziehende Mutter sich immer mehr verschuldete und die Wohnung vermüllte, nahm das Jugendamt Nicole aus diesem Umfeld heraus. Nun ist sie eines von rund 50.000 Pflegekindern in Deutschland. Elisabeth Helming, Soziologin am Deutschen Jugendinstitut mit dem Schwerpunkt Familie und Familienpolitik:
"Wir haben in Deutschland ein sehr gut ausgebautes Angebot ambulanter Hilfen. Die werden erstmal in den Familien eingesetzt, um auch den Kindern, die eigene, die Herkunftsfamilie zu erhalten. Wenn Kinder dann fremdplatziert werden, vor allen Dingen auch in Pflegefamilien mit dieser Option, dass es für eine längere Zeit sein wird, dann ist dem sehr viel vorher gegangen. Also die Kinder sind sehr belastet."
Die Wissenschaftler vom Deutschen Jugendinstitut befragten nicht nur die Pflegekinder und Pflegeeltern, sondern auch die leiblichen Eltern. Sie untersuchten in vier Kommunen mehr als 600 Pflegekindschaftsverhältnisse - und nahmen besonders die psychische und soziale Gesundheit der Kinder unter die Lupe.
13 Prozent der Pflegekinder sind traumatisiert, lautet das Ergebnis der Studie. Knapp zwei Drittel haben Probleme in ihrer Entwicklung oder mit der Schule, sind psychisch krank oder körperlich behindert. Anders bei Nicole: Sie litt in der ersten Zeit bei ihrer neuen Familie unter psychosomatischen Störungen wie Panikattacken oder Kopfschmerzen.
Was viele Pflegekinder außerdem belastet: 30 Prozent werden nach der Trennung von ihrer Familie an zwei oder mehr fremden Orten untergebracht. Eine bittere Erfahrung:
"Diese Zahl ist nicht unbedingt als Scheitern zu qualifizieren. Und trotzdem ist die Zahl der Abbrüche der Pflegeverhältnisse doch relativ hoch, und wir würden auch gerne mit unserer Studie dazu beitragen, Pflegeverhältnisse so zu qualifizieren oder die Jugendhilfe, die sich damit befasst, dass wir das verringern können. Weil wir wissen, dass mehrfache Trennungserfahrungen und Fremdplatzierungen (...) an mehreren Stellen für die Kinder sehr, sehr belastend ist. Das wissen wir auch aus internationalen Studien ganz eindeutig."
Die Kommunikation zwischen Pflegekind, Herkunftseltern und Pflegeeltern ist emotional stark belastet. Nur fünf bis sechs Prozent der Kinder kehren in ihre ursprüngliche Familie zurück. Doch immerhin 60 Prozent treffen ihre leiblichen Eltern mehr oder weniger regelmäßig. Dazu müssen die "alten" und die "neuen" Eltern miteinander in Kontakt treten. Ein schwieriges Unterfangen - sprechen sie doch häufig eine "unterschiedliche Sprache" und leben in gegensätzlichen Welten. Die Pflegemutter Friedlinde D. erzählt über Nicoles leibliche Mutter:
"Sie ruft von selber nicht an, weil sie auch das Geld nicht dafür hat, sie hat nur Handy. Und von selber kommt da nicht viel. Also da müsste ich jetzt heute anrufen, mal so eben für fünf sechs Euro telefonieren mit ihr. Da würde sie mir erzählen, was so Sache ist, würde aber unter Umständen kaum nach Nicole fragen, weil sie mit sich selber so beschäftigt ist, dass das gar keinen Platz mehr hat."
"Das bedeutet, dass die Pflegeeltern und die Kinder - und auch die Herkunftseltern - wirklich mehr und bessere Unterstützung brauchen, um mit diesem schwierigen Dreieck umzugehen,"
sagt Elisabeth Helming vom Deutschen Jugendinstitut. Die Jugendämter und Pflegekinderdienste suchen die Pflegeeltern aus und vermitteln ihnen ein Kind zur Pflege. In der Praxis allerdings stehen häufig die Eltern und Kinder mit ihren Problemen allein da. Erstens lässt der Betreuungsschlüssel in den Jugendämtern zu wünschen übrig. In knapp der Hälfte der Kommunen ist eine Mitarbeiterin im Pflegekinderdienst für mehr als 50 Kinder zuständig - Fachleute empfehlen, maximal 35 Kinder zu betreuen - ansonsten leidet die Beratung und Begleitung aller Beteiligten.
Und zweitens ist in Deutschland die Arbeit mit den Herkunftseltern im internationalen Vergleich schlecht ausgeprägt. Das liegt nicht nur am Zeitmangel - sondern auch an Vorbehalten. Sagt Peter Heinßen, Geschäftsführer des Berliner Pflegekinderdienstes "Familien für Kinder":
"Es ist eine Einstellungssache, es gibt auch verschiedene theoretische Ausrichtungen. Es gibt auch Wissenschaftler, die sagen, das ist nicht gut. Es gibt eine Reihe von Kindern, die beispielsweise von ihren Eltern traumatisiert wurden, die sollen keinen Kontakt haben. Und das bildet sich natürlich dann auch bei Mitarbeitern in Pflegekinderdiensten ab, die sich unter Umständen eben nicht darum kümmern, dass da was stattfindet."
Das Deutsche Jugendinstitut plädiert für den Kontakt zwischen Kindern und leiblichen Eltern. Die Kinder sind stark verunsichert, wenn sie nicht wissen, wie es ihren Eltern geht, argumentieren die Forscher. Sie zu treffen, gebe ihnen ein Gefühl von Kontinuität.
Auch die Eltern trauern, wenn der Kontakt abgebrochen ist.
"Oder wenn auch längere Zeit kein Kontakt bestand, dass eine Mutter im Interview sagte zu mir zum Beispiel: Ich habe meine Tochter zwei Jahre nicht gesehen. Ich weiß gar nicht, wie ich auf sie zugehen soll. Was soll ich der sagen? Soll ich sie umarmen? Was soll ich da machen? Eine andere Mutter schilderte: Das war so schmerzhaft für mich, ich konnte nur weinen. Und dann habe ich beschlossen, ich lasse es erstmal mit diesen Besuchskontakten. Mein Kind soll mich doch nicht immer weinend erleben. Das ist für sie nicht gut und für mich nicht gut. Und dann interpretiert man das: Die haben kein Interesse an diesem Kontakt,"
sagt die Wissenschaftlerin Elisabeth Helming.
Vor allem aber muss sich die Arbeit der Pflegekinderhilfe qualifizieren, meinen die Experten. Noch fehlen bundesweit einheitliche Standards: Etwa für den Übergang des Kindes von der eigenen in die Pflegefamilie. Oder für die Auswahl und Schulung der Pflegeeltern. Peter Heinßen von "Familien für Kinder" weiß, dass diese zwar in Berlin einheitlich angeleitet werden. So manche Kommune aber handhabe das ganz anders:
"Das kann bedeuten, dass eine Familie zum Jugendamt geht und sagt, sie wollen Pflegekinder aufnehmen, zwei Gespräche haben und dann ein Kind in die Hand gedrückt kriegen."
Friedlinde D. jedenfalls fühlt sich bei "Familien für Kinder" gut aufgehoben. Sie kann sich dort fort bilden und jederzeit beraten lassen.
"Jetzt sagt Nicole zur Zeit - ich rede dann ganz offen mit ihr: Hast Du Sehnsucht nach Deiner Mama, wollen wir mal wieder ein Treffen machen? - jetzt sagt sie: Die Mama soll sich mal gefälligst drum kümmern, die soll mal anrufen. Ich will jetzt nicht. Sie ist jetzt auch mal ein bisschen in Antihaltung gegen die Mutter. Weil: Sie ist einfach zu sehr enttäuscht worden."