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Philosoph Peter Sloterdijk
"Regieren per Erlass ist auf den äußersten Notfall zu beschränken"

In Zeiten von Corona ist die Demokratie im Stresstest und der Bürger am Limit. Eine halbe Milliarde Menschen müssten sich gerade die Grundbegriffe der Chaos-Theorie aneignen, sagte der Philosoph Peter Sloterdijk im Dlf. Und warnt vor der "Fantasie vom Durchregieren".

Peter Sloterdijk im Gespräch mit Vladimir Balzer |
Der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Berliner Wohnung
Philosoph Sloterdijk sieht Gefahren darin, wenn die Exekutive zu dominant wird (Foto: Vladimir Balzer)
Ein Besuch bei Peter Sloterdijk führt nicht mehr nach Karlsruhe, wo er 14 Jahre lang Rektor der Hochschule für Gestaltung war und Philosophie lehrte. Wer ihn treffen will, ist in Berlin richtig. Seit kurzem wohnt er in Halensee unweit vom westlichen Ende des Kudamms und fängt hier, wie er sagt, ein neues Kapitel an.
Er ist jetzt zwar geografisch näher an der Bundespolitik, "aber die gedankliche Linie Karlsruhe – Berlin bleibt natürlich bestehen", sagt Sloterdijk mit Blick auf den gepflegten Großbürger-Garten hinter seiner Wohnung.
Die Bundestagabgeordnete Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen)
Brantner (Grüne): "Müssen jetzt strukturell das Parlament stärken"
Die Bundestagsabgeordnete Brantner (Grüne) weist den Vorschlag des Bundesgesundheitsministers, seine Kompetenzen auszuweiten, zurück. Brantner fordert eine stärkere Beteiligung des Parlaments in der Coronakrise.
Hohe Gericht - derzeit das Korrektiv der Exekutive
Nicht nur er gewinnt den Eindruck, dass hohe Gerichte zurzeit das mächtigste Korrektiv der deutschen Corona-Politik sind. Er sieht Gefahren darin, wenn die Exekutive zu dominant werde. Angesichts eines "unsichtbaren Feindes … genieße" sie es sogar, plötzlich über Erlasse regieren zu können. Die Regierenden empfänden zuweilen dabei Bürger als störendes Element. Sloterdijk sehe die Gefahr, "dass auch demokratische Staaten in solchen Zeiten an den diktaturartigen Pol heranrücken." Doch die Gerichte seien es, die den Mächtigen die Grenzen aufzeigten. Eine solche politische Lage sei nicht nur auf "den äußersten Notfall" zu beschränken, sondern "wir alle" müssten drauf achten, dass "die Rückkehr zu volldemokratischen Verordnungsauslegungen wieder gelingt."
Grad der Verunsicherung hängt mit sozialer Lage zusammen
Das könnte aber noch etwas dauern, denn niemand kann voraussagen, wie lange die Pandemie uns noch im Griff hat. Worauf es jetzt ankomme, sei, sich eher auf die nächsten Corona-Wellen einzustellen. In der zweiten seien wir schon, wir müssten aber mit einer dritten und vielleicht auch einer vierten rechnen. Eine Unsicherheit, die Teil unserer Gegenwart bleibt, meint Peter Sloterdijk.
Philosophische Modelle wie die Chaostheorie könnten helfen, eine solche Lage zu verstehen. Dennoch hänge der Grad der Verunsicherung auch mit der sozialen Lage zusammen. Für jene, die in der Gesellschaft sowieso schon zu kämpfen hätten, sei diese Lage Alltag. Während für die "gute Gestellten" die Irritation deutlich stärker ausfalle.
Neues Buch von Sloterdijk
Nun legt Sloterdijk ein neues Buch vor: "Den Himmel zum Sprechen bringen". Dort will er genau das tun – die Sprache der "Überwelt" offenlegen, die Poesie des Religiösen zum Klingen bringen. Wer Sloterdijk allerdings die Gretchenfrage stellt, der bekommt keine klare Antwort, sondern den Hinweis darauf, dass Religion vor allem eines sei: Poesie.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.