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"Phädra", "Dogville" und mehr

Wenn es stimmt, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, so war dies ein ziemlich anstrengender Zauber, eine Marathon-Sitzung: sechs Premieren an einem Wochenende - nach dem Fabrikhallen-grauen, zusammengekürzten "Faust" des Hasko Weber gab es mit Volker Löschs "Dogville"-Version einen kalkulierten Skandal und mit Karin Henkels "Platónov" dann ein Mirakel, ein wirkliches Wunderwerk psychologischen Theaters; dazwischen einige energiegeladene, aber nicht immer stimmige Off-Produktionen.

Von Christian Gampert |
    Ein Ritt über ein weites theatralisches Feld also, das zum Teil eben auch aus Brachland besteht. Der ungarische Regisseur Arpád Schilling machte den Anfang mit Istvan Tasnádis famoser "Phädra"-Bearbeitung, eine radikale theatralische Versuchsanordnung, eine musikalische Installation mit einem stets kommentierenden, manchmal mänadenhaften dreistimmigen Frauenchor:

    "Phaidra" liebt ihren Stiefsohn Hippolytos - mit der verzweifelten Zuneigung der älter werdenden Frau. Dorottya Udvaros sitzt im Trainingsanzug auf einer Art Regierungs-Couch, daneben der schüchtern-zynische Hippolytos im gelben Feinripp, davor ein Priester im Straßenanzug als Psychoanalytiker und scratchender Disc-Jockey. Vater Theseus liegt auf einer Wärme-Bahre im Koma. Und während ein hünenhafter Diener als Sexualprotz und Spin Doctor Ratschläge für gutes Regieren verabreicht - zum Beispiel den: man möge alle alten Säcke umbringen, sie seien zu nichts gut -, hält Tilo Werner als Priester Vorlesungen über die Menopause. Und zeigt uns mit seinen Sounds, dass diese Inszenierung den Klassiker gnadenlos in die Gegenwart holt: Gott ist ein DJ.

    Der Regisseur Arpad Schilling geht vor allem mit der deutsch-ungarischen Zweisprachigkeit der Aufführung ganz lässig um: Die Übersetzung erscheint ebenso auf einem Video-Schirm wie die live gefilmten Sexualdelirien des Hippolytos. Ein Laboratorium theatralischer Möglichkeiten, das kurz auf den Salzburger Festspielen gezeigt wurde und nun im Stuttgarter Spielplan die Avantgarde-Position besetzt.

    Danach, auf der Werkstatt-Bühne "Depot", "Sanft und grausam" nach den "Trachinierinnen" des Sophokles. Ein braves politisches Werklein von Martin Crimp (ja, auch der schreibt manchmal schwache Stücke), in dem der Krieg, wie auf den Foto-Collagen der Martha Rosler aus den siebziger Jahren, Einzug hält ins bürgerliche Wohnzimmer. Das Stück beschränkt sich auf die schmale Einsicht, dass westliche Anti-Terror-Generäle stets neuen Terror schaffen und selbst dabei verrohen. Schwache Figuren, zwei Stunden Langeweile.

    Und es sollte noch schlimmer kommen. Der stets auf Rumor bedachte Volker Lösch, der schon seiner Leipziger "Weber"-Inszenierung über Gebühr Aufmerksamkeit verschaffte, indem er einen Chor aus authentischen Arbeitslosen Kanzler Schröder und die Talkshow-Dame Christiansen beschimpfen ließ, hievte Lars von Triers Film "Dogville" auf die große Schauspielhaus-Bühne - als holzschnittartiges, brüllendes Bauerntheater brechtscher Provenienz. Die Hauptfigur Grace flieht vor einer obskuren Bedrohung in die Arme einer sektenartigen Gutmenschen-Community, die bei Lars von Trier in den Rocky Mountains, bei Lösch aber im Schwäbischen liegt. Dort singt man dümmliche Volkslieder und fällt alsbald vergewaltigend über die arme, anpassungsbereite Schutzbefohlene her, weil auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Wer nur den lieben Gott läßt walten...der entdeckt stante pede das Böse im Menschenwesen. Zwecks Illustration der verführbaren Menschennatur läßt Lösch, vermutlich aus dem Paradies, tonnenweise Äpfel auf die Bühne kippen und zerstampfen: Theater als Apfel-Mus und Volks-Musi.

    Vermutlich ist es gar nicht der angebliche Tabubruch der ständig wiederkehrenden, herzlich sterilen, aber mit lokomotiven-artigem Schnaufen ausgeführten Vergewaltigungen, der das Publikum zu Buhrufen und türenschlagendem Abgang veranlasste. Es ist wohl eher die Unlust, sich politische Belehrungen einbimsen zu lassen. Volker Lösch bedient einmal mehr das körperbetonte, übertriebene, absolut langweilige Commedia-Spiel und versucht, seine inszenatorische Begrenztheit durch provokative Akte zu adeln. So kann man sich dann einreden, man mache kritisches Theater - ein kalkulierter Skandal. Am Ende durfte die Hauptfigur Grace mit einem echten Stuttgarter Mercedes-Manager über Weltverbesserung diskutieren - so wie wir alle früher mit Mama und Papa im Wohnzimmer. Das Staatstheater als Familienersatz.

    In der Werkstatt-Bühne "Depot" bot Jan Jochymski dann eine jugendtheatralisch aufgemotzte, aber sehr unterhaltsame Version von Falk Richters "Electronic City". Während andere Inszenierungen die Entfremdung in einer globalisierten Manager-Welt per Video-Clip erzählen, zeigt Jochymski vor allem die Konflikte innerhalb dieses Video-Filmteams, das sich in Stuttgart, Kubricks "Odyssee im Weltraum" rückwärts spulend, am Ende in eine Horde Steinzeitmenschen verwandelt/ - und heutige Lebensverhältnisse bündig resümiert:

    Als die wahre Saison-Eröffnung entpuppte sich dann Karin Henkels "Platónov"-Inszenierung: ein großes, wunderbar differenziertes Tableau, langsames, in der psychologischen Feinarbeit meisterhaftes Erzähltheater. Weit über zwei Stunden nimmt sich Henkel Zeit, um aus einem Panorama lethargischer russischer Provinzler die dekadent-nihilistische Hauptfigur herauszupräparieren, Platónov, Dorfschullehrer, Trinker, Zyniker, Weiberheld. In weiteren eineinhalb Stunden wird den Knoten radikal zugemacht, der Konflikt fokussiert: ein liebesunfähiger, aber auch genussunfähiger, selbsthasserischer Mann zwischen vier Frauen, die ihn alle retten wollen, die sich vor ihm erniedrigen bis zur Selbstaufgabe.

    Henkel lässt das in einem weiten, neonbeleuchteten Rundsaal spielen mit vielen Ausgängen, vielen Fluchten, und die Bühne von Stefan Mayer öffnet zum Publikum hin die Tür zum Totenreich, einen Graben, einen Fluß, in den alle probeweise eintauchen, in dem sie sitzen, spritzen, plantschen, sich kühlen. Bäume schwanken im Nebel, Kleider flattern in Windmaschinen, Trunkenheit und Erotik und Grausamkeit und Langeweile werden amalgamiert zu einer hochentzündlichen Mischung, der Explosion lange auf sich warten läßt.

    Aus diesem nur in wüsten Konvoluten erhaltenen Tschechowschen Frühwerk eine solche Aufführung zu schneiden, ist schon eine Leistung für sich. Das Zentrum des Konflikts nicht, wie die meisten anderen Stuttgarter Aufführungen des Wochenendes, in die stets schuldige Gesellschaft, sondern radikal ins Individuum zu verlegen, ist noch viel mutiger und Tschechow sehr angemessen. Der großartige Felix Goeser spielt den Platónov als emotional verwahrlosten, ins Scheitern, in den Selbstekel verliebten Clochard, einen Verführer, der sich selbst zum Leben nicht mehr verführen kann. Eine Inszenierung, mit der Stuttgart jetzt schon erheblich an Renommée gewinnt und die absolut tauglich ist fürs Berliner Theatertreffen.