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Pflegenotstand
"Zehntausende haben den Beruf verlassen"

Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, verweist angesichts der Debatte um einen Pflegenotstand auf kurzfristig mögliche Lösungen. Es gebe zehntausende ausgebildete Pflegekräfte, die den Beruf aufgrund der hohen Belastung nicht mehr ausübten, sagte Wagner im Dlf. Die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden.

Franz Wagner im Gespräch mit Silvia Engels |
    Eine Altenpflegerin schiebt eine Bewohnerin in einem Altenpflegeheim in einem Rollstuhl den Gang entlang.
    Auch in der Altenpflege mangelt es an Personal. (Imago)
    Silvia Engels: Die Pflege als einer der späten Wahlkampfschlager, das prägt neben anderem die letzten Tage dieses Wahlkampfs. Am Telefon ist Franz Wagner, er ist seit vergangenem Freitag Präsident des Deutschen Pflegerats. Das ist eine Einrichtung, die aus Einzelverbänden von Pflegeberufsverbänden und Trägern der Pflege besteht. Auch das Hebammenwesen gehört dazu. Mit der Aufgabe ist dieser Verband unterwegs, die Position der Pflegeorganisation einheitlich darzustellen. Guten Morgen, Herr Wagner.
    Franz Wagner: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Ich habe es angesprochen. Das Thema Pflege bekam im Wahlkampf zuletzt etwas mehr Aufmerksamkeit. Auch die Auftritte von Angela Merkel und Martin Schulz in Publikumsbefragungsrunden im Fernsehen in den letzten Tagen dürften da eine Rolle gespielt haben. Jeweils drei dieser Formate absolvierten sie in drei verschiedenen Sendern und fast bei allen nahm die Pflege als Thema Raum ein, nicht zuletzt aufgrund vieler Fragen aus dem Publikum. Leiten Sie daraus ab, dass sich nach der Wahl auf jeden Fall etwas in diesem Bereich tun wird?
    Wagner: Im Moment kann man das natürlich nur hoffen, denn es ist wie so häufig: Im Wahlkampf wird viel versprochen. Was dann davon gehalten wird oder je nach Koalition umgesetzt werden kann, ist dann immer die andere Frage.
    Mich stellt ja schon mal sehr zufrieden, dass es gelungen ist, das Thema Arbeitssituation der Pflegenden in den Vordergrund zu drängen und zu stellen, und ich denke, es ist ja sehr eindringlich, wie die Betroffenen geschildert haben, wie ihre Alltagssituation ist im Arbeitsleben, unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Das sind Sachen, die wir schon lange formulieren, die aber jetzt anscheinend doch Eindruck gemacht haben.
    Engels: SPD-Kanzlerkandidat Schulz – wir haben es gestern gehört – kündigte gestern zum Beispiel einen Neustart in der Pflege an, sollte er zum Kanzler gewählt werden: Mit den drei Ankündigungen, mehr Pflegekräfte einstellen, Personalschlüssel in den Heimen und die Plätze erhöhen und die Pflegekräfte besser zu bezahlen. Da bleiben für Sie doch eigentlich keine Wünsche offen, oder?
    Wagner: Eigentlich nicht. Aber es kommt natürlich darauf an, wie man das Ganze auch gestaltet. Auch das sind Themen, die ja seit Langem bekannt sind, die auch etwas sehr pauschal formuliert durchaus in den Wahlprogrammen zu finden sind. Die Schwierigkeit ist dann immer die konkrete Umsetzung und dann auch hochgerechnet auf die Zahl von Köpfen, die zum Beispiel zusätzlich beschäftigt werden müssten, sind das natürlich auch erhebliche Summen, um die es geht.
    "Wir reden hier sicher von Milliarden, die das mehr kosten würde"
    Engels: Haben Sie eine Schätzung?
    Wagner: Nein, nicht wirklich. Das kommt ja auf die unterschiedlichen Szenarien an. Aber wir reden hier sicher von Milliarden, die das mehr kosten würde, wenn ich tatsächlich eine bessere Personaldarstellung haben möchte. Und wir reden ja nicht nur von der pflegerischen Versorgung in Pflegeheimen und in der ambulanten Pflege, also bei Pflegebedürftigkeit. Wir müssen ja auch reden über die Pflege im Krankenhaus, denn auch dort gibt es ein Problem.
    Engels: Finanzieren – da bleiben wir gerade noch mal bei Herrn Schulz -, hat er gesagt, will er das über eine Umverteilung des Haushalts. Ist so etwas für Sie realistisch, oder sind Sie da von früheren Ankündigungen anderer Parteien auch schon enttäuscht?
    Wagner: In der Vergangenheit hat das eher nicht funktioniert. Ich bin der Auffassung, es gibt durchaus Möglichkeiten, im Haushalt Positionen umzuverlagern. Es ist ja immer auch Verteilung der Mittel im Haushalt des Bundes und auch der Länder eine Prioritätensetzung. Und wenn ich dann die Priorität bei einer besseren pflegerischen Versorgung der Bevölkerung setzen möchte, dann sind garantiert auch die Mittel, die dafür erforderlich sind, zu finden. Zum Beispiel die Krankenkassen haben in der letzten Zeit doch erhebliche Einnahmeüberschüsse auch erzielt. Da wäre ja auch noch eine Ressource.
    Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff "ein sehr großer Fortschritt"
    Engels: Auf der anderen Seite – und damit schauen wir auf die CDU – schreiben sich ja die Regierungsparteien auf die Fahnen, gerade die CDU, in Sachen Pflegeausbildung und Reform der Pflegeversicherung in dieser Legislaturperiode viel erreicht zu haben, gerade mit Blick auf einer besseren Versorgung von Demenzkranken. Zitat aus dem CDU-Wahlprogramm: "Die vergangenen Regierungsjahre waren gute Jahre für Gesundheit und Pflege." – Müssen Sie nicht auch konzedieren, dass man nur kleine Fortschritte machen kann, und sind die erfolgt?
    Wagner: Ich glaube, mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist schon ein sehr großer Fortschritt erzielt worden. Wir haben da mehr Gerechtigkeit insbesondere für Menschen, die an einer Demenz leiden. Allerdings was noch aussteht ist diese Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes auch in die pflegerische Versorgung. Bisher haben wir ja nur bei der Begutachtung das neue System. Das heißt, wir brauchen andere Versorgung, wir brauchen auch mehr Versorgung. Die Menschen wollen möglichst lange zuhause leben. Auch da brauchen wir mehr und ausdifferenziertere Versorgungskonzepte, die zum Teil erst noch entwickelt werden müssen.
    Engels: Da sind wir bei einem sozusagen Wahlkampfschlager, denn fast alle Parteien wollen die ambulante oder häusliche Pflege ausbauen. Von FDP bis zu den Grünen, auch zur AfD ist da in den Wahlprogrammen etwas zu finden. Wie viel Kosten erwarten Sie denn, wenn die häusliche, die ambulante Pflege so ausgebaut wird, dass tatsächlich viel mehr Menschen länger zuhause bleiben können?
    Wagner: Zum einen würde ich davon ausgehen, dass die Kosten auf jeden Fall sinken. Wenn häusliche Versorgung klappt statt einer stationären Versorgung, ist das immer erst mal günstiger. Die große Schwachstelle hier ist, dass natürlich eine große Abhängigkeit besteht von familiärer Unterstützung oder in der Zukunft vermutlich stärker auch durch Nachbarschaftshilfe oder durch das soziale Netzwerk, in dem Menschen leben. Denn durch die biografischen Entwicklungen wohnen zum Beispiel die Kinder nicht mehr am selben Ort wie die pflegebedürftigen Menschen. Ich kann nicht mehr so sehr wie heute auf familiäre Unterstützung setzen. In der Summe aber gehe ich davon aus, dass es gar nicht mehr kosten muss.
    Engels: Haben denn die Parteien Ihrer Meinung nach Antworten auf diese sehr komplexe Fragestellung, die Sie da ansprechen?
    Wagner: Im Konkreten nicht. Dazu habe ich nirgends in den Parteiprogrammen etwas gefunden, wo ich sage, hier kann man ganz genau erkennen, da geht es hin. Das sind eher auf einer sehr abstrakten Ebene formulierte Forderungen wie mehr Personal, bessere Versorgung, gute Versorgung. Das ist aber auch zugegebenermaßen natürlich ein sehr, sehr komplexes Thema.
    Und auch die Frage, mehr Personal zu schaffen, hat ja schon die Fragestellung in sich, wie berechne ich dann auch mehr Personal. Wir wissen, wir haben viel zu wenig im Moment, aber wie stelle ich das an, um dann auf eine gute Art und Weise und zielsicher, da wo am meisten Unterstützung gebraucht wird, auch am meisten Personal zu haben, ein Instrument zur Verfügung zu haben. Da gibt es ja – das hat die jetzige Regierung noch in Auftrag gegeben, ins Gesetz geschrieben – ein Projekt, in dem ein Personalbemessungsverfahren entwickelt werden soll. Das soll Ergebnisse bis 2020 liefern. Das ist natürlich noch lange. Wir würden uns wünschen, das kommt viel schneller. Im Moment haben wir eine Situation, dass es zwischen den Bundesländern erhebliche Unterschiede bei der Personalausstattung gibt in den stationären Pflegeeinrichtungen, und es ist eigentlich nicht einzusehen, warum Menschen in Bayern oder Baden-Württemberg mehr Pflege brauchen als Menschen in Niedersachsen oder Brandenburg.
    Engels: Ist beim Thema Pflege auch in der Tat der Föderalismus ein wichtiges Thema, also ein Thema, was jetzt bei einer Bundestagswahl gar nicht entschieden werden kann?
    Wagner: Der große Rahmen wird schon auf Bundesebene gesteckt. Aber viele der Details wie zum Beispiel in der stationären Versorgung, wie eben erwähnt, die Personalschlüssel werden landesbezogen festgelegt. Oder im Krankenhausbereich die Investitionskosten werden auf Landesebene festgelegt. Und nachdem Letzteres in den letzten Jahren nicht ausreichend geschehen ist, haben die Krankenhäuser sehr am Personal gespart und da vor allem am Pflegepersonal. Insofern haben die Länder eine wichtige Rolle, aber der große Rahmen wie zum Beispiel auch ein Personalbemessungsverfahren, oder auch Mittel über die Pflegeversicherung entscheidet natürlich der Bund.
    "Wir müssen langfristig investieren"
    Engels: Sie haben es schon mehrfach angedeutet: Ein zentrales Problem, auch vielfach angesprochen, besteht darin, dass es einfach zu wenig Pflegekräfte im Moment gibt und das eine Lücke ist, die möglicherweise noch wächst. Viele Spitzenpolitiker haben darauf unter anderem auch die Antwort, ausländische Pflegekräfte weiter zu qualifizieren und einzustellen. Hierzulande wird das von der AfD strikt abgelehnt; die anderen Parteien setzen darauf, wenn auch eher stillschweigend. Ist das in der Tat die einzige Chance, die wir in der Pflege haben?
    Wagner: Nein, das ist nicht die einzige Chance. Das wird sicherlich etwas Erleichterung bringen können, aber das, glaube ich, ist der kleinere Teil. Denn wir müssen insgesamt erreichen, dass die Arbeitsbedingungen besser werden. Dann bleiben die Pflegefachpersonen länger im Beruf.
    Wir haben eine wahnsinnig hohe Teilzeitquote in der Pflege. Wir haben 60 bis 70 Prozent Teilzeitarbeit in den Pflegeberufen. Wenn wir es schaffen würden, dass die einzelne Pflegende mehr Stunden pro Woche arbeitet – ich will gar nicht von Vollzeit reden -, dann hätten wir ein riesiges Potenzial, wo wir kurzfristig etwas verändern können. Oder wenn ich Menschen nehme, die den Beruf verlassen haben. Wir haben Zehntausende von Menschen, die haben eine Pflegeausbildung, die arbeiten nicht mehr in dem Beruf, weil sie sagen, nicht unter diesen Bedingungen.
    Wenn ich angesichts des Mangels Personalausstattung verbessern würde, mehr Stellen schaffen, was erst mal paradox klingt, wenn ich schon die vorhandenen nicht besetzen kann, hätte ich aber eine Chance, dass die Menschen, die dort arbeiten oder nicht mehr arbeiten, sagen, jetzt hat sich tatsächlich etwas verändert, es ist leichter, ich kann es besser aushalten, die Arbeitsbelastung, und ich habe auch wieder mehr Zeit, das zu tun, was ich eigentlich gelernt habe, das zu tun, was die Menschen auch brauchen, als nur zu hetzen von Bett zu Bett, von Bewohner zu Bewohner, von Wohnung zu Wohnung, dann, glaube ich, hätten wir kurz- und mittelfristig ein hohes Potenzial.
    Wir müssen langfristig investieren in Ausbildung, in die Attraktivität des Berufes. Das hat ganz, ganz viele Fassetten auch bei den Arbeitsbedingungen. Dann haben wir auch eine Chance, diese Herausforderung zu bewältigen.
    "Ich glaube nicht, dass es solche radikalen Schritte braucht"
    Engels: Und die bessere Bezahlung ist auch noch ein Thema. SPD, Grüne bis hin zur Linken wollen das in ihren Wahlprogrammen berücksichtigt sehen, besser bezahlen. Bekommen Sie denn genügend Antworten, ob das wirklich realistisch finanzierbar ist? Die Linken kommen auf die Idee, auch Selbstständige und Beamte ins System einzahlen zu lassen, dazu Abschaffung der privaten Krankenversicherung. Muss man so radikal denken, um besser Geld auch für Pflege ins System zu bekommen?
    Wagner: Ich glaube nicht, dass es solche radikalen Schritte braucht. Wir brauchen sicherlich eine Anpassung. Wir haben auch heute schon einen sehr, sehr großen Unterschied, eine riesige Spreizung bei den Gehältern innerhalb der Pflege. Wenn man in der Pflege im Krankenhaus im Süden von Deutschland arbeitet, verdient man erheblich mehr, als wenn man in der Altenpflege im Norden oder Nordosten von Deutschland arbeitet. Auch das sind riesige Unterschiede, die sich quer durch die Branche ziehen. Auch hier könnte man schnell etwas ändern. Es würde aber natürlich wie alles mehr Geld kosten. Aber die Frage ist erneut, welche Priorität setzt die Gesellschaft, setzt die Regierung auch in eine gute Versorgung in der Pflege.
    Engels: Franz Wagner war das. Er ist Präsident des Deutschen Pflegerats, eine Einrichtung, die aus den Trägern und auch den Berufsverbänden im Pflegewesen sich zusammensetzt. Wir brachten mit ihm mal die Wahlprogramme mit dem Punkt Pflege auf den Punkt. Vielen Dank für Ihre Zeit heute früh, Herr Wagner.
    Wagner: Gerne! – Auf Wiederhören, Frau Engels.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.