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Pflegereform
"Keine Antwort auf Fachkräftemangel"

In der Theorie gut, in der Praxis mit Problemen behaftet - so lautet das Urteil von Andreas Westerfellhaus, dem Präsidenten des Deutschen Pflegerats, über die Pflegereform von Bundesgesundheitsminister Gröhe, die das Bundeskabinett heute verabschieden will. Die Regierung bleibe eine Antwort auf den Mangel an Pflegekräften schuldig, sagte er im DLF. Seine Forderung: Ausbilden.

Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Andreas Westerfellhaus, Präsident Deutscher Pflegerat.
    Andreas Westerfellhaus, Präsident Deutscher Pflegerat. (picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka)
    Westerfellhaus wies darauf hin, dass auch in der Berufsgruppe der Pflegekräfte eine demografische Entwicklung stattfinde und viele von ihnen in den kommenden Jahren in Rente gingen. Wenn sich die Regierung nicht ganz schnell um Nachwuchs bemühe, werde die Pflegereform "in ihren Ansätzen steckenbleiben". Er forderte eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte und deutschlandweit einheitliche Tarife.
    An die Politik appellierte Westerfellhaus, der Gesundheitspolitik in Deutschland denselben Stellenwert einzuräumen wie etwa der Energie- und Umweltpolitik. Aber auch die Menschen selbst müssten zur Kenntnis nehmen, dass jeder irgendwann pflegebedürftig werde. In diesem Punkt habe die Gesellschaft lange Zeit "aktiv weggeschaut".

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Das Gesetz über die geplante Reform der Pflegeversicherung soll heute im Bundeskabinett verabschiedet werden. Wir wollen natürlich wissen, was die Pflegeprofis in Deutschland von dieser Reform halten. Deshalb habe ich vor gut einer dreiviertel Stunden, während hier bei uns die Nachrichten um halb sieben liefen, mit Andreas Westerfellhaus gesprochen. Das ist der Präsident des Deutschen Pflegerates. Und das wiederum ist der Dachverband für die Pflegeberufe in Deutschland. Schönen guten Morgen, Herr Westerfellhaus.
    Andreas Westerfellhaus: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Westerfellhaus, ist das ein gutes Gesetz, das da heute durchs Kabinett soll?
    Westerfellhaus: Vom Grundsatz her ist das zu bejahen. Sie hatten ja schon in Ihrer Anmoderation erklärt, dass die Kritik sich seit vielen Jahren an einem System orientierte, was in vielen Bereichen einfach nicht mehr zeitgemäß war und was einer dringenden Reform bedurfte. Das haben ja auch schon zwei Legislaturperioden jeweils in einer Bundesregierung vorbereitet und sich zumindest als Ziel vorbehalten.
    "Im Prinzip ein gutes Gesetz"
    Armbrüster: Das heißt, für die Leute, die sich viel mit Angehörigen beschäftigen müssen, die hohen Pflegebedarf haben, die Vater und Mutter haben, die bettlägerig sind und sich nicht mehr allein versorgen können, oder auch behinderte Kinder, die ständig Betreuung brauchen, für die ist das heute ein guter Tag?
    Westerfellhaus: Vom Prinzip her ja, weil diese Reform, sofern sie denn dann in die Verabschiedung geht, wovon ja auszugehen ist, sieht ja einen Paradigmenwechsel vor. Neben mehreren Stufen der Einstufung sieht sie ja eine mehr ressourcenorientierte Versorgung beziehungsweise Pflege vor, die sich daran endlich mal ausrichtet, was können Menschen denn letztendlich tun, und diese Fähigkeiten dann weiter zu steigern und zu entwickeln.
    Armbrüster: Das heißt, diese ganzen Familien können davon ausgehen, dass sich jetzt ihr Leben deutlich verändern und verbessern wird?
    Westerfellhaus: Na ja. Ich habe ja schon ein paar Mal betont, in der Theorie ja, denn das Gesetz ist in seinen Inhalten zu begrüßen und gut angelegt.
    "In der Praxis fehlen qualifizierte Fachkräfte"
    Armbrüster: Dann lassen Sie uns über die Praxis reden. Was fehlt denn?
    Westerfellhaus: Ja, das ist die grundsätzliche Frage, an der sich meine Kritik auch festmacht. Das ist, dass dieser hohe Anspruch an professionellen Pflegeleistungen, natürlich auch die Kompetenz professioneller Pflegender, also meiner Kolleginnen und Kollegen, gegenüberstehen muss. Das heißt, wer in diesem System arbeitet, sich an den Ressourcen orientiert, sehr viel Zeit investieren muss für den Patienten oder den Bewohner, der bedarf einer hohen professionellen Ausbildung und Qualifikation. Und da bleibt am Ende die Frage: Woher sollen diese Menschen kommen, die diese Leistungen erbringen? Wir haben heute schon einen sehr stark ausgeprägten Mangel an der Fachkräftesituation und hier bleibt die Bundesregierung nach wie vor jede Antwort schuldig.
    Armbrüster: Wie viele Leute fehlen denn da im Pflegebereich?
    Westerfellhaus: Das ist sehr schwer auszumachen, denn wir wissen ja noch gar nicht, mit welchen Konsequenzen wir letztendlich in der Durchführung konfrontiert werden. Aber wenn Sie mal davon ausgehen, dass Untersuchungen - und wir wollen das nicht auf ein paar Tausend setzen - allein aufgrund der demographischen Entwicklung von fast 500.000 Pflegenden in Deutschland bis zum Jahr 2030 zusätzlich ausgehen, dann sieht man mal so ungefähr die Dimension, die das bedeutet. Und wenn man diese Situation der Fachkräftesituation, egal in welchem Sektor wir darüber reden, nicht genauso stark angeht, dann wird eine Reform in ihren Ansätzen stecken bleiben müssen. Also keine Reform ohne professionell Pflegende.
    Pflegeberufe - attraktiv aber schlecht bezahlt
    Eine Mitarbeiterin schneidet einem Pflegebedürftigen das Essen zurecht - hier im Multikulturellen Seniorenzentrum des Deutschen Roten Kreuzes, Haus am Sandberg, in Duisburg
    Eine Mitarbeiterin schneidet einem Pflegebedürftigen in einem Seniorenheim das Essen zurecht. (imago / epd)
    Armbrüster: Jetzt kann man diesen Vorwurf der Politik ja wirklich nur schwer machen, weil kein Politiker kann den Leuten sagen, Leute, geht jetzt in die Pflegeberufe.
    Westerfellhaus: Nein, das kann man nicht machen. Aber es ist natürlich so, dass hier es immer um die Frage geht, wie kann man diesen Beruf letztendlich attraktiver machen und in seiner Ausgestaltung auch für die Zukunft sichern. Es ist nach wie vor ein attraktiver Beruf. Viele junge Menschen wollen in diesen Beruf. Aber sie müssen anständig bezahlt werden. Sie müssen genügend Kolleginnen und Kollegen haben, die mit ihnen gemeinsam die Arbeit leisten. Sie brauchen eine hochqualifizierte Ausbildung. Wir dürfen nicht immer wieder die Frage danach stellen, wer eine solche Ausbildung bezahlt. Die Bundesregierung hat seit vielen Jahren in Aussicht gestellt, eine neue Qualifikation, eine neue Berufsausbildung einheitlich, generalistisch für die Pflege aufzubauen. Das sind die vielen Dinge, auf die die Bundesregierung bislang keine Antworten geliefert hat. Nun sind wir als Deutscher Pflegerat nicht diejenigen, die sagen, nun macht mal. Wir haben sehr, sehr viele Vorschläge in der zukünftigen Ausgestaltung des Berufes gemacht. Wir erwarten einfach, dass man uns aus der Profession hieran beteiligt und eine schnelle Umsetzung garantiert.
    Armbrüster: Jetzt hören wir aber schon, dass durch dieses Gesetz ja auch eine Aufstockung der Mittel angestrebt wird. Da sollen fünf Milliarden Euro in den kommenden Jahren zusätzlich reinkommen. Wenn nun mehr Geld da ist für die Pflege in Deutschland, heißt das nicht automatisch auch, dass dann auch Spielraum da ist für zum Beispiel bessere Gehälter für die Pflegeberufe?
    Westerfellhaus: Theoretisch. Natürlich kann man diese Dinge in dieser Form letztendlich angehen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass dieses Geld dann letztendlich auch in der Profession für die Tarife ankommt. Das heißt, einheitliche Tarife in Deutschland für eine einheitliche gute Qualifikation und nicht irgendwo in anderen Kanälen, wo das dann letztendlich versickert. Auch da ist die Mithilfe und Unterstützung und Steuerung der Bundesregierung gefragt.
    Und noch mal: Das eine ist eine gute Bezahlung derjenigen, die heute die Arbeit leisten - unwidersprochen. Aber ganz dringlich ist Ausbilden, Ausbilden, Ausbilden. Jeder der qualifiziert ist und will, braucht einen Ausbildungsplatz in der Pflege, in einem zukunftsfähigen Beruf.
    "Gesundheitspolitik genauso wichtig wie Energie- und Sozialpolitik"
    Armbrüster: Und warum ist die Politik damit so nachlässig?
    Westerfellhaus: Das ist schwer zu beurteilen. Vielleicht hat die Berufsgruppe auch in den letzten Jahren viel zu wenig auf sich aufmerksam gemacht. Vielleicht sind die Lobbyisten in anderen Bereichen des Gesundheitswesens sehr viel mächtiger und sehr viel stärker und haben sich sehr viel mehr Gehör geschafft. Vielleicht lag es nicht immer auf der Agenda, dass Gesundheitspolitik genauso wichtig ist wie Energie- und Sozialpolitik oder Energie- und Umweltpolitik. Dahin gehört sie jedenfalls vom Stellenwert.
    Armbrüster: Könnte es denn vielleicht auch sein, Herr Westerfellhaus, dass so ein Feld wie die Pflege einfach viel zu groß ist für eine umfassende politische Regelung, ganz einfach deshalb zu groß, weil Pflege ja ursprünglich mal eine Familienangelegenheit war, und eine Familie kann man nun mal nicht so einfach ersetzen, auch nicht mit noch so gut ausgebildeten und noch so gut bezahlten Helfern?
    Westerfellhaus: In einer Richtung gebe ich Ihnen Recht. Das Feld und die Herausforderung ist schon sehr komplex. Aber das, was wir heute vorfinden, ist nicht vom Himmel gefallen. Die demographische Entwicklung, die wir ja allemal beschreiben, ist uns seit vielen, vielen Jahren bekannt. Wir wollen alle älter werden, wir wollen alle gesund älter werden, aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es eine Phase gibt im Leben, bei einem früher, bei dem anderen später, in der man auf professionelle Leistung angewiesen ist, und auf die muss man sich vorbereiten.
    "Die Gesellschaft hat lange sehr aktiv weggeschaut"
    Wir haben eine andere gesellschaftliche Situation. Die Familienstrukturen von vor 100 Jahren gibt es nicht mehr. Auch das hat sich entwickelt. Ich glaube, man hat hier einfach eine ganze Zeit lang sehr aktiv weggeschaut und sich diesen Herausforderungen ob mangelnder Lösungsmöglichkeiten nicht gestellt.
    Armbrüster: Wenn ich das mal zusammenfassen kann, Herr Westerfellhaus, dann können wir sagen, Sie würden den Menschen, die heute auf Pflege angewiesen sind, sagen, mit diesem Gesetz, das da heute durchs Bundeskabinett geht, verbessert zwar die Politik sozusagen die Grundvoraussetzungen, aber die Leute sollten nicht erwarten, dass sich an ihrer Situation irgendetwas Entscheidendes bessert.
    Westerfellhaus: Jedenfalls nicht so schnell, weil wir werden aus der Berufsgruppe heraus natürlich, weil diese Versorgung im Bereich der Ressourcenorientierung unserem hohen beruflichen Ethos in der Pflege entspricht. Das ist viel mehr unseren Tätigkeiten zugeneigt und es wird sicherlich viele, viele Menschen geben, die auch sehr schnell spüren, dass sich hier etwas ändert. Aber diese Menschen, die diese hohe Erwartung haben, die nehmen ja zu. Gleichzeitig haben wir auch eine demographische Entwicklung in der Berufsgruppe. Das heißt, viele meiner Kolleginnen und Kollegen gehen in den Ruhestand in den nächsten Jahren, in den Renteneintritt. Das heißt, wir werden nicht umhin kommen, ganz schnell dafür zu sorgen, uns um unseren Nachwuchs zu kümmern, um letztendlich diese Erwartungen, die zurecht die Menschen in unserer Gesellschaft bezogen auf dieses Gesetz haben, mit Enttäuschung zu konfrontieren.
    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Andreas Westerfellhaus, der Präsident des Deutschen Pflegerates. Vielen Dank für das Interview.
    Westerfellhaus: Sehr gerne, Herr Armbrüster.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.