"Das hatten wir so nicht erwartet. Es war klar, dass es knapp werden könnte. Aber dass mit solch einer Vehemenz dagegen votiert wurde, das hätten wir so nicht erwartet", sagt Thomas Rühl aus dem Leitungsausschuss der Mitarbeiterseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Bei der Kirche wird in der Regel nicht mit Gewerkschaften verhandelt, sondern in Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Dort sitzen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleich stark gegenüber, der sogenannte Dritte Weg. Dass aber nun gerade sein katholischer Sozialverband mit dem fast einstimmigen Veto der Arbeitgeberseite einen besseren Altenpflegetarifvertrag für alle verhindert hat, macht Thomas Rühl fassungslos: "Das ist, was das Ansehen der katholischen Kirche und der Caritas betrifft, ein absoluter Super-GAU aus meiner Sicht."
Vorbild für einen Flächentarifvertrag in der Altenpflege sollte der auf dem sogenannten Zweiten Weg zwischen ver.di und der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche BVAP ausgehandelte Tarifvertrag sein. Zur BVAP zählen etwa die AWO, die Volkssolidarität oder der Arbeiter-Samariter-Bund. Die Mindestentgelte steigen für mehr als 70.000 BVAP-Mitarbeitende in vier Schritten deutlich an, insgesamt um gut 25 Prozent. Nach dem sogenannten Arbeitnehmerentsendegesetz hätte dieser Abschluss auf die gesamte Altenpflegebranche Anwendung finden können, wenn denn die Kirchen zugestimmt hätten. Aber die Caritas legte ihr Veto ein. Die Diakonie hat danach erst gar kein Votum mehr abgegeben.
Arbeitgeber Caritas: Neuer Tarifvertrag unnötig
"BVAP vertritt 70.000 Mitarbeitende in ihren Unternehmen, Einrichtungen. Ver.di wird einen Anteil von unter drei Prozent in der Altenpflege haben. Jetzt soll aber dieser Tarifvertrag, der zwischen BVAP und ver.di abgeschlossen wurde auf 1,2 Millionen Beschäftigte umgesetzt werden, dass er für allgemeinverbindlich erklärt wird", sagt Diplom-Verwaltungswirt Norbert Altmann, Sprecher der Caritas-Arbeitgeberseite in der Arbeitsrechtlichen Kommission. Von einer Minderheit in der Branche wolle man sich keine Tarifverträge aufzwingen lassen. Der ver.di-Tarifvertrag würde in das über Jahre gewachsene Tarifgefüge der Caritas eingreifen und damit weit über die Altenpflege hinaus in andere Arbeitsbereiche.
Altmann zählt auf: "Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Krankenhäuser – und wenn wir an bestimmten Stellen erhöhen, hat das Auswirkungen auf andere Bereiche. Wenn ich eine dreijährige Ausbildung gemacht habe, vergleiche ich eine examinierte Krankenschwester durchaus mit einer examinierten Erzieherin, die auch eine dreijährige Ausbildung hat. Diese Ausbildungsniveaus müssen harmonisieren von der Vergütung her und das müssen Tarifverträge leisten und da greift der Tarifvertrag Altenpflege in unsere Systematik ein." Dann aber sei dann die Refinanzierung unsicher. Zudem zahle die Caritas sowieso schon weit bessere Löhne als in der Branche üblich. Man bräuchte daher keinen neuen Tarifvertrag, sagt Altmann.
"Caritas und Diakonie haben keine Verantwortung übernommen"
Dem Argument aber kann Thomas Rühl von der Caritas-Arbeitnehmergegenseite nicht folgen: "Es ist nicht nur so, dass wir überall wer weiß was für tolle Vergütungen zahlen. Dann kommt ja von der Arbeitgeberseite immer das Argument: und die teure Zusatzversorgung! Da muss man doch mal sehen, was kriegt denn eine Pflegekraft, die jetzt eine Hilfskraft ist. Und wir haben in der stationären Altenpflege einen großen Anteil von Pflegehilfskräften, die keine Ausbildung haben. Wenn das einer 40 Jahre gemacht hat, dann hat er vielleicht eine Zusatzrente von 300 Euro. Also das sind jetzt nicht Reichtümer, die da verdient werden."
Das sieht der Kölner Pflegewissenschaftler Martin Dichter auch so. Mit dem Veto der Caritas gegen einen allgemeinverbindlichen Flächentarifvertrag und dem verweigerten Votum der Diakonie würden die Kirchen auf Dauer großen Schaden anrichten: "Caritas und Diakonie haben keine Verantwortung übernommen für die Attraktivität des Pflegeberufes. Es gibt Berechnungen, wenn man als examinierte Pflegefachperson einen Stundenlohn von 15 Euro hat, das ist ja das, was als Mindestlohn derzeit in der Pflege angestrebt wird, dann muss man 42 Jahre arbeiten und erhält dann eine Rente auf Höhe der Grundsicherung. Das heißt, viele Pflegefachpersonen werden in Altersarmut mit Mini-Renten landen. Erst recht dann, wenn man sieht, wie viele Menschen gar nicht in Vollzeit beschäftigt sind, sondern nur in Teilzeit."
Pflegekommission: "Erwartung ist gleich Null"
Der Weg über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ist wegen des Caritas-Votums also vorerst gescheitert. Arbeitsminister Hubertus Heil will nun die Pflege-Mindestlohnkommission anrufen. Doch die sei wenig effektiv, sagt ver.di-Tarifexperte Axel Weinsberg: "Der Weg über die Pflegekommission ist ja der Weg, der seit 10 Jahren gescheitert ist. Da sitzen Caritas und Diakonie drin und die privaten Anbieter, die sagen, nein wir wollen keine nachhaltige Verbesserung. Die sagen, wir wollen das in Cent-Schritten über Jahre entwickeln. Unsere Erwartung an die 5. Pflegekommission ist gleich Null, weil wir es mit den gleichen Akteuren zu tun haben wie jetzt auch schon."
Denn neben den großen Verbänden Caritas und Diakonie mit rund 300.000 Mitarbeitenden in der Altenpflege haben dort auch die Privaten das Sagen: Der bpa-Arbeitgeberverband mit Präsident Rainer Brüderle an der Spitze mit über 190.000 Arbeitsplätzen und der Arbeitgeberverband Pflege AGVP mit rund 68.000 Mitarbeitenden. In der Branche gelten sie als Lohndrücker, werden dort doch faktisch die Gehälter einseitig von oben diktiert. Der sogenannte Erste Weg. Gerade die privaten Pflegeanbieter hätte aber ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag zu deutlich höheren Löhnen zwingen können. Nun aber habe das Caritas-Veto den Weg zum Besseren verhindert. Caritas-Mitarbeitervertreter Thomas Rühl:
"Wir haben in der Pflegebranche das Problem, dass die großen Player einmal die Kirchen sind, die aber keine Tarifverträge abschließen, weil sie an ihrem System des Dritten Weges festhalten. Und wir haben als zweite große Player die Privaten, wo Konzerne dahinterstehen, Aktiengesellschaften und wo es auch darum geht, Aktionäre mit Renditen zu versorgen. Deswegen ist es für uns umso erschreckender, dass unsere Dienstgeber jetzt ganz am Schluss des Prozesses ganz am Ende sagen, wir stimmen nicht zu und damit das Geschäft anderer Leute macht."
"Ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte"
Nun ist die öffentliche Empörung über die Caritas groß. Durch die Weigerung, mit einem einheitlichen Tarifvertrag dem Negativ-Wettbewerb in der Pflegebranche entgegenzuwirken, werde der Imageverlust der katholischen Kirche forciert. So werde die Caritas auch für die Kirche zu einer öffentlichen Belastung, sagt der katholische Sozialethiker Bernhard Emunds in einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raumes. Und für Stefan Sell, Arbeitsmarkt- und Sozialforscher an der Hochschule Koblenz, ist das Caritas-Veto "ein Schlag ins Gesicht der Pflegekräfte".
Caritas-Präsident Peter Neher ist darüber alles andere als glücklich: "Ich glaube, dass im Moment ganz viele riesenenttäuscht sind und auch Wut haben, weil die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas der Allgemeinverbindlichkeit nicht zugestimmt hat. Das ist eben die Aufgabe der Arbeitsrechtlichen Kommission und da hat der Präsident der Caritas gar nichts zu sagen."
Caritas-Präsident: Spahn soll aktiv werden
Was aber soll nun mit der Altenpflege in Deutschland werden? Wenn die erste Stellschraube eines allgemeinen Flächentarifvertrages nicht greift und die zweite über die Pflege-Mindestkommission auch nicht? Da müsse eben nun endlich der Bundesgesundheitsminister aktiv werden, fordert Caritas-Präsident Peter Neher:
"Herr Spahn hat seinen Job als Gesundheitsminister zu machen. Er hat eine Pflegereform auf den Weg zu bringen, die angekündigt ist und völlig unabhängig von dem, was jetzt hier in der Tarifarbeit gelaufen ist."