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Phänomene des Hörens
Von stummen Schreien und Klanggewittern

Was passiert eigentlich, wenn wir hören? Wieso empfinden wir manchen Schall als störenden Lärm und anderen als entspannenden Klang? Mit diesen und anderen Fragen haben sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen auf der Tagung "Unerhört" im Einstein Forum in Potsdam beschäftigt. Für das Ohr gilt das gleiche wie für das Auge: Was wir wahrnehmen, entsteht erst in unserem Kopf.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Zwei Frauen hören über ein Smartphone Musik.
    Lärm entsteht im Kopf des Einzelnen. (picture-alliance / dpa-ZB / Jens Kalaene)
    Die Geräuschkulisse von Großstädten gilt als einer der Stressauslöser des modernen Lebens. Es wird nach Ruhe verlangt, nach akustischem Leerlauf.
    Dabei ist höchst zweifelhaft, ob die Bewohner von Städten im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Pferdewagen, Kopfsteinpflaster und knatternden Dampfmaschinen mehr Stille genießen konnten. "Nur wer dumm ist, verträgt Lärm", sagte seinerzeit Arthur Schopenhauer und erklärte damit die Empfindlichkeit gegen Lärm zum Statussymbol einer neuen, intellektuell überlegenen Bürgerlichkeit. Seit dem hat sich viel getan. Denn Lärm, so viel weiß man heute, ist nicht nur Teil jeder menschlichen Kultur. Lärm, so betont die Wissenschaftspublizistin Sieglinde Geisel, ist kein sozial bedingtes Phänomen. Lärm entsteht im Kopf des Einzelnen.
    "Die Frage ist, wie man Lärm definiert. Ich dachte ja am Anfang, es hat mit dem Schall selbst zu tun, bis ich gemerkt habe, dass jedes beliebige Geräusch von jedem beliebigen Menschen als Lärm empfunden werden kann. Das heißt also, ein Geräusch wird erst durch unsere Interpretation zu Lärm. Auch wenn ein Geräusch sehr laut ist: Schall allein macht keinen Lärm."
    Schall macht keinen Lärm
    Kein Fußballfan würde das Jubeln, Schreien und Tröten nach dem geschossenen Tor als Lärm empfinden.
    Ob wir etwas als Lärm wahrnehmen, hänge auch damit zusammen, ob man den Lärmverursacher sympathisch findet oder nicht, und ob das störende Geräusch vermeidbar ist oder nicht, meint Sieglinde Geisel.
    So gilt lautes Donnergrollen im Allgemeinen nicht als Lärm, sondern ist eher ein unvermeidbares, Achtung gebietendes Schallereignis der Natur.
    Die spielenden Kinder des ungeliebten Nachbarn dagegen empfindet manch einer als individuelle Störung seiner Ruhe, also als Lärm, andere aber nicht. Lärm entsteht eben im Kopf. Das Wort Lärm stammt ab von "Alarm", was auf Italienisch so viel heißt wie "zu den Waffen". Lärm dringt an das Ohr, wird bewusst oder unbewusst vom Hirn verarbeitet, warnt, lässt aufschrecken und unruhig werden.
    Unbewußte Wahrnehmung des Schalls
    Das Hirn filtert dabei den allergrößten Teil des wahrnehmbaren Schalls automatisch aus. Nur eines von etwa 100.000 Schallereignissen gelangt überhaupt bis in unser Bewusstsein, so Thomas Görne, Klangforscher an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Aber auch den Schall, den wir nicht bewusst verarbeiten, nehmen wir unbewusst durchaus wahr.
    "Ich bin der Überzeugung, dass der erheblich größere Teil der Information tatsächlich Wirkung entfaltet. Und das sehr Spannende daran ist, dass sie genau das unmerklich tut. Ein schlichtes Beispiel dafür wäre der Dialog, mit sehr viel Information, die transportiert wird über Parameter wie Sprachmelodie, Details der Diktion, Atmung ... was jenseits vom semantischen Gehalt der Sprache ist und was normalerweise aber dann der relevante Teil der Kommunikation ist. Und das, was in der Semantik der Sprache drinliegt, das was gesagt wird, ist unter Umständen völlig unerheblich."
    Individuelle Wahrnehmung
    Den konkreten Informationsgehalt eines Schallereignisses nehmen wir laut Görne zum guten Teil unterbewusst wahr. Nur so funktioniert Sprache. Schall dringt an unser Ohr, dieser wird im Gehirn zu Klang zusammengesetzt und ruft schließlich automatisch und unbewusst eine sprachliche Bedeutung ab. Auch Stille ist eigentlich ein künstliches Konstrukt unseres Gehirns.
    "Stille beginnt mit der Hörbarkeit von kleinen Schallereignissen. Damit, dass das Wassertropfen zwei Räume weiter hörbar wird, dass das Ticken der Uhr hörbar wird. Und das setzt sich dann fort in extrem stiller Umgebung, die wir in natürlicher Umgebung normalerweise nicht mehr finden, aber dann in technisch hergestellten, besonders isolierten Räumen. Ich mache solche Experimente mit meinen Studenten. Wir gehen dann in einen reflexionsarmen Raum und versuchen, kein Geräusch zu machen. Ungefähr die Hälfte der Leute kann es schwer aushalten, und die andere Hälfte findet es sehr, sehr angenehm."
    Stille ist nicht gleich Stille
    Im streng physikalischen Sinne existiert Stille nicht. Auch wenn man nichts zu hören meint, erklingt das sogenannte "Hintergrundrauschen der Welt", die Brownschen Molekularbewegungen, das Zucken kleinster Materieteilchen. Und dennoch: Der Mensch kann "Totenstille" empfinden, die er allerdings immer aus dem Kontext konstruiert. Während die Stille im Schlafzimmer allgemein als angenehm empfunden wird, gilt die Stille im Wald vielen als bedrohlich.
    Nicht nur Stille kann dabei Angst und Schrecken verbreiten, sondern auch ungewollte, unkontrollierbare Beschallung. Morag Grant, Wissenschaftlerin am Käthe Hamburger Kolleg in Bonn, beschäftigt sich mit der Wirkung von Beschallung als akustische Folter, wie sie bereits seit Jahrtausenden eingesetzt wird. Laut dem erst kürzlich erschienen Feinstein-Bericht über die Folterpraxis des CIA ist die andauernde, extrem laute Beschallung der Gefangenen mit Geräuschen oder mit bestimmten Musikstücken ein gängiges Instrument zum Schlafentzug oder zur akustischen Isolation.
    "Dass man Musik einsetzt, hat natürlich auch Gründe. Weil Musik ist eben etwas, das anders als Rauschen symbolisch sehr [auf-]geladen ist. Und was auffällt, wenn man die unterschiedlichsten Beispiele dann aussucht, ist, dass Musik in den allermeisten Fällen von politischer oder kultureller Bedeutung ist, entweder für die Leute, die Foltern, oder für die gefolterten Leute, oder eben für beide. Und das spiegelt sich auch wieder in anderen Einsätzen von Musik, etwa beim erzwungenen Singen, das sehr breit verbreitet ist, oder auch, wo Musik quasi als Klangauftakt oder als Begleitung zu anderen Mitteln der Folter eingesetzt wird."
    So wie Licht und Dunkelheit das Auge reagieren lässt, ist der Hörsinn ebenso empfindlich gegenüber Schall und dessen Abwesenheit. Nur: Augen kann man schließen, der Hörsinn dagegen ist immer auf Empfang. Das Besondere beim Hörvorgang ist, dass wir im Alltag den größten Teil des Hörbaren aus dem Bewusstseinsstrom ausfiltern. Unser Unterbewusstsein bestimmt in der sogenannten "Urentscheidung", was als Information weiterverarbeitet wird. Erst dann fällt die Entscheidung, ob es sich um Stille, Geräusch, Klang, Sprache, Musik oder um Lärm handelt.