Antisemitismus und Rassismus - "massiv wie nie zuvor"
Nida-Rümelin sagte im Interview der Woche des Deutschlandfunk, der Terror-Anschlag sei eine absolute Katastrophe und habe das Land schwer erschüttert. Nida-Rümelin wörtlich:
"Im Mittelpunkt muss stehen, wie wir die zivile Kultur in diesem Land sichern. Es gab immer einen Bodensatz von Antisemitismus, aber er war relativ versteckt und wird jetzt wieder sehr massiv. Womit hängt das zusammen und wie kann man diese Entwicklung steuern? Das ist eine große Herausforderung auch der politischen Kultur in Deutschland."
Politische Parteien müssen Brücken schlagen in die Gesellschaft
Für politische Parteien kommt es nach Ansicht von Nida-Rümelin darauf an, dass sie jenseits ihrer eigenen Betriebsamkeit auch Brücken schlagen in die Gesellschaft hinein. Interessierte Menschen müssten angesprochen werden, die beispielsweise keine Zeit für die Arbeit in Ortsvereinen oder für Wahlkämpfe hätten. Seiner Partei, der SPD, sei es in den vergangenen Jahren nicht mehr gelungen, unterschiedliche Milieus zusammenzubinden. Das aber sei die Aufgabe einer Volkspartei.
Neue Agenda der SPD muss politische Gestaltung der Globalisierung sein
Für den früheren Kulturstaatsminister muss die deutsche Sozialdemokratie ihren Anspruch, politisch zu gestalten, annehmen und eine Antwort auf die Globalisierung geben. Das, so Nida-Rümelin, sei die Agenda der SPD und diese liege auf der Hand. Die Globalisierung habe in den Jahren 2007 bis 2010 zu deregulierten Finanzmärkten geführt und die SPD müsse signalisieren, dass sie diese Verhältnisse gestalten wolle.
"Das ist im Kern ein sozialdemokratisches Projekt, aber es gelingt den meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa nicht, das rüberzubringen."
Das gesamte Interview der Woche im Wortlaut:
Birgit Wentzien: Willkommen zum Interview der Woche, Herr Nida-Rümelin, Grüße nach München.
Julian Nida-Rümelin: Grüße Sie, Frau Wentzien.
Wentzien: Ich war ja in München bei Ihnen zur Aufnahme dieses Gesprächs, und kurz danach ereignete sich der Terroranschlag in Halle in Sachsen-Anhalt. Wir sind darum erneut miteinander verbunden, diesmal telefonisch. Ich danke dafür und ich frage Sie bitte nach Ihrer Einschätzung dieses Anschlags. Es ist ein antisemitischer, ein rassistischer Anschlag, der das Land in den Grundfesten erschüttert. Wie beurteilen Sie das Geschehen?
Nida-Rümelin: Das ist auch deswegen erschütternd, weil man tatsächlich – auch, wenn das manche wahrscheinlich überraschen wird – sagen konnte in den vergangenen Jahren, dass sich Juden in Deutschland vergleichsweise sicher fühlen können. Das sagen auch diejenigen, die in anderen Weltregionen gelebt haben, Jüdinnen und Juden, die jetzt zum Beispiel in Berlin leben und sagen: Ja, also, hier habe ich doch das Gefühl, dass ich nicht rassistisch verfolgt werde, auch wenn es immer wieder üble Äußerungen am Rande des politischen Spektrums gibt. Und jetzt zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es wieder einen Anschlag, der, wenn er so abgelaufen wäre, wie der Täter sich das offenbar vorgestellt hat, eine absolute Katastrophe mit also möglicherweise sehr vielen, sehr vielen Todesopfern nach sich gezogen hätte. Das ist eine schwere Erschütterung. Und die Reaktionen sind auch entsprechend entsetzt.
"Reflexhafte Reaktionen, die das verstärken, was die Terroristen wollen"
Wentzien: Was ist aus Ihrer Sicht jetzt wesentlich in diesem Moment für dieses Land? Sie haben die Bewegtheit angesprochen.
Nida-Rümelin: Also, es gibt geradezu reflexhaft Reaktionen auf Terroranschläge, die das verstärken, was die Terroristen wollen. Und da meine ich jetzt jede Form von Terrorismus, ob das islamistisch, rassistisch oder auch linksterroristisch ist. Der Terror richtet sich ja nicht primär gegen die Opfer, sondern richtet sich primär an eine Öffentlichkeit. Es geht dem Terroristen immer darum, eben Terror zu verbreiten, Angst und Schrecken und entsprechende Reaktionen auszulösen und damit Ziele zu befördern, die er sich vorstellt. Zum Beispiel eben einen Bürgerkrieg auszulösen, wie rassistische Terroristen in ihren Pamphleten schreiben, damit sich die weiße Rasse oder die Europäer gegen ihre Überfremdung wehren und Ähnliches. Und geradezu reflexhaft verstärkt die mediale Reaktion häufig genau diese Ziele, die diese Terroristen haben.
Und da muss man sehr aufpassen. Es ist diesmal immerhin so gewesen, dass über den Täter vergleichsweise wenig öffentlich diskutiert wurde, denn das führt zu Nachahmungstaten. Die Tat selber ist vermutlich, wenn man genau hinschaut, eine Nachahmungstat aus den USA. Und da müssen wir sehr aufpassen.
Das Zweite, was mindestens so wichtig ist: Es ist erforderlich, dass natürlich die Innenpolitik sich Gedanken macht, wie die Sicherungsmaßnahmen besser sein können. Allerdings heißt das auch eine große Belastung für die jüdischen Gemeinden. Das kann ich gut sagen. Ich habe den Aufbau der Jüdischen Gemeinde in München mitbegleitet, ursprünglich als Kulturreferent mit angestoßen, bin da auch im Kuratorium über Jahre gewesen. Ich weiß, was das für die Betroffenen bedeutet.
Das heißt, das ist wohlfeil, bei jedem Terroranschlag und bei jedem sicherheitsbedrohenden Akt zu sagen, gut, da ist nicht genug staatliche Sicherung. Das muss man sich überlegen. Das darf aber nicht im Mittelpunkt stehen. Im Mittelpunkt muss stehen, wie wir die zivile Kultur in diesem Lande sichern, die antisemitischen, rassistischen Ideologien und Thesen, die auch das Internet immer stärker auch prägen. Das hat man nicht für möglich gehalten noch vor wenigen Jahren. Es gab immer einen Bodensatz von Antisemitismus, aber er war relativ versteckt, fast unsichtbar. Er wird jetzt wieder sehr massiv. Und womit hängt das genau zusammen und wie kann man diese Entwicklung steuern? Das ist eine große Herausforderung auch der politischen Kultur in Deutschland.
Auch heute sollten 19-Jährige noch in Parteien gehen
Wentzien: Julian Nida-Rümelin zum Terroranschlag in Halle. Ich kehre zurück zu unserem Gespräch, das wir in dieser Woche in München unmittelbar davor geführt haben. Der Hochschulprofessor für Philosophie und politische Theorie hat sich selbst einmal einen Amateurpolitiker genannt. Das war gemünzt auf seine Zeit als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Gerhard Schröder. Mitglied der SPD wurde Julian Nida-Rümelin im Jahr 1974. Er war damals 19 Jahre alt und meine Frage an ihn lautet: Würden Sie es wieder tun?
Nida-Rümelin: Ich habe mir damals überlegt, mich politisch zu engagieren. Ich war vorher Schulsprecher an einem Gymnasium einige Jahre lang. Es gab ja nun noch nicht das breite Spektrum von Parteien, die es heute gibt. Die Grünen gab es noch gar nicht 1974. Und ich hatte den Eindruck, dass Hochschulpolitik für mich nichts ist, weil das so hochgradig ideologisiert schon damals war mit allen möglichen K-Gruppen und ich weiß nicht, was da alles rumlief. Und da habe ich nach längerem Überlegen auch nach Besuch von Veranstaltungen mir gesagt: Ja, du bist da ganz gut aufgehoben, obwohl ich familiär keinerlei Hintergrund in diese Richtung hatte. Mein Vater wählte wohl überwiegend FDP, war so ein linksliberaler Intellektueller, der aber mit Politik, nach diesem Desaster des Nationalsozialismus nichts zu tun haben wollte.
Ob ich heute das noch mal wiederholen würde, also, ich habe das auf keinen Fall bereut, weil man dadurch gerade als eher aus dem intellektuellen Milieu, bildungsbürgerlichen Milieu kommend, man lernt, sich so auszudrücken, dass man verstanden wird. Man lernt, sich auf die pragmatischen Dinge des Lebens einzulassen. Also, ich habe das auf keinen Fall bereut.
Wentzien: Würden Sie es heute 19-Jährigen raten, in Parteien zu gehen? Sind das die Formate des Politischen?
Nida-Rümelin: Ich würde es unbedingt raten, denn viele glauben ja, man kann Politik ohne Parteien machen. Das geht in Deutschland jedenfalls auf keinen Fall. Wir haben kein Präsidialsystem, wie das französische, wo auch einer, der eigentlich vom Rande kommt, wie Macron, sehr schnell aufsteigen kann und am Ende Präsident wird. Wir haben schon eine Parteiendemokratie. Artikel 21, da steht das auch drin im Grundgesetz. Und ohne Parteien funktioniert es nicht. Und, wenn die Parteien jetzt erodieren, so wichtig Bürgerinitiativen sind, Gewerkschaften sind, Unternehmerverbände sind, aber wenn diese Parteien erodieren, dann bekommen wir ein institutionelles Problem.
"Parteien müssen Brücken schlagen in die Gesellschaft"
Wentzien: Über die erodierende SPD sprechen wir bitte gleich. Ich würde gerne noch eine Frage anschließen. Sie sind als Hochschulprofessor für politische Theorie und Philosophie, als ein, ja, sagen wir mal, auch eine Figur in der Universitätslandschaft ja viel mit jungen Leuten in Kontakt. Wenn Sie denen zum Beispiel sagen, was Herr Klingbeil, der SPD-Generalsekretär, zu Herrn Böhmermann, dem Satiriker, gesagt hat, als der sagte, ich trete jetzt in die Partei ein: "Herzlich willkommen, jetzt geht es los. Infostände, Hausbesuche, Bürgergespräche, Plakate kleben." Ist das so das Höchstmaß an Attraktivität, das man im Moment aussenden kann?
Nida-Rümelin: Also, ich glaube, alle Parteien müssen schauen, dass sie jenseits ihrer üblichen Betriebsamkeiten, also Ortsverein, Wahlkämpfe vorbereiten usw., Brücken schlagen in die Gesellschaft. Und das heißt auch, Menschen aufnehmen, die dafür keine Zeit haben, weil sie Familienpflichten haben, weil sie beruflich so eingebunden sind, dass sie sich das nicht leisten können mit drei, vier Abenden in der Woche in Parteiorganisationen und in Wahlkämpfen engagiert zu sein.
Die SPD hat in den 1980er-Jahren mit Peter Glotz den Versuch gemacht, mit solchen Foren, ja, Wissenschaftsforum, Kulturforum – ich habe selber in München eines gegründet, das bis heute das erfolgreichste, mit Abstand erfolgreichste regionale Kulturforum geblieben ist… das ist der Versuch, Menschen anzusprechen, die eben diesen Betrieb, den der Generalsekretär da angesprochen hat, so nicht mitmachen können oder wollen. Und ich glaube, das ist eine der großen Herausforderungen, gerade für die Volksparteien.
Wentzien: Wir sind mit Peter Glotz bei Ihnen, und zwar bei dem Wissenschaftler Nida-Rümelin und mit Peter Glotz auch als Bundesgeschäftsführer der SPD bei einem Zitat, das ich mitgebracht habe. Vielleicht ist es gar nicht so alt, wie es zunächst klingt. Peter Glotz hat in seiner Zeit als Bundesgeschäftsführer der SPD ein politisches Tagebuch geschrieben. Und ein Zitat daraus aus dem Jahr 1981 heißt:
"Ich habe regelrecht Angst, dass unsere Gesellschaft zerfällt in Kernbelegschaften und Randbelegschaften. Die SPD darf nicht zu einer Partei werden, die sich unter den zwei Dritteln einen sicheren Wählerstamm von 40 Prozent sucht und das restliche Drittel links liegen lässt. Sie darf sich aber auch nicht auf dieses Drittel abdrängen. Wie mobilisiert man Kernbelegschaften", fragt 1981 Peter Glotz, "für Randbelegschaften?"
Nida-Rümelin: Ja, das ist im Grunde eine Problematik, die bis heute besteht. Sie besteht, glaube ich, nicht nur für die SPD. Sie besteht in ähnlicher Weise auch für die andere, größere Volkspartei Union, die ebenfalls Kernbelegschaften, wenn man das so nennen will, hat, in Gestalt also zum Beispiel der religiös-kirchlich Engagierten, auch konservative Organisationen usw., die aber natürlich ausgreifen muss und das von Anfang an seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder versucht hat, auszugreifen aus diesem Milieu heraus. Sonst hätte die Union nicht diese Zustimmungsraten gewinnen können.
SPD bindet extrem unterschiedliche Milieus zusammen
Im Falle der SPD kommt hinzu, dass sie Milieus zusammenbindet, die extrem unterschiedlich sind. Da gab es mal eine Sinusstudie, die der Peter Glotz, einer der letzten führenden Intellektuellen, der da eine wichtige Rolle, eine zentrale Rolle gespielt hat, war. Diese Sinus-Studie die kam zu dem Ergebnis, überraschend auch für die Aktiven, dass das Spektrum derjenigen, die der SPD zuneigen oder sie wählen, extrem breit ist. Das reicht also von traditioneller Arbeitnehmerschaft, gewerkschaftsorientiert, bis zu linksalternativen Milieus in den Städten. Aufsteigermilieus, liberal-technokratische Milieus. Das sind also Milieus, die extrem unterschiedlich sind.
Und eine Partei, die sich dann entweder offen oder versteckt immer noch als Klassenpartei versteht, die also Klasseninteressen in erster Linie vertritt, was der linke Flügel der SPD lange Zeit vertreten hat und immer mal wieder auch heute vertritt, kann dieses ganze Spektrum nicht ansprechen.
Das andere Extrem, das aber vor allem in Italien bei der Schwesterpartei Partito Democratico stattgefunden hat, ist auch hochproblematisch, nämlich, dass dann die wohlmeinenden linksliberal gesinnten bürgerlichen Milieus in den Städten, die Ägide und das äußere Erscheinungsbild bestimmen und diejenigen, die ursprünglich zur Stammwählerschaft gehörten, sich nicht mehr angesprochen fühlen. Das kritisiere ich auch. Ich habe das auch in Buchform getan. Wenn man zum Beispiel ganz auf Akademisierung setzt, in Deutschland haben nur 18 Prozent aller Menschen zwischen 25 und 65 einen akademischen Abschluss, und wenn man sagt, die Zukunft gehört den Akademikerinnen und Akademikern, ihr sollt alle studieren, dann wertet das die Facharbeiterschaft ab. Und das heißt also, diesen Spannungsbogen durchzuhalten, ist nicht ganz einfach und er ist nicht gelungen, in den letzten Jahrzehnten nicht gut gelungen.
Ist die Agenda der Sozialdemokratie erfüllt?
Wentzien: Nein, also man könnte auch sagen, dass die SPD an dieser sportlichen Übung gescheitert ist. Lassen Sie uns mal ganz kurz gucken, im Jahr 1999, also vor zwei Jahrzehnten, hat Oskar Lafontaine hingeschmissen als Bundesfinanzminister und Parteichef der SPD. Seine Geschichte ist ein Beispiel nur für den Aufstieg und Fall von ganz vielen SPD-Vorsitzenden seither. Mit Andrea Nahles sind es in knapp drei Jahrzehnten insgesamt zehn Vorsitzende. Warum so viele und warum ausgerechnet in der SPD? Und warum gelingt dieser Partei nicht mehr, was Sie beschrieben haben, nämlich diese gymnastische Übung oder praktisch dieses Einvernehmen von ganz unterschiedlichen Gruppierungen?
Nida-Rümelin: Also, das ist ein erst mal gesamteuropäisches Phänomen. Das geht nicht nur um die SPD, und Sie haben den Wechsel der Vorsitzenden angesprochen. Also, ich glaube, dieser Vergleich hinkt natürlich, wie alle. Aber es gibt ein Phänomen, das kann man vielleicht folgendermaßen formulieren, nämlich: Der Erfolg zerstört die Grundlagen weiterer Erfolge.
Das extremste Beispiel ist der Liberalismus. Wir leben in einer durch und durch vom Liberalismus als politischer und philosophischer Theorie, Ideologie geprägten Gesellschaft. Die gesamte Rechtsordnung ist vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts ganz massiv geprägt. Die Partei, die den Liberalismus politisch vertritt, die kommt mal gerade über fünf Prozent. Das hängt damit zusammen, nicht, dass der Liberalismus tot ist, sondern, dass er so selbstverständlich geworden ist und für alle Parteien, jedenfalls im demokratischen Spektrum, eine zentrale Rolle spielt, dass eine speziell liberalistische Partei nicht mehr für viele als erforderlich gilt.
Jetzt die Analogie. Ist das die Situation, wie Dahrendorf vor vielen Jahrzehnten einmal meinte, der Sozialdemokratie? Ihre Agenda ist erfüllt. Sie hat das erreicht, was sie wollte. Sie hat den Sozialstaat so ausgebaut, dass er nicht mehr weiter ausgebaut werden kann. Und das ist nun die eigentlich interessante vielleicht Kernfrage des sozialdemokratischen Projekts in Europa. Ist es so oder ist es nicht so? Man kann sagen, Blair, sogar Clinton, das ist kein Sozialdemokrat, aber nahe dran, Blair, Clinton, Schröder haben…
Sozialdemokratie muss auf Deregulierung und Globalisierung antworten
Wentzien: Müssen wir ganz kurz erklären: Tony Blair in Großbritannien.
Nida-Rümelin: In Großbritannien, Ministerpräsident mit einer Modernisierungsstrategie, der die Labour-Partei grundlegend verändert hat, der sie gewissermaßen versöhnt hat mit ökonomischen Interessen, mit dem Marktsystem.
Wentzien: Bill Clinton damals in Amerika.
Nida-Rümelin: Bill Clinton in den USA – extrem erfolgreich, ökonomisch ebenfalls mit einer starken sozialstaatlichen Agenda, aber eben auch sehr wirtschaftsfreundlich und Schröder ebenfalls. Und es ist schon interessant zu wissen, dass die höchste Steuerbelastung auch der Unternehmen bei Helmut Kohl in den letzten Jahren… Kohl existierte nicht in den Jahren Schröder. Rot-Grün hat die Steuern gesenkt, hat eine neue Dynamik auf dem Arbeitsmarkt durchgesetzt mit den Agenda-Reformen. Und da kann man nun sagen, das war genau diese Korrektur, um der Sozialdemokratie gewissermaßen wieder eine neue Agenda zu ermöglichen, eine Agenda, die gewissermaßen die Markt- und Wirtschaftsinteressen versöhnt mit Sozialstaatlichkeit.
Und jetzt, einige Zeit später, das wurde 2003 vorgestellt, 2005 trat die Reform in Kraft, sehr erfolgreich, stellt sich über zehn Jahre später die Frage… das ist irgendwie in der Wahrnehmung schiefgegangen, die Leute lehnen das ab, ich bin einer der letzten Anhänger der Agenda-Reformen und ich glaube, sie waren im Kern richtig.
Und jetzt stellt sich die Frage: Hat die Sozialdemokratie eine Agenda? Und ich meine, wie immer sie sich darstellt, diese Agenda, liegt auf der Hand. Das ist die Antwort auf eine Globalisierung, die zu einer Deregulierung von Finanzmärkten, einer Globalisierung, die nicht kontrolliert ist, geführt hat, zur Wirtschaftskrise 2007, 2008, 2009, 2010 mit Nachwirkungen bis heute. Das heißt, es gibt genau diese zentrale Botschaft. Politische Gestaltung der Verhältnisse. Das ist im Kern ein sozialdemokratisches Projekt, das auf der politischen Agenda steht, aber es gelingt den meisten, nicht allen, aber den meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa nicht, das rüberzubringen.
"Wir haben einen generellen Verlust an Programmatik"
Wentzien: Also, Gerhard Schröder, die Agenda 2010, Sozialreformen, wie sie angesprochen wurden von Ihnen, eigentlich ja Erfolge, deren Erfolge sich eigentlich jetzt erst einstellen. Angela Merkel als Kanzlerin profitiert davon.
Nida-Rümelin: Das weiß sie auch, bestreitet sie gar nicht.
Wentzien: Das weiß sie auch. Das heißt, wir haben jetzt ein bisschen von der Struktur her den großen Hintergrund benannt. Und Sie stellen ja diese Erfolge auch nicht infrage, Herr Nida-Rümelin, aber was passiert damit parteiintern? Warum ist die Sozialdemokratie nicht in der Lage – ganz flach formuliert, bitte entschuldigen Sie – aber diese PS auf die Straße zu bringen und Anerkenntnis dafür zu ernten?
Nida-Rümelin: Also, ich habe keinerlei Funktionen in der SPD. Ich bin Karteileiche. Ich war mal 2009 bis 2013 beauftragt mit der Leitung der Grundwertekommission und war damals auch in der Zeit – das war für mich Bedingung – im Parteivorstand Mitglied. Das ist ja die letzte Episode, 2009 bis 2013 von Parteiengagement. Das heißt, was ich jetzt hier zu Ihrer Frage beitragen kann, ist nicht die interne Perspektive – ich weiß nicht, was schiefläuft in den Wahlkämpfen – sondern die eines politischen Theoretikers, politischen Philosophen, der sich um die Demokratie, aber durchaus auch um die Rolle der Sozialdemokratie in Europa Sorgen macht. Und meine These ist die, dass die verschiedenen Milieus und deren politische Interessen, deren – man könnte fast sagen – politische DNA nicht integriert ist durch eine überzeugende Programmatik. Wir haben einen generellen Verlust an Programmatik, der in allen Parteien… das betrifft auch die Grünen, auch dort ist die Programmatik nicht sehr präzise und nicht sehr gut ausgeführt, aber es betrifft noch stärker die beiden Volksparteien. Die SPD ist aber immer eine Programmpartei gewesen. Das heißt, sie leidet besonders darunter.
Und ich will ein konkretes Beispiel nehmen: Wenn Sie anschauen, was für Folgen hat die Einwanderung, dann werden Sie, wenn Sie einen klaren unvoreingenommenen, ideologisch nicht verzerrten Blick haben, anerkennen müssen, dass die Lasten und die Vorteile der Einwanderung weltweit – gilt auch für Deutschland – extrem ungleich verteilt sind. Die oberen Mittelschichten, die Oberschichten und die Unternehmen sind die Gewinner der Einwanderung, weil sie billigere Arbeitskräfte haben, weil Hilfen im Haushalt möglich sind, weil die Kulinarik sich verbessert in den Restaurants usw., usw. Während in den Vierteln, in denen die unteren Einkommensschichten der einheimischen Bevölkerung leben, es zu Konkurrenz um niedrige Mieten geht, es in den Schulen zu Veränderungen kommt, wenn nur noch eine Minderheit deutschsprachig von der Familie her ist, dann ändert sich die Situation in den Schulklassen.
Das heißt, diejenigen, denen es ökonomisch schlechter geht, sind diejenigen, die die Kosten hauptsächlich tragen der Immigration, während diejenigen, denen es besser geht, die Vorteile der Immigration erhalten. Und das führt zu einem Konflikt von Parteien und innerhalb von Parteien zwischen einem kosmopolitischen, man kann sagen, liberalen Blick auf die Welt. Die Grenzen sind doch eigentlich überholt. Wozu brauchen wir eigentlich noch nationale Grenzen? Die Theorie der offenen Grenzen ist sehr beliebt in diesem Milieu. Ich habe dagegen angeschrien und gesagt, wir brauchen Staatsgrenzen, damit wir politisch gestalten können in den einzelnen Staaten. Und diese Botschaft, wir nehmen diese Sorgen und Nöte und Ängste nicht ernst genug… Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland waren 2015/2016 migrationsskeptischer als die Durchschnittsbevölkerung. Was zeigt, dass eben gerade diejenigen betroffen sind.
Das wirkt sich verheerend aus. Deswegen haben wir einen massiven Aderlass Richtung AfD in Deutschland, Richtung Lega in Italien, Richtung Le Pen in Frankreich von traditionellen Arbeitnehmern. Also, Arbeiterschaft wählt zu großen Teilen unterdessen in Europa rechts. Nicht immer, manchmal auch linkspopulistisch, aber jedenfalls nicht mehr sozialdemokratisch.
"Dänemark hat mit Migrationspolitik die Rechte halbiert"
Wentzien: Und die SPD würde diese Menschen wieder erreichen, wenn sie ehrlicher wäre, und wenn sie zum Beispiel das anerkennen würde, was Sie gerade beschrieben haben, also die wahren Erfolge und auch Folgen ihrer eigenen Politik?
Nida-Rümelin: Ja, das Experiment ist gemacht worden, in Dänemark. Das muss man auch kritisieren. Das war eine sehr harte migrationspolitische Linie, die die jetzige Ministerpräsidentin Dänemarks eingeleitet hat als Chefin der sozialdemokratischen Partei Dänemarks. Sie hat die Rechte halbiert, mehr als halbiert. Die Sozialdemokratie hat gar nicht viel gewonnen, weil sie nämlich auch in die linksliberalen Milieus verloren hat an andere Parteien, aber die Rechte wurde mehr als halbiert mit einer anderen Migrationspolitik. Und das Gleiche gilt gerade aktuell in Portugal. Der jetzige neue Regierungschef in Portugal mit Zugewinnen – ich weiß nicht, auf 36 Prozent oder was – der Sozialisten dort hat einen radikalen Schnitt gemacht mit der Politik der Verschuldung seines sozialdemokratischen Vorgängers. Und das hat ihm dann erst die Glaubwürdigkeit verschafft.
Wentzien: Würden Sie sagen, das sind Muster mit Wert für die deutsche Sozialdemokratie? Das hat ja auch eine lange Geschichte in Dänemark gehabt mit einem ganz tiefen Tal, aus dem jetzt die Partei dort wieder hervorgegangen ist. Wäre das ein Muster mit Wert für die SPD hierzulande?
Nida-Rümelin: Also, ich bin jetzt kein Berater der Sozialdemokratie, aber die politische Aufgabe, zu gestalten, ist die zentrale Frage. Wenn die Bürger den Eindruck haben, die Politik gestaltet nicht, dann gefährdet das die Demokratie als Ganze. Und der Gestaltungsanspruch hat aber bestimmte Bedingungen, zum Beispiel den, dass es keinen globalen, ungesteuerten Arbeitsmarkt gibt. Wenn es einen globalen, ungesteuerten Arbeitsmarkt gibt, für den staatliche Grenzen keine Rolle spielen, kann man Sozialpolitik vergessen. Das heißt, die Dinge hängen miteinander zusammen. Sie müssen zusammen gesehen werden und programmatisch in eine kohärente, also in sich stimmige Praxis zusammengeführt werden. Und das ist, meine ich, im Augenblick eine der Hauptherausforderungen, die nur unzureichend bewältigt sind.
"Wir haben in Deutschland vergleichsweise stabile Verhältnisse"
Wentzien: Im Interview der Woche zu Gast ist Julian Nida-Rümelin, Hochschullehrer für Philosophie und politische Theorie und ehemaliger Kanzleramtsminister für Kultur im ersten Kabinett Gerhard Schröder. Ansprüche haben wir formuliert, Herr Nida-Rümelin, von Wählern und Bürgern und Möglichkeiten der Politik auf der anderen Seite. Wir haben aber auch in diesen Zeiten Originaltöne aus den USA, aus Großbritannien und aus Österreich von Donald Trump, Boris Johnson und Sebastian Kurz, die mich auch sehr nachdenklich stimmen. Lassen Sie sie mich kurz zusammenfassen. Aus den Mündern aller dreien ist zu hören: Nicht das Parlament, sondern das Volk gestaltet. Bundespräsident Steinmeier hat dieser Tage gesagt, das sei brandgefährlich, das Volk gegen die repräsentative Demokratie auszuspielen oder geradezu in Stellung zu bringen. Wie gefährlich sind diese Töne aus Ihrer Sicht?
Nida-Rümelin: Ich glaube, dass wir in Deutschland vergleichsweise stabile Verhältnisse haben, stabiler als Frankreich. Frankreich ist durch das Präsidialsystem durchaus gefährdet, weil da eine Person… stellen Sie sich vor, Le Pen würde die Präsidentschaftswahlen gewinnen – das wird schon nicht passieren, aber es könnte passieren – eine viel labilere Situation. Großbritannien ist in einer tiefen Staatskrise. Es geht nicht mehr um den Brexit. Es geht um eine Staatskrise, auch die Institutionen zueinander. Und das Gleiche gilt für die USA. Also, zwei der Ältesten, wenn nicht die ältesten Demokratien weltweit – England und USA – sind institutionell in einer Krise, unabhängig von den Akteuren.
Meine Hoffnung ist, dass der Höhepunkt des Rechtspopulismus, des Linkspopulismus ohnehin – Südamerika, aber auch Südeuropa – schon überschritten ist. Die Versprechungen sind so unrealistisch, dass zunehmend Menschen kritisch werden. Aber das ist eine Hoffnung. Das ist noch nicht wirklich empirisch belegt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.