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Philippe Besson: „Hör auf zu lügen“
Über die lebensrettende Kraft der Worte

Sommer 1984: Philippe und Thomas leben ihre erste große Liebe. Aber Thomas besteht darauf, dass niemand davon erfahren darf. Mehr als 30 Jahre später blickt Philippe Besson, inzwischen Schriftsteller, auf diesen für ihn prägenden Sommer zurück.

Von Dina Netz | 05.02.2019
    Philippe Besson: "Hör auf zu lügen"
    Schlüsselwerk und Epochenportät: Philippe Bessons autobiographische Liebesgeschichte "Hör auf zu lügen" (Buchcover: C. Bertelsmann Verlag, Foto: imago stock&people/LeonardoxCendamo/Leemage)
    Eine Kindheit als Schwuler in der Provinz – dieses Motiv kehrt zurzeit in der französischen Literatur immer wieder. Didier Eribon und Edouard Louis haben mit ihren soziologisch untermauerten autobiographischen Büchern geradezu eine eigene Gattung begründet. Auch der aktuelle Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu erzählt in "Leurs enfants après eux" vom Aufwachsen abseits der Metropolen. Dieses Interesse an den Ausgegrenzten, den von der Globalisierung Abgehängten, von der Politik allzu oft Ignorierten ist neu in der französischen Literatur. Vielleicht haben Eribon und Louis den Weg bereitet für Philippe Besson, der schon viele Romane veröffentlicht, aber um seine eigene Biographie immer einen Bogen gemacht hat. Ihn in eine Reihe mit diesen Autoren zu stellen, wäre dennoch ein Missverständnis, denn Besson leitet aus seiner persönlichen Geschichte keine allgemeingültigen Analysen ab außer vielleicht der Erkenntnis, dass Worte unverzichtbar sind.
    In "Hör auf zu lügen" erzählt Besson von seiner ersten großen Liebe, Thomas. Die beiden jungen Männer verlieben sich 1984 in einem Städtchen namens Barbezieux.
    "Barbezieux liegt in der Charente. Dreißig Kilometer südlich von Angoulême. Fast am Ende des Départements, fast schon in Charente-Maritime, fast in der Dordogne. Die Winter sind mild und regnerisch, Sommer gibt es nicht immer. Soweit ich mich zurückerinnern kann, regiert Grau, ist es feucht. Gemäuerreste aus gallorömischer Zeit, Kirchen, Schlösser; unseres erinnert an eine Trutzburg, doch was gab es damals dort zu verteidigen? Drumherum: Anhöhen; es heißt, die Gegend sei hügelig. Ja, damit hat es sich auch schon ungefähr."
    Die Lebenswege sind vorgezeichnet
    Philippe ist 17, der Sohn des Schuldirektors, ein Musterschüler des Abiturjahrgangs, der seine Nase immer in Bücher steckt und sich sicher ist, dass er dieses graue Städtchen bald verlassen wird. Das erwartet auch sein Vater von ihm, mehr noch: eine steile berufliche Karriere soll sein Sohn sich erarbeiten.
    Auch der Lebensweg von Thomas ist vorgezeichnet, sogar noch genauer: Als einziger Sohn wird er ganz selbstverständlich den Hof der Familie übernehmen. Ein Ausscheren aus den väterlichen Erwartungen kommt für ihn nicht in Frage, und so muss Philippe zu Beginn ihrer Beziehung eine Grundbedingung akzeptieren: Sie treffen sich nur heimlich, niemand darf etwas erfahren. Und im Gegensatz zum kopflos verliebten Philippe sieht Thomas schon genau voraus, dass ihre Liebe endlich sein wird, weil Philippe nach dem Abitur fortgeht. Heimlichkeit und definierte Endlichkeit wirken wie Katalysatoren: Beide erleben die Liebesgeschichte intensiv, genau wie die anschließende Trennung. Und sie werden diese erste große Liebe ihr Leben lang nicht vergessen. Besson gelingt es, sehr genau, empathisch und ohne jede Peinlichkeit die Gefühle zweier fast Erwachsener zu beschreiben. Zum Beispiel den Moment, als Philippe begreift, dass Thomas ihn verlassen hat:
    "Kein Lärm mehr, sondern ein körperliches Gefühl, ein Stoß, wie ein Aufprall. Der Verunglückte bin ich, den Helfer aus einem Schrotthaufen ziehen, eilig auf einer Tragbahre schaukeln, in einen Krankenwagen heben, in einer Notaufnahme abliefern, dem diensttuenden Arzt anvertrauen, der Schwerverletzte, der sofort operiert wird, weil er verblutet, seine Gliedmaßen zerschmettert sind, Verletzungen hat, dann der geflickte, vernähte, eingegipste Überlebende, der langsam aus der Betäubung erwacht, noch die Wirkung von Chloroform spürt, aber schon von ersten der kommenden Schmerzen heimgesucht wird, der Erinnerung an den Albtraum, sodann der verwirrte Genesende, der sich manchmal fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er beim Aufprall draufgegangen wäre, doch der wieder auf die Beine kommt, denn es passiert oft, dass man gesundet."
    Ein Schlüssel zum Werk von Philippe Besson
    Man kann das Buch als Schlüssel zum Werk von Philippe Besson lesen, denn in diesem Sommer 1984 liegt der Ursprung all der Themen, die er in seinen anderen Romanen behandelt: Identität, Verlassenheit, Trauer, die Macht der Liebe, unerträglicher Verlustschmerz. Dieser Sommer 1984 hat ihn zum Schriftsteller gemacht, denn anders als Thomas wollte und konnte Besson das Erlebte nicht verschweigen. So hat er selbst es in einem Interview gesagt. Und auch in seinem Buch:
    "Später werde ich über Verzicht schreiben. Über den unerträglichen Verlust des anderen. Über die Not, die er hervorruft; eine Armut, die entkräftet. Ich werde über die nagende Trauer, den drohenden Wahnsinn schreiben. Das wird zum Grundgefüge meiner Bücher werden, fast gegen meinen Willen. Ich frage mich manchmal, ob ich sogar je über etwas anderes geschrieben habe. So, als hätte ich mich nie erholt von: Der andere ist unerreichbar geworden. Als wäre das gesamte Gemüt nur davon voll."
    Viele Jahre später erfährt Philippe Besson, dass Thomas in der Zwischenzeit geheiratet hat, Vater eines Sohnes wurde, sich getrennt hat. Und sich schließlich erhängte. Seine sexuelle Orientierung hat er sein Leben lang geleugnet.
    Die Nachricht von Thomas' grausamem Tod traf Besson, der bisher seine Biographie nur verklausuliert in seinen Büchern verarbeitet hatte, wie ein Schlag. Er ist von der Wirklichkeit eingeholt worden, sagte er, und musste seine Maske des Romanautors abstreifen. Ein bisschen so, als hätte ihn seine Mutter noch einmal aufgefordert: "Hör auf mit deinen Lügen!" So herrschte die Mutter den Jungen Philippe nämlich genervt an, wenn er sich mal wieder Geschichten ausdachte. Eine frühe Neigung, in der wohl schon der Keim des Schriftstellers steckte. Geschichten zu erzählen hat Besson, so legt das Buch nahe, geholfen, den eigenen Dämonen zu trotzen, vor allem dem traumatischen, abrupten Bruch mit Thomas. "Hör auf zu lügen" ist aber auch deshalb ein ungeheuer passender Titel, weil man ihn Thomas, der sich aus Angst selbst verleugnet, entgegen schreien möchte.
    Denkmal einer großen Liebe
    "Hör auf zu lügen" ist außerdem ein Epochenporträt, denn Besson erzählt en passant, wie es war, das Leben in den 80ern, als Jean-Marie Le Pen seine ersten Fernsehauftritte hatte, als es noch ein Land namens Jugoslawien gab, als AIDS eine Krankheit war, die nur die anderen bekamen, als die Zwanzig-Uhr-Nachrichten noch "Acht-Uhr-Nachrichten" hießen.
    Das Buch trägt die Bezeichnung "Roman" auf dem Titel, was legitim ist, denn Besson hat sein Thema literarisch durchgearbeitet, zu knappen Szenen kondensiert, die zärtlich oder grausam von der Liebe erzählen, aber niemanden bloßstellen. "Hör auf zu lügen" ist das Denkmal einer großen Liebe, aber zugleich eine Mahnung, sich selbst niemals zu verleugnen und der Angst vor dem, was man in sich trägt, ins Auge zu sehen. Der Roman ist eine Hommage an das Schreiben und das Erzählen, die im besten Falle Leben retten können.
    Philippe Besson: "Hör auf zu lügen" Aus dem Französischen von Hans Pleschinski
    C. Bertelsmann, München. 156 Seiten, 20 Euro.