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Philippe Jaroussky als Orfeo
Vom Koloraturzauberer zum Charakterdarsteller

Philippe Jaroussky sucht die Veränderung: Weg vom barocken Koloratur-Geklingel hin zu Charakterfiguren wie dem Orfeo von Christoph Willibald Gluck. Er hat eine ganz besondere Fassung von Orfeo ed Euridice aufgenommen, die 1774 speziell für Neapel erstellt wurde.

Von Dagmar Penzlin |
    Der Countertenor Philippe Jaroussky
    Der Countertenor Philippe Jaroussky (Simon Fowler)
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Deh! Placatevi con me" (Orfeo) aus "Orfeo ed Euridice"
    Wir wissen nicht genau, wie der Gesang von Orpheus geklungen haben mag, wenn er Menschen und Götter betörte. Auch Tiere, Pflanzen und selbst Steine soll er dem Mythos nach in seinen Bann gezogen haben. Dass diese Stimme etwas von der Schönheit und herzerwärmenden Kraft besessen haben könnte, über die der Countertenor von Philippe Jaroussky verfügt – diese Vorstellung gefällt. Jarousskys Stimme klingt so rein und klar, zugleich geheimnisvoll und immer ein bisschen von Melancholie umweht. Wie der französische Sänger die Begegnung von Orpheus mit den Furien am Eingang zum Totenreich gestaltet – verschattet im Ton, leidend und doch entschlossen, das berührt.
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Mille pene" (Orfeo) aus: "Orfeo ed Euridice"
    Die Orpheus-Figur ist Philippe Jaroussky zutiefst vertraut. Gleich zu Beginn seiner Karriere hat er 1999 mit Anfang 20 die Titelrolle von Claudio Monteverdis Oper "Orfeo" übernommen. Zum Monteverdi-Jahr 2017 steuerte Jaroussky ein "Orfeo"-Album bei, das auch unbekanntere Orpheus-Opern von Luigi Rossi und Antonio Sartorio aus dem 17. Jahrhundert einbezieht. Mit der jetzt veröffentlichten Aufnahme von Christoph Willibald Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" schreitet er noch ein Jahrhundert weiter. Die Wahl fiel auf eine Fassung, die ein Dutzend Jahre nach der Uraufführung zu erleben war: in Neapel 1774 am Hoftheater. Die Gesamtstruktur der Oper bleibt dabei erhalten. Gluck hat vielmehr Details geändert – etwa die Instrumentation, um das Werk an die Aufführungsmöglichkeiten in Neapel anzupassen. Eingriffe in die Komposition nahm aber offenbar ein Adeliger namens Diego Naselli vor. So verlängerte er das Duett zwischen Orfeo und seiner aus dem Totenreich befreiten Ehefrau Euridice und beschleunigte das Tempo gerade zum Schluss hin.
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Vieni, appaga il tuo consorte" (Orfeo, Euridice) aus: "Orfeo ed Euridice"
    Der zweite große Unterschied zur Originalversion: Die bekannte Arie "Che fiero momento" von Euridice taucht in der Fassung von 1774 nicht auf. Vielmehr gibt es eine neue mehrteilige Arie, deren Urheber unbekannt ist. Euridice gibt sich hier ausführlicher ihrer Empörung und ihrem Schmerz hin, dass sich ihr Gatte nicht zu ihr umdreht, obwohl er sie aus dem Totenreich zurückgeholt hat; sie weiß nicht, dass er dem Gott Amor versprechen musste, sich nicht umzudrehen.
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Senza un addio" (Euridice) aus: "Orfeo ed Euridice"
    Amanda Forsythe gelingt es glaubhaft, Euridices Gefühlswirrwarr auszudrücken. Ihr klarer, energiegeladener Sopran harmoniert gut mit dem hellen Countertenor von Philippe Jaroussky. Sein Orpheus-Porträt überzeugt durchgehend, auch wenn gerade in höherer Lage nicht jeder Ton die letzte Rundung besitzt. Nachdem Orfeo seine Frau zum zweiten Mal verloren hat, steht er kurz vorm Suizid. Jaroussky lässt daran keinen Zweifel, wenn er in Orfeos berühmter Klage immer wieder Töne fast ins Nichts laufen lässt, fast wie ausgehaucht.
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Che farò senza Euridice" (Orfeo) aus: "Orfeo ed Euridice"
    Philippe Jaroussky justiert mit diesem Orpheus-Porträt weiter sein künstlerisches Profil neu: weg vom virtuosen Koloratur-Zauberer vom Dienst hin zum Charakterdarsteller. Mehr Tiefe sei sein Ziel, wie der 40-Jährige im vergangenen Jahr in einem Interview bekannte.
    "Mich interessieren jetzt mehr die weniger virtuosen, tiefer gehenden Kompositionen auch der Kastraten. Die hochvirtuosen Stücke beinhalten zu oft Wiederholungen. Ich möchte Musik singen, die tiefer geht. Ich möchte das Publikum an Kompositionen heranführen, die weniger spektakulär sind als vielmehr gehaltvoll. Musik ist die Kunstform, die selbst metaphysische Fragen beleuchten kann."
    Mit Diego Fasolis hat Philippe Jaroussky einen Dirigenten an seiner Seite, der ein Meister darin ist, Musik vergangener Epochen an uns heute heranzurücken. Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" atmet und pulsiert, der Grundklang ist warm, die Tempi flüssig, oft vorwärtsdrängend. Die Interpretation fesselt. Auch dank des Könnens vom Ensemble I Barocchisti und des Schweizer Rundfunkchores.
    Musik: Christoph Willibald Gluck, "Vieni a’regni del riposo" (Chor) aus: "Orfeo ed Euridice""Orfeo ed Euridice"
    Dass hier die extra für Neapel erstellte Version des Orfeo von Gluck zum ersten Mal überhaupt aufgenommen wurde, ist eigentlich nur eine Randnotiz wert. Dieses Gluck-Album punktet vor allem mit der Qualität seiner Interpreten und der Energie, mit der diese mythische Liebesgeschichte erzählt wird.
    "Orfeo ed Euridice"
    Christoph Willibald Gluck
    Philippe Jaroussky (Countertenor), Amanda Forsythe (Sopran), Emőke Baráth (Sopran), Diego Fasolis (Leitung), Coro della Radiotelevisione svizzera, I Barocchisti
    Erato 0190295707941 / LC 02822