Archiv

Gesellschaft
Philosoph Otfried Höffe über Zusammenhalt

Wie weit reichen die Gräber innerhalb unserer Gesellschaft? Welche ließen sich schließen? Dem geht der Philosoph Otfried Höffe in einem Essay auf den Grund. Seine These: Widerstandskraft und Innovationspotenzial moderner Demokratien sind stärker als viele glauben.

Von Christina Janssen |
Otfried Höffe: "Was hält die Gesellschaft noch zusammen?"
Otfried Höffe: "Was hält die Gesellschaft noch zusammen?" (Foto: Heike Schulz, Buchcover: Alfred Kröner Verlag)
Wer Angst vor der Zukunft hat, sollte gelegentlich den Blick zurück wagen. Otfried Höffe hilft da ein wenig nach. In seinem Essay stellt er zunächst die Frage, was eigentlich frühere Gesellschaften zusammengehalten hat: Blutsverwandtschaft, Sitte und Religion etwa. Diese Bindekräfte haben drastisch an Bedeutung verloren. Gleichzeitig, so Otfried Höffe im Interview, sei die freiheitliche Demokratie derzeit immensen Zentrifugalkräften ausgesetzt:
„Gefährdet wird sie durch den Terrorismus, durch die Finanzkrise vor einigen Jahren, durch die Flüchtlingsprobleme, durch den Klimawandel und den Klimaschutz, der jetzt geboten ist, und nicht zuletzt jetzt zu Pandemiezeiten – ich spreche von Virokratie – von der Herrschaft des Virus.“
Auch Populismus und steigende Gewaltbereitschaft böten Anlass zur Sorge, meint der Philosoph. Grund zu übertriebener Skepsis sieht er dennoch nicht. Mit seinem Essay setzt Höffe, einer der medial sehr präsenten Vertreter seiner Disziplin, einen dezidierten Kontrapunkt in der Debatte über die angebliche „Krise der Demokratie“.

Muster der Warnung oder tatsächliche Gefahr

„Vermutlich erfreuen sich die Diagnosen des Scheiterns deshalb großer Beliebtheit, weil die einschlägige Soziologie aus dem Geist der Krise entstanden ist und seitdem die Kritik der sozialen Wirklichkeit und die Rolle des Frühwarnens gesellschaftstheoretisch höher anerkannt sind.“
Um seine Gegen-These zu untermauern, schlägt der Tübinger Wissenschaftler den Bogen von der Antike über Aufklärung und Säkularisierung bis heute. Was an Bindekraft verloren gegangen ist, wird aus seiner Sicht kompensiert – durch Vernunft, demokratische Institutionen, den Rechtsstaat, durch wachsenden Wohlstand, mehr Teilhabe und den vielleicht nicht uns alle, aber zumindest viele verbindenden kulturellen Reichtum an Sprache, Literatur, Wissenschaft, Musik oder Sport. Damit widerspricht Höffe auch dem viel diskutierten Diktum des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach dem freiheitlichen Staat durch die Säkularisierung letztlich sein Fundament abhandenkomme.  
„Zwei Gründe dürften für Böckenfördes (Fehl-)Einschätzung verantwortlich sein, ein Über- und ein Unterschätzen. Zum einen überbewertet Böckenförde hinsichtlich der Religion die Art und das Ausmaß an moralischer Substanz, das ein freiheitlicher Staat von ihr benötigt. Nicht alle moralischen Haltungen und Werte, die eine Religion zu vermitteln sucht, braucht ein Gemeinwesen seitens seiner Bürger für das Überleben und Wohlleben.“
Zum zweiten schätze Böckenförde das Maß an Moral zu gering ein, das ein freiheitlicher, säkularer Staat aus sich selbst heraus generieren könne.

Gemeinsinn und Ehrenamt

Hinzu kommt, so Höffes Urteil, ein bemerkenswerter Gemeinsinn, wie er sich zuletzt bei der Flutkatastrophe des zurückliegenden Sommers gezeigt habe. Oder generell in dem in Deutschland stark verankerten ehrenamtlichen Engagement.
„Eine Stärkung der Bürgergesellschaft zeigt sich nicht nur in Bürgerinitiativen oder Bürgerprotesten, sondern in der Bedeutung des Ehrenamts. Gerade in Deutschland scheint das sehr stark verbreitet zu sein – ob das die Kultur ist, ob das soziale oder karitative Hilfe ist. Und deshalb sollten wir auch nicht zu kritisch gegen unsere Gesellschaft sein. Viele sagen: Natürlich ist die Gesellschaft schlechter geworden. Ich glaube im Gegenteil, sie ist eher ein wenig besser, auf jeden Fall sicher nicht sichtbar schlechter geworden.“
Höffe gliedert seinen Essay in drei Teile: Im ersten beleuchtet er vormoderne Gesellschaften bis zur Aufklärung, im zweiten geht es um die Prozesse der Modernisierung, um Pluralismus, Kapitalismus und Globalisierung, um Demographie, Mobilität und Digitalisierung. Schließlich analysiert er im dritten Teil, wie sich Herrschaft in modernen Gesellschaften legitimiert, wie sich materieller, politischer und kultureller Wohlstand entfalten und Toleranz, interkulturelle Neugier oder auch Bürgerengagement dazu beitragen. Ein Buch voller kluger Gedanken und fein gesetzter Sprache. An dessen Ende zieht Höffe Bilanz in zehn Thesen, die in sich schlüssig, im einzelnen aber hinterfragenswert sind. Nicht immer wird klar, ob Höffes Aussagen deskriptiv oder normativ gemeint sind. So schreibt der Autor in These 4:
„Im Zuge der Modernisierung verlieren Überlieferung und Religion erheblich an Bedeutung und die religiöse Rechtfertigung politischer Herrschaft alles Recht. Seitdem zählt in erster und letzter Instanz die allen Menschen gemeinsame Vernunft.“
Daran muss Zweifel erlaubt sein, denn offenkundig ist nicht jeder bereit, die „allen Menschen gemeinsame Vernunft“ auch zu benutzen. Auch die Behauptung, es sei noch nie ein modernes Gemeinwesen zerbrochen, ist möglicherweise nur bedingt zutreffend – je nachdem, wie man beispielsweise die politische Lage in Ungarn einschätzt oder in den USA, wo eine zweite Amtszeit Donald Trumps nur knapp abgewendet wurde. Höffe ist im Geiste ein Liberaler, im Herzen ein Optimist, der auf Vernunft und Eigenverantwortung setzt. Für ihn ist das Glas halbvoll. Man kann nur hoffen, dass er Recht behält.
Otfried Höffe: „Was hält die Gesellschaft noch zusammen?“, Kröner Verlag, 125 Seiten, 19,90 Euro.