"Manchmal erinnert es an Szymanowski, manchmal aber auch an Korngold oder Rachmaninow. Es ist der typische Stil, der sich auf der Grenze zwischen Romantik und Moderne bewegt! Es klingt stellenweise auch nach Filmmusik im Hollywoodstil, es sind sehr farbige Klänge."
Janusz Wawrowski ist einer der profiliertesten polnischen Geiger der jüngeren Generation. Selbstverständlich beherrscht er die gängigen Solokonzerte des Violinrepertoires. Doch, betont er, das hat ihm nicht ausgereicht.
"Ich suchte intensiv nach polnischer Musik für Solovioline, speziell aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da gab es eine Gruppe von Komponisten, die sich später 'Junges Polen' nannte. Zu der gehörte am Anfang auch Szymanowski. Und ich war mir sicher, da muss was zu finden sein."
Partitur aus dem Kriegsjahr 1944
So fand Janusz Wawrowski heraus, dass Ludomir Różycki, Mitglied der Gruppe 1944 ein Violinkonzert komponiert hat. Wawrowski suchte danach in der Nationalbibliothek in Warschau.
"Und dann fand ich tatsächlich die Partitur, dachte ich, aber es waren nur die ersten 100 Takte, also nur der Anfang."
Enttäuscht bewahrte der Geiger die Kopie des Fragments auf und vergaß es.
"Dann traf ich einen Dirigenten aus Stettin und der behauptete, er habe, ebenfalls in der Nationalbibliothek, das Violinkonzert von Różycki gefunden, allerdings nicht die Partitur, sondern nur den Klavierauszug. Das Problem war: Man hatte den als ein anderes Werk archiviert und nicht gesehen, dass es dasselbe Stück ist."
Ludomir Różycki schrieb das Violinkonzert im Jahr 1944. Seine Heimatstadt Warschau war von den Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands besetzt, die nur eines im Sinn hatten: Die polnische Kultur zu zerstören.
"Die Gestapo hat ihn mehrfach verhört und das Verzeichnis seiner Werke verlangt, er hat sich aber geweigert und sah sich gezwungen, Warschau zu verlassen", erzählt Ewa Wyszogrodzka, die Urenkelin des Komponisten.
"Zumal ja absehbar war, dass die Deutschen die Stadt zerstören würden. Das Haus war aber voller Noten, voller Partituren, darunter viele nicht veröffentlichte Werke. Es gab ja damals keine Kameras oder USB-Sticks oder dergleichen, mit denen man die Inhalte hätte sichern können. So hat die Familie das Wichtigste in einen großen Koffer gepackt und im Garten vergraben. Durch die Zerstörungen fand man aber nach dem Krieg die Stelle nicht mehr und dann ist mein Urgroßvater ja 1953 gestorben. "
Optimistisches Werk aus dunkler Zeit
Das Fragment der Partitur und der Klavierauszug werden heute in der polnischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Sie zeigen, dass Różyckisein Violinkonzert so wichtig war, dass er es versucht hat, aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Janusz Wawrowski und sein polnischer Geigerkollege Ryszard Bryla haben mit viel detektivischem Spürsinn und Sachverstand den Orchesterpart rekonstruiert. Inzwischen war das Konzert bereits in Warschau und in Lodz im Konzertsaal zu hören. Die Aufführung am vergangenen Freitag in Stettin mit der örtlichen Mieczyslaw-Karlowicz-Philharmonie unter Leitung des jungen polnischen Dirigenten Norbert Twórczynki war insofern besonders, als die Ur-Urenkelin des Komponisten Ewa Wyszogrodzka anwesend war. Sie ist von Beruf Wirtschaftswissenschaftlerin, aber familienbedingt natürlich musikalisch bewandert. Ewa Wyszogrodzka:
"Ich bin unendlich tief berührt von diesem Werk. Es ist so voller Schönheit, voller Anmut und Sensibilität! Es bringt mir meinen Urgroßvater, den ich ja nicht mehr kennenlernen konnte, auf ganz neue Weise nah. Und ich bewundere die Leistung der beiden Geiger – sie haben ja zwei Jahre gebraucht für die Rekonstruktion. Und das Orchester hier, das es so großartig einstudiert hat, das alles erfüllt mich mit enormer Dankbarkeit."
"Es ist ein sehr optimistisches Werk", sagt der Geiger Janusz Wawrowski. "Definitiv das optimistischste Werk Różycki überhaupt! Und das in dieser schrecklichen Zeit des Warschauer Aufstands und der Zerstörung der Stadt. Das ist interessant! Betrachtet man dagegen die Klavierkonzerte, die vor dem Krieg entstanden sind, die sind viel düsterer, viel trauriger, viel mehr im Stil von Rachmaninow."
Dankbares Stück für jeden Geiger
Der lebensbejahende Gestus in Różycki Violinkonzert, er war womöglich ein Ausdruck innerer Gegenwehr und seines Überlebenswillens, meint Ewa Wyszogrodzka.
"Er war ein sehr höflicher, anständiger Mensch, aber er war auch eine sehr, sehr starke Persönlichkeit! Er schaute nicht nach links und rechts, was er vorhatte, das verwirklichte er."
Nach den beiden Aufführungen im Konzertsaal hat Janusz Wawrowski Różyckis Violinkonzert inzwischen auch aufgenommen, mit dem Royal Philharmonic Orchestra London unter Leitung des polnischen Dirigenten Grzegorz Nowak, die CD wird im kommenden Jahr erscheinen. Der Geiger spielt übrigens auf einer Stradivari, der einzigen, die es in Polen gibt. Ihr Besitzer hat sie ihm zur Benutzung anvertraut. Janusz Wawrowski:
"Sie ist seit 90 Jahren im Familienbesitz und niemand hat sie gespielt. So hatte ich die Ehre, dieses Dornröschen wach zu küssen. Ich habe dazu mehr als ein Jahr gebraucht. Jetzt entfaltet sie ihre gesamte Schönheit und ist in bester Verfassung."
Janusz Wawrowski hat nur einen Weihnachtswunsch: Nämlich dass Ludomir Różyckis Violinkonzert in der rekonstruierten Fassung die Konzertsäle der Welt erobern möge.
"Es ist ein unglaublich dankbares Stück, für jeden Geiger. Es hat denselben Anspruch wie Paganini oder Wieniawski. Im langsamen Satz kann man wunderbar mit der Violine singen. Und die technischen Anforderungen in den schnellen Passagen sind absolut brillant. Jeder Geiger kann hier alle Spielarten seiner Virtuosität, alle nur erdenklichen Farben zeigen."