Maja Ellmenreich: Erinnern und Vergessen - das sind zwei Seiten einer Medaille, die wir in diesen Sommerwochen in "Kultur heute" immer wieder hin- und herwenden. Was bleibt hängen in unserem Gedächtnis und vor allen Dingen, wie erinnern wir uns an Erlebtes oder Gesehenes, Gelesenes oder auch nur Erzähltes?
Mit Gesehenem und Erzähltem kennt sich unser heutiger Gesprächspartner bestens aus: der Filmemacher Philip Gröning. International berühmt geworden ist er mit sein em Dokumentarfilm "Die große Stille" über das mönchische Leben in einem Kartäuser-Kloster. Den Bayerischen und den Europäischen Filmpreis erhielt Gröning neben anderen Auszeichnungen für diesen beeindruckenden Film. Und in diesem Frühjahr hatte sein jüngster Film Premiere im Berlinale-Wettbewerb: "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot". Die Geschichte eines sehr eng miteinander verbundenen Zwillingspaares, das denkt und philosophiert, bevor es sehr überraschend handelt. Der Film kommt im November in die Kinos, zu sehen war er aber auch jüngst beim Filmfest München - im Rahmen einer "Philip Gröning"-Hommage.
In einem Interview hat er mal gesagt: "Ich kann mich an alle meine Lebensphasen ziemlich genau erinnern." Deshalb habe ich Philip Gröning zunächst danach gefragt, wie er sich erinnert? In Bildern oder Gefühlen?
Philip Gröning: In ganz kleinen Bruchstücken quasi. Ich glaube, im Körper sind Erinnerungen abgespeichert, und es gibt ganz kleine Momente, an die man sich eigentlich aus jeder Lebensphase erinnern kann, glaube ich, und wo ein Geschehen und gleichzeitig eine Atmosphäre und ein Gefühl, alles zusammen in einer Kapsel quasi da ist und die man auch erreichen kann.
Schauspieler schöpfen aus Erinnerungen Gefühle
Ellmenreich: Die man erreichen kann. Aber Sie haben eine besonders große Fähigkeit dafür, die zu erreichen?
Gröning: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass eigentlich jeder Mensch das hat. Ich glaube, dass man sich tatsächlich an fast alles erinnert. Ich glaube, dass Künstler, zum Beispiel jetzt auch Schauspieler - die arbeiten ja auch damit, mit Erinnerungen, aus denen sie ihre Gefühle schöpfen -, da ist das trainierter und das ist ein großes Privileg.
Ellmenreich: Somit ist das für Sie als Regisseur auch eine Fähigkeit, auf die Sie immer wieder zugreifen müssen?
Gröning: Die ich hoffentlich nicht verliere. Ich glaube, dass man die braucht. Man muss sich daran erinnern: Wie war das, als ich 15 war und nicht genau wusste, wo mein Körper eigentlich hingehört? Wie war das, als ich vom Fahrrad gefallen bin? Ich glaube, man muss das behalten, um inszenieren zu können. Das ist vielleicht nicht so bekannt, aber diese Strasberg-Methode, mit der zum Beispiel Marlon Brando oder Robert De Niro gearbeitet haben, das ist eine wirkliche Erinnerungsbibliothek, an die die Schauspieler bewusst herangeführt werden und sich selbst auch bewusst immer wieder trainieren, das abrufen zu können, und das ist tatsächlich das Hauptarbeitswerkzeug. Ich glaube sowieso, dass man als Mensch, um überhaupt Erkenntnisse zu haben oder Überlegungen zu haben, immer reingreift in diese riesige Erinnerungsbibliothek, die wir mit uns tragen.
Auch kollektives Erinnern ist persönlich
Ellmenreich: Die Strassberg-Methode, die greift auf die eigenen, die persönlichen Erinnerungen zurück, nicht die, die womöglich in einem Drehbuch - ich weiß, dass Sie nicht allzu streng mit Drehbüchern arbeiten, aber die nicht in einem Drehbuch vorher fixiert sind?
Gröning: Genau. Jeder Mensch hat ja nur persönliche Erinnerungen. Auch was wir kollektives Erinnern nennen, das ist ja ein Erinnern an etwas, was einem erzählt wurde oder von den Medien gebracht wurde oder so. Aber natürlich hat jeder Mensch immer nur seine eigene persönliche Erinnerung.
Ellmenreich: In Filmen wird uns diese persönliche, diese fiktiv-persönliche Erinnerung ja auch immer wieder vor Augen geführt. Da gibt es die Rückblende, da gibt es Bilder in Schwarz-Weiß, eine Stimme erzählt aus dem Off von der Vergangenheit. Sind solche Methoden, diese klassischen filmischen Erinnerungsmethoden, sind die eigentlich inzwischen überholt, weil sie irgendwie überstrapaziert sind?
Gröning: Nee, das kann man so nicht sagen. So wie noch nie ein Medium, was entstanden ist, wieder untergegangen ist, ist auch noch nie ein künstlerisches Medium einfach verschwunden. Es gibt Mittel, die werden überstrapaziert. Die Rückblende wurde vielleicht mal überstrapaziert eine Weile. Und irgendwann wird sich das wieder reinigen und wird wieder neu erscheinen. Wenn man sich große Filme anschaut: Da gibt es viele, die mit diesen Mitteln arbeiten.
Kunst wirkt durch Gegenwärtigkeit
Ellmenreich: Und die heute noch genau die Gültigkeit und, wie soll ich sagen, die Hochwertigkeit besitzen, wenn ich Sie richtig verstehe?
Gröning: Das ist das Interessante an Kunst. Ich glaube, Kunst ist etwas, was auf den Zuschauer wirkt durch seine eigene Gegenwärtigkeit. Und diese Gegenwärtigkeit, wenn Du die wirklich erreichst, wenn ich mir anschaue ein Bild von Turner oder wenn ich mir anschaue einen Film von Tarkowski oder sagen wir von Bunuel, dann haben die in ihrer Zeit eine solche Gegenwärtigkeit erreicht, dass diese Gegenwärtigkeit auch bleibt. Dieser schöne Spruch "All art has been contemporary" ist tatsächlich wahr und eine Kunst, die nicht in ihrem Moment ist, wird auch nicht in die Zukunft gelangen können.
Ellmenreich: Stichwort "Gegenwärtigkeit". Ihre Filme, so verschieden die auch sind, so zeichnen die sich doch in meiner Wahrnehmung durch eine ganz besondere Gegenwärtigkeit aus. Sie zeigen, was wirklich in dem Moment ist, was gerade passiert, und Sie bilden die Vergangenheit nicht explizit ab. Muss das nicht sein? Spricht die immer wieder auch aus den Bildern, die man gerade sieht, irgendwie indirekt auch mit?
Gröning: Der Film hat ja die Möglichkeit, den Zuschauer unglaublich in seine eigene Gegenwart zu führen, indem er wirklich alle Mittel benutzt, um den Menschen zu sich zu bringen. Und das ist auch der Unterschied zwischen, sagen wir mal, einem schlechten Film oder einem guten Film, dass Du es schaffst, den Zuschauer in diese eigene Gegenwärtigkeit zu bringen, und die bleibt ihm dann als Erinnerung.
Ich glaube ja, dass Kino eigentlich ein Erfahrungsraum sein sollte, mehr als ein Erzählraum. Mit Erzählraum meine ich, man kann Geschichten erzählen, die Du als Zuschauer dann verarbeitest und sagst, rational habe ich das jetzt verstanden und so weiter, und dann ist sie auch schon vorbei. Oder Du kannst einen Erfahrungsraum machen, und wie wir alle wissen: Jede Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben, bleibt bei uns. Und das ist eigentlich, was ich versuche im Kino.
Ellmenreich: Wenn ich jetzt selbst den Praxistest mache und an Ihre Filme denke, dann kommen mir erst mal Bilder beziehungsweise Gefühle in den Sinn – zum Beispiel an "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot". Dann kommt mir spontan das Bild einer Heuschrecke in den Sinn beziehungsweise ein Gefühl, nämlich das Gefühl eines Schwebezustandes zwischen Pubertät und der Zukunft. Sind es dann, wenn Sie vom Erfahrungsraum sprechen, eher solche Gefühle, solche etwas amorphen Halbgeschichten, kleine Dialoge und Bilder und gar nicht so sehr eine Geschichte von A, die nach B, die zu C führt, die man in sich geschlossen nacherzählen kann?
Gröning: Wenn man in einem Zustand ist, wo man das Gefühl hat, man kann etwas beurteilen und kontrollieren, ist man schon gar nicht ganz in der Gegenwart. Das ist ja auch das große Problem für den Menschen, überhaupt in der Gegenwart zu sein. Zum Beispiel wenn ich jetzt spreche, müssen Sie und auch der Zuhörer sich erinnern an den Anfang des Satzes, wenn der Satz zu Ende ist. Sonst kann man den Satz nicht verstehen. Wenn das geklappt hat, dass der Film Sie in diese amorphe Gegenwart zurückgebracht hat, dann finde ich das großartig.
Etwas schaffen, das Menschen begleitet
Ellmenreich: Nun verlässt man zwar den Kinosaal, aber nicht unbedingt immer jeden Film. Sie haben mal gesagt, auf der Berlinale Anfang des Jahres: "Ich will Filme machen, durch die mit dem Zuschauer etwas passiert, die ihn länger beschäftigen." Kann man dann sagen, dass sich Ihre Zuschauer an den Film erinnern sollen, dass sie den Film nicht abhaken sollen, sobald sie aus dem Kinosessel aufgestanden sind?
Gröning: Jeder von uns erinnert sich an bestimmte Filme oder Romane oder so, die einen wirklich verändert haben, die einen berührt haben und die einfach bleiben. Und das ist natürlich, was man will. Ich glaube, dass es die Funktion von Kunst auch ist, dass Du etwas schaffst, was die Menschen begleitet über eine Zeit und nicht sofort wieder gelöscht wird.
Ellmenreich: Nun arbeiten Sie sehr lange an Ihren Filmen, machen daraus keinen Hehl, dass Sie lange produzieren, dass Sie lange selbst schneiden, nachdem Sie selbst die Kamera geführt haben. Sie begleiten Filme über Jahre. Können Sie sich an alle Details aus Ihren Filmen erinnern? Oder, wenn Sie wie jetzt zum Beispiel beim Filmfest München womöglich einen eigenen Film nach Jahren wiedersehen, sind Sie dann selbst überrascht von dem, was Sie auf der Leinwand sehen?
Gröning: Ich glaube, je geglückter ein Film ist, desto ungenauer erinnert man sich als Regisseur daran. Selbst wenn ich und mein Cutter da zwei Jahre an der Frau des Polizisten zum Beispiel geschnitten haben – wenn man uns fragt, was passiert eigentlich in Kapitel 37, wissen wir es nicht, weil eine Form entsteht, die als Ganzes so eine Einheit ist, dass Du nicht genau sagen kannst, und hier ist jetzt genau dieses Detail. Wenn etwas im Detail zerfällt, ist es ja keine Gesamtform mehr.
Keine Wahrnehmung ohne Erinnerung
Ellmenreich: Und die Eigenschaft von Formen, welcher Art auch immer in der Erinnerung, ist ja auch, dass sie sich verändern, dass sie sich irgendwie einfärben können. Es könnte auch sein, dass Sie sich auf eine andere Art und Weise an Ihren eigenen Film erinnern?
Gröning: Das ist ja auch notwendig, weil sonst könnte man den Film ja gar nicht anschauen. Wenn ich jetzt den Film vollkommen auswendig wüsste, könnte ich ihn nicht mehr beurteilen. Dann würde ich ja nur abhaken, ist das Bild noch an der richtigen Stelle. Das ist ein mysteriöser Prozess, wie Du als Mensch eigentlich immer Formen schließt und dann gleichzeitig sie wieder auflöst, um neue Formen wahrnehmen zu können, und da ist immer ein Erinnerungsanteil drin. Wir können nicht wahrnehmen, ohne uns zu erinnern.
Ellmenreich: Kommen wir zum Schluss unseres Gespräches noch mal zum Schnitt. Ich habe vorhin schon gesagt, dass Sie viel und ausführlich filmen und dann natürlich der Schnitt der Prozess ist, in dem aussortiert wird, wenn ich das so keck formulieren darf. Ist es für Sie ein schmerzhafter Prozess, dass selbst Geschaffene während der Dreharbeiten dann wiederum zu vergessen? Kann man das Wort da anwenden?
Gröning: Ja, man muss es ja nicht nur vergessen; man muss es regelrecht vernichten. Es ist aber, glaube ich, auch wiederum bei jeder anderen Kunst auch so. Das ist ein furchtbarer Prozess und er ist auch deshalb so schwierig, weil es ja nicht nur darum geht, Sachen wegzuwerfen, sondern es geht darum, die Dinge in die richtige Balance zu bringen. Und diese Balance ist etwas, was dann am Schluss eine Gestalt ist, die quasi eine Gesamtgegenwärtigkeit hat. Wenn Sie sich an meinen Bruder Robert erinnern, erinnern Sie sich nicht unbedingt an den genauen Ablauf der Geschichte, sondern an einen diffusen Gesamteindruck. Das ist sehr schwer zu erreichen und das ist sehr anstrengend, ja.
Unterrichten als persönlicher Vorgang
Ellmenreich: Wie schwer ist das, das zu vermitteln? Sie unterrichten auch, Sie lehren auch, Philip Gröning. Bringen Sie Ihren Studenten bei, schnell auszusortieren, sich von Ideen trennen zu können, kurzum das zu vergessen, was es sich nicht lohnt festzuhalten?
Gröning: Das Unterrichten von Filmen ist wie das Unterrichten von jeder anderen Kunst auch, glaube ich, ein sehr persönlicher Vorgang. Es gibt Studenten, die machen ihre Sachen wahnsinnig schnell; es gibt Studenten, die machen ihre Sachen sehr, sehr langsam. Da gibt es, glaube ich, keine Regel. Ich glaube, als Künstler ist es wichtig, dass man seinen eigenen Rhythmus gefunden hat. Da gibt es keine Rezepte. Aber was es gibt ist eine Aufforderung dazu, mehr und mehr man selber zu werden, indem man diese Arbeit macht.
Ellmenreich: Wenn ich Sie jetzt das Gespräch über richtig verstanden habe, dann ist das Erinnern und das Vergessen eigentlich was ganz Elementares für einen Künstler.
Gröning: Ich glaube, ja. Und gleichzeitig der Zugang zu der wirklichen Gegenwart, weil wiederum egal was Du tust, Du tust es ja immer nur in der Gegenwart, und die Gegenwart ist merkwürdigerweise fast das Unbekannteste in unserem Leben. Wir können die Zukunft planen und wir können die Vergangenheit erinnern, aber die Gegenwart ist auch der Mittelpunkt zwischen dem Erinnern und Vergessen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.