Birgid Becker: Die SPD will Altenheimbewohner entlasten; deren finanzieller Eigenanteil soll kleiner werden. Das sieht ein Konzept vor, das der Parteivorstand heute diskutiert hat. Das Ganze ist Teil des Sozialstaatskonzepts der SPD für eine Reform des Sozialstaats. Und tatsächlich: Die Sorge, dass die Heimunterbringung die finanziellen Möglichkeiten übertrifft, das ist eine handfeste Sorge älterer Menschen und auch ihrer Angehörigen, der Kinder vor allem, die ja ersatzweise herangezogen werden können. Insofern trifft das SPD-Konzept durchaus einen sehr sensiblen, sozialen Nerv. Wie sehr hilft das SPD-Konzept aber tatsächlich? Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell gesprochen und ihn zunächst aber um eine Präzisierung gebeten: Das SPD-Konzept will nicht einspringen bei den gesamten Kosten fürs Heim, es geht nur um einen Teil…
Stefan Sell: Ja! Wenn Sie das über alle Bundesländer mitteln, haben wir zurzeit Eigenanteile der Pflegebedürftigen von 1.830 Euro. Das schwankt zwischen den Bundesländern sehr stark, aber um den Betrag, um den es jetzt geht in der Politik, das ist nur ein Teil davon. Das sind 655 Euro im Durchschnitt. Das sind nämlich die Eigenanteile, die für die Pflegekosten nicht von der Pflegeversicherung abgedeckt sind. Der Rest, der große Rest, der wird jetzt von dieser Diskussion erst einmal nicht betroffen sein und würde auch weiterhin voll zu zahlen sein.
Eigene Kosten könnten trotz Grenze weiter steigen
Becker: Das ist der größere Brocken, der dann weiterhin vom Betroffenen, oder aber von den Angehörigen zu tragen wäre.
Sell: Ja! Von den 1.830 Euro ist es der größere Teil. Wenn wir jetzt bei den 655 Euro ungedeckten Pflegekosten sagen - das ist ja eine der Forderungen - wir frieren das auf diesem Niveau ein, dann bleibt natürlich der Restbetrag weiter zu finanzieren. Wofür wird der gebraucht? Der wird für Unterkunft und Verpflegung gebraucht und der wird für Investitionskosten, die die Pflegebedürftigen ausschließlich alleine für die Heime zu bezahlen haben, aufgebracht. Das heißt: Wenn es dort in der Zukunft Kostenanstiege gibt, dann würde, wenn man da nicht herangeht, dieser Eigenanteil natürlich weiter steigen, während nur begrenzt wird der Eigenanteil für die Pflegekosten.
Personalkosten steigen, damit auch Pflegekosten
Becker: Wie stellt man denn einigermaßen sicher, dass das Geld, das in diesem Fall nicht mehr die Betroffenen zahlen, sondern die Pflegekasse, nicht einfach nur die Preise nach oben treibt?
Sell: Ja, das ist ein sensibler, ein wunder Punkt. Wir können das ja mal deutlich machen. Diese 655 Euro Eigenanteil für nichtgedeckte Pflegekosten – was sind denn das für Kosten? Der größte Brocken darunter bei den Pflegekosten sind natürlich die Personalkosten im Pflegeheim. Warum man diesen Eigenanteil - das ist ein ganz wichtiger Punkt - wirklich auch begrenzen sollte und muss, liegt daran, dass wir in den vor uns liegenden Jahren einen deutlichen Anstieg der - wohl gemerkt - Pflegekosten allein haben werden, weil wir uns doch alle einig sind, zumindest in den Sonntagsreden, dass die Altenpflegekräfte deutlich besser bezahlt werden müssen. Das würde die Personalkosten nach oben treiben. Gleichzeitig wissen wir, dass die Personalbesetzung desaströs ist, und wir brauchen bessere Personalschlüssel, mehr Leute. Das würde natürlich noch mal zusätzlich kosten. Wir reden hier über einen unterm Strich zweistelligen Milliardenbereich. Der würde im bestehenden System, wo die Pflegeversicherung nur einen festen Betrag zahlt, ausschließlich zu Lasten der Pflegebedürftigen gehen. Deswegen ist die Begrenzung des Eigenanteils für Pflegekosten so wichtig. Aber man muss jetzt einmal sicherstellen, wo kommen dann diese Milliardensummen her, aus welchem Topf? Von der Pflegeversicherung nur oder über Steuermittel, wofür es gute Gründe gäbe. Aber gleichzeitig muss man natürlich verhindern, dass die Pflegeheimbetreiber zum Beispiel dann an der Kostenschraube drehen, bei der Unterkunft, der Verpflegung und vor allem bei den Investitionskosten, die überhaupt nicht überwacht werden.
"Nationale Kraftanstrengung über Steuermittel"
Becker: Bei der Frage der Finanzierung: Im SPD-Konzept sollen ja die Mehrkosten, die da entstehen, mit einem Bündel von Maßnahmen finanziert werden. Da soll unter anderem die medizinische Pflege künftig von der Krankenversicherung bezahlt werden. Zugleich sollen gesetzliche und private Pflegeversicherung zusammengelegt werden. Da erhofft man sich dann mehr gut verdienende Beitragszahler. Und es soll natürlich auch Steuermittel geben. Was ist zu diesem Finanzierungsmix zu sagen?
Sell: Na ja. Dieser Finanzierungsmix, den Sie beschrieben haben, ist ja eine Reaktion auf das Durcheinander in unseren bestehenden Systemen. Zum Beispiel die Tatsache, dass die medizinische Behandlungspflege in den Heimen nicht von den Krankenkassen bezahlt wird, in der ambulanten Pflege aber sehr wohl, ist ja nur historisch zu verstehen. Das war einer dieser Verschiebebahnhöfe. Als es der Krankenversicherung finanziell mal schlecht ging, hat man das in die andere Säule abgedrückt. Jetzt geht man hier wieder den umgekehrten Weg. Etwa drei Milliarden Euro macht das aus, die dann aber wohl gemerkt aus der Kasse der Krankenversicherung zu bezahlen wären.
Die Einbeziehung der privaten Pflegeversicherung mit ihren gewaltigen Finanzreserven, die die für ihre Leute aufgebaut haben, das kann man zwar fordern, aber da sehe ich noch erhebliche juristische Probleme. Denn das ist natürlich eine Infragestellung des getrennten Systems. Das müssen Sie erst mal durchsetzen. Schlussendlich spricht, wenn man sagt, wir haben steigende Kosten, weil wir müssen unbedingt die Arbeitsbedingungen und die Löhne der in der Altenpflege Beschäftigten verbessern, eigentlich alles für eine nationale Kraftanstrengung über Steuermittel, denn die Steuermittel werden ja anders aufgebracht, vor allem von den Leistungsfähigeren in unserer Gesellschaft. Die Beiträge in der Sozialversicherung zahlen ja unterm Strich nur die Arbeitnehmer aus ihren sozialversicherungspflichtigen Löhnen und die Arbeitgeber.
Ein System, wo untere und mittlere Einkommen entlastet würden: "Darüber diskutiert keiner"
Becker: Wenn wir jetzt ganz grundsätzlich nach dem Weg fragen: Als die Pflegeversicherung 1995 eingeführt wurde, da hat man gerade bei den Leistungen im stationären Bereich, bei den Leistungen in den Heimen stets gefragt: wem hilft da das zusätzliche Geld eigentlich? Hilft das den Betroffenen, oder hilft das den zukünftigen Erben der Betroffenen, die dadurch, dass die Pflegekassen zahlen, mehr vom Vermögen der Eltern erwarten dürfen? Ganz grundsätzlich gefragt: Was ist der richtige Weg?
Sell: Na ja. Die Diskussion, die wir damals in den 90er-Jahren bei der Einführung der Pflegeversicherung hatten - Sie haben das Stichwort genannt: Erbenschutz -, das ist ja eine alte Diskussionslinie, die jetzt auch wieder aufbrechen würde, wenn man tatsächlich zu einer echten Teilkasko- oder gar zu einer Vollkasko-Versicherung im Pflegebereich übergehen würde. Das entlastet diejenigen, die über Vermögen verfügen, natürlich überdurchschnittlich stark. Das ist eine ganz logische Sache.
Auf der anderen Seite: Bei der Einführung der Pflegeversicherung waren die Leistungen aus der Versicherung so hoch, dass die gesamten Pflegekosten zumindest erstattet wurden. Der Rest musste auch damals gezahlt werden. Entlastet werden sollten vor allem damals die Kommunen, die über steigende Sozialhilfeausgaben ächzten, und das war eines der wichtigsten Ziele mit der Pflegeversicherung. Jetzt erleben wir wieder, dass die Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe wieder ansteigt bei den Kommunen, weil die Leute systematisch überfordert werden. Insofern wäre der theoretische Maximalpunkt, dass man ein System hätte, wo die unteren und mittleren Einkommensgruppen deutlich entlastet werden und man so eine Art Selbstbeteiligung auch in Abhängigkeit von der Vermögenslage hätte. Aber darüber diskutiert meines Wissens zurzeit keiner.
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