Sabrina Becker und ihr Mann kümmern sich um eine Adoptivtochter und zwei Pflegekinder. Alle drei haben verschiedene Beeinträchtigungen.
"Ich würde schon sagen, es ist eine tolle Aufgabe, eine anstrengende, aber auch tolle Aufgabe, vor allem, wenn man sieht, wie die Kinder sich entwickeln, welche Ressourcen die haben, die man mit denen zusammen hervorbringen kann", sagt Sabrina Becker.
Was sie allerdings Nerven kostet, ist die ausufernde Bürokratie mit dem Jugendamt, dem Sozialamt, der Krankenkasse. Bei wem muss beispielsweise eine Integrationskraft für den Kindergarten beantragt werden? Welche Leistungen stehen den Kindern überhaupt zu? Auch das ist gesetzlich nicht klar geregelt.
Zu viel Bürokratie
Und was, wenn der Antrag auf ein dringend benötigtes Hilfsmittel, etwa ein behindertengerechter PKW, abgelehnt wird? Becker: "Es ist schon so, dass ganz viel Zeit draufgeht, um Briefe zu schreiben, für Telefonate, um zu klären und zu recherchieren. Da vergeht ganz viel Zeit für und die Zeit fehlt bei den Kindern."
Zu den Herausforderungen, mit denen alle Pflegefamilien umgehen müssen, kommen bei Pflegeeltern, die ein geistig oder körperlich behindertes Kind aufnehmen, einige hinzu. Bei aller Besonderheit solle man aber nicht außer Acht lassen, dass die Grundbedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen, egal ob behindert oder nicht, gleich seien, erklärt Dirk Schäfer, Leiter des privaten Perspektive Instituts in Bonn, das zur Weiterentwicklung von Hilfen zur Erziehung forscht.
Schäfer: "Zum Beispiel nach Zugehörigkeit, nach liebevoller Versorgung oder nach einem warmen Zuhause, wo ich mich angenommen fühle, dass die natürlich bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung genauso vorhanden sind und vielleicht sogar an einigen Stellen noch viel intensiver vorhanden sind wie bei den Kindern und Jugendlichen, die keine Behinderung haben."
Kinder mit Beeinträchtigungen öfter in Heimen
Für Kinder, die nicht bei ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, kann die Pflegefamilie ein guter Ersatz sein. Allerdings gibt es bundesweit sowieso schon zu wenige Pflegeeltern – für behinderte Kinder eine geeignete Familie zu finden, ist umso schwerer. Die meisten wachsen daher in Heimen auf. Das muss zwar kein Nachteil sein. Aber die Chance auf emotionale Bindung ist laut Experten in Heimen, wo sich die Betreuer abwechseln, nicht so groß wie in einer Familie, wo immer dieselben Bezugspersonen für das Kind da sind.
"Der Mama-Bonus, ich nenne ihn immer den Mama-Bonus", sagt Kerstin Held, die seit 20 Jahren Pflegekinder mit Beeinträchtigungen aufnimmt.
Als Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder setzt sie sich dafür ein, dass auch Kinder mit Beeinträchtigungen, deren leibliche Eltern sich die Versorgung vielleicht nicht zutrauen, die Chance auf Familie bekommen. Schließlich haben sie laut Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention ein Recht darauf.
Jugendämter sollen für alle Kinder zuständing sein
Allerdings müssten sich die Rahmenbedingungen verbessern, um mehr Familien für diese Aufgabe zu gewinnen und sie entsprechend zu fördern. Eine Kernforderung des Verbandes ist es, dass die Kinder- und Jugendhilfe, sprich die Jugendämter, auch für diese Kinder zuständig ist – und nicht wie bislang die Eingliederungshilfe. Das setzt einen Paradigmenwechsel voraus, meint Dirk Schäfer.
"Was stellen wir denn in den Mittelpunkt? Stellen wir in den Mittelpunkt, dass das Kinder und Jugendliche sind oder stellen wir in den Mittelpunkt, dass sie neben ihrem Kind-Sein, Jugendlich-Sein, eine Behinderung haben. Und das findet im Moment noch statt", so Schäfer.
Giffey plant neues Gesetz
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey von der SPD scheint das ähnlich zu sehen. Sie hat einen Entwurf für ein neues Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ausarbeiten lassen. Dieser sieht vor, dass in den kommenden sieben Jahren die Leistungen der Eingliederungshilfe schrittweise in die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe übergehen sollen. Die ‚inklusive Lösung‘ ist ab 2028 erklärtes Ziel.
Das sei prinzipiell gut, aber man werde zu lange hingehalten, meint Kerstin Held, die als eine von über 5000 Expertinnen und Betroffenen in den Vorbereitungsprozess für das Gesetz eingebunden war. Auch dass ab 2024 sogenannte ‚Verfahrenslotsen’ eingeführt werden sollen, um den Pflegefamilien Orientierung im Dschungel der Zuständigkeiten zu geben, hält sie für zu spät.
Kritikerinnen: Übergangslösung zu lang
"Nun wurde eine erneute Übergangsregelung geschaffen, d.h. die Pflegekinder und ihre Familien, die ein Kind mit Behinderung aufnehmen, befinden sich in der Übergangslösung der Übergangslösung von der Überganglösung", sagt Held.
"Ich bin froh, dass es erst mal einen Zeitplan gibt", hält Johannes Horn dagegen, Leiter des Jugendamtes Düsseldorf und Vorsitzender der Großstadtjugendämter in Deutschland.
Horn: "Ich bin sehr, sehr froh, dass der Referentenentwurf an vielen Stellen das verdeutlicht hat, was wirklich zwingend notwendig ist für diese Familien. Nämlich einmal für den Beratungsansatz, den Familien selber haben, also die Herkunftsfamilie, aber auch den Beratungsansatz für Pflegefamilien. Und das zweite Thema ist: Wenn man das Thema in die Jugendhilfe zieht, finde ich es super, dass wir endlich mal über einen ganzheitlichen Ansatz sprechen."
Jugendamts-Mitarbeiter müssen zur Fortbildung
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter bräuchten natürlich entsprechende Fortbildung, um auch Pflegefamilien mit einem behinderten Kind kompetent beraten zu können. Aber grundsätzlich ist Johannes Horn optimistisch, dass die Kinder- und Jugendhilfe dem inklusiven Anspruch gerecht werden kann.
Horn: "Also ich glaube, dass nach einer verzögerten Startphase zur Reform, das Thema auf eine breite Zustimmung führt und ich weiß schon von einigen Städten, die auch um das Thema Schnittstellenreduzierung usw. sich jetzt schon bemühen, Zuständigkeiten innerhalb ihrer Kommune zu verändern."
Änderung kommt frühestens im April
Mit einem Inkrafttreten des Gesetztes zur Reform der Kinder- und Jugendhilfe ist frühestens im April nächsten Jahres zu rechnen, heißt es aus der Großen Koalition. Anfang Dezember soll der Entwurf ins Kabinett gehen.
Fachleute bewerten ihn grundsätzlich positiv, aber Länder und Kommunen äußerten sich zurückhaltend, heißt es aus Koalitionskreisen. Sie fürchten zu hohe Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe.
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder hält dagegen und rechnet in seiner Stellungnahme vor, dass ein Platz in einer Pflegefamilie nicht halb so viel koste wie in einer stationären Einrichtung. Die Familien wollen aber nicht als Kostensparmodell gesehen werden – sondern in erster Linie als Orte, an denen Inklusion gelebt wird. "Denn das ist unser Ziel, ein Kind ist ein Kind und nichts Anderes", sagt Kerstin Held.