Für ihn sind beide prominente Anwärter auf das Amt des Sinnspenders und geschichtlich betrachtet früheste Rebellionen gegen das Schicksal. Kunsterfahrungen schöpfen auch heute noch in hohem Maße aus religiösen Quellen. Die Behauptung, Kunst sei heute Ersatzreligion und Museen die Kathedralen, betrachtet Wils genauso wie den Krieg, den beide führen, wenn der Heiligenschein verrutscht: Der Vorwurf der Blasphemie zieht sich durch die Geschichte der Kunst wie ein Leitmotiv.
Jean-Pierre Wils studierte in Leuven und Tübingen und lehrt an der Universität Nijmegen in den Niederlanden. Bei Klöpfer&Meyer erschien 2014 sein Essay "Kunst. Religion. Versuch über ein prekäres Verhältnis".
Walter van Rossum studierte Romanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Paris und arbeitet er als freier Autor für Radio und Printmedien. 1988 erhielt er den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik.
Das Interview in voller Länge:
Walter van Rossum: Jean-Pierre Wils, ich versuche jetzt mal, Ihnen meinen eigenen Fall vorzulegen. Ich sage Ihnen, auf der einen Seite fände ich extrem albern, jetzt durch die Gegend zu laufen und zu sagen, Gott ist doof oder Gott liebt mich nicht, weil ich jetzt krank bin oder meine Freundin mich verlassen hat. Wenn er denn hinhörte, dann muss er die Güte haben, diesen Blödsinn zu überhören. Aber auf der anderen Seite nehme ich bei mir wahr, dass ich ein gewisses Verständnis für den Zorn einiger Muslime habe, die sich furchtbar über Beleidigungen des Propheten aufregen. Ich teile nicht die Folgen dieses Zorns, aber ich kann es verstehen, emphatisch leuchtet mir das ein, dass diese Leute getroffen sind und auf eine bestimmte Weise schwer verletzt sind. Was ist mit mir los? Können Sie mir das erklären?
Jean-Pierre Wils: Also, ich glaube, dass das eine Irritation ist, die ich zunächst einmal selber eigentlich auch teile. Ich denke, dass der zornbereite Gott, der zu allen Zeiten in der Lage ist, sich zu echauffieren, sozusagen sich emotional provozieren zu lassen, und dann eigentlich auch nicht zögert, zuzuschlagen, oder jedenfalls auf der Wahrnehmung seiner Anhänger nicht zögert, zuzuschlagen, dass diese Vorstellung natürlich eine gewisse karikaturhafte Signatur bekommen hat im Laufe jedenfalls der westlichen Religionsgeschichte, also jedenfalls seit der Aufklärung, denke ich, steht dieses doch sehr anthropomorphe, also sozusagen unsere menschlichen Emotionen und deren Zügellosigkeiten nachgebildeten Bild -
van Rossum: Es ist ja ein milder Gott.
Wils: Es ist ein sehr milder Gott sozusagen an seine Stelle gerückt, um nicht zu sagen, ein völlig harmloser Gott, der offensichtlich damit beschäftigt ist, unsere vor allem privaten Sinnbedürfnisse irgendwo zu erfüllen. Das ist, denke ich auch, eine Art von kultureller Einübung, die wir miteinander, ob wir nun religionsfreundlich oder eher religionsabstinent oder sogar religionsfeindlich eingestellt sind, miteinander teilen. Und die Rückkehr der Blasphemie, und zwar auch in den mittlerweile westlichen Gefilden, irritiert uns zutiefst. Wir haben nicht erwartet sozusagen, dass Menschen noch mal sich in eine Voraufklärungsattitüde hineinempfinden wollen und es dann quasi auch noch in die Tat, in die schrecklichen Taten umsetzen. Die Irritation natürlich liegt darin, dass dieses aufgeklärte Verständnis, dass man meines Erachtens auch verteidigen sollte, und ich meine, wir haben ja eine komplizierte, wenn man so will, komplizierte Rechtsgeschichte hinter uns und in uns. Es sind die Blasphemie und deren Auswüchse hat bändigen können, hat transformieren können. Das sollten wir also nicht loslassen. Gleichzeitig aber, glaube ich, kann man auch aus einer interessierten Perspektive, also Interessiertsein an Religion, sich die Frage stellen, ob uns sozusagen diese milde, weiche, sinnorientierte, harmlose, wenn man so will therapeutisch veranlagte Religion, die sich in unseren Breiten eigentlich manifestiert seit Jahrzehnten, ob damit die Geschichte zu Ende erzählt ist. Und nun zeigt sich plötzlich, dass es nicht nur Refugien, sondern dass es auch lebhafte Territorien gibt, wo dieses harmlose Gottesbild nicht geteilt wird.
van Rossum: Wie müsste man dieses unharmlose Gottesbild, wie könnte man das beschreiben, also sozusagen, dass ich, wenn ich jetzt Allah verfluchen würde, ich wirklich jemanden verletze. Warum passiert das da? Warum - ist dieser Gott näher, ist der zorniger?
Wils: Ja, er ist zorniger. Ich weiß nicht, ob er zorniger ist als der christliche Gott das noch gewesen ist zu seinen Zorneszeiten, aber es liegt, glaube ich, dem oder dieser Empfindlichkeit, dieser Einstellung, liegt in der Tat ein anderes Gottesbild zugrunde, und jetzt nicht nur Bild im Sinne von Vorstellung, die man darüber haben kann oder nicht haben kann, sondern sozusagen ein gefülltes, ein substanzielles, ein - ich nenne es jetzt mal etwas unvorsichtig vielleicht - ein fast leibhaftes, sinnliches Gottesbild. Und das ist etwas, was wir Abendländer, sag ich jetzt mal, trotz aller Klimmzüge auch der Theologie und in den Jahrhunderten, die hinter uns liegen, natürlich lange Zeit auch geteilt haben. Man kann sagen, dass Menschen eigentlich bis weit in das 17., 18. Jahrhundert hinein in der Tat auch, also wir auch, davon ausgegangen sind, dass Gott im Grunde doch eine Art Superperson ist, der gewissermaßen emotional eigentlich genauso gestrickt ist wie wir auch, mit dem Unterschied, dass er seinen Emotionen gewissermaßen auch Macht verleihen kann.
van Rossum: Nun sollen wir aber nicht vergessen, das Christentun kannte durchaus mal die Blasphemie und kannte einen ganz anderen Gott, und den konnte man - wenn man den verfluchte, dann wurde es verdammt haarig.
Wils: Nun, ein Fluch könnte auch im banalen Sinne des Wortes ein Fluch sein. Ich meine, das muss jetzt keine elaborierte Verwünschung sein, sondern es könnte einfach der missbräuchliche Umgang mit dem Gottesnamen und mit dem Namen der Heiligen, der Jungfrau Maria auch sein.
van Rossum: Der Name ist schon wichtig, der Name ist schon heilig.
Wils: Der Name ist unheimlich wichtig. Übrigens war es ja nicht nur sozusagen die Verfluchung, die blasphemieverdächtig war, sondern es war immer wieder auch die Häresie, also die Ketzerei. Das ist ungut, dass man - es ist eigentlich nie gelungen, genau dazwischen zu unterscheiden, ob jetzt der Blasphemiker häretisch ist oder der Häretiker blasphemisch ist oder beides. Aber der Name ist natürlich ganz wichtig, und ich meine, da stoßen wir, glaube ich, auf einen ganz, ganz wesentlichen Irritationssachverhalt in diesen ganzen Debatten. Für uns späte Abendländer ist die Vorstellung, dass der Name eines Gottes gewissermaßen ihn nicht nur bezeichnet, im Sinne von, man könnte auch einen anderen Namen für ihn verwenden, Hauptsache, wir meinen ihn, sondern nein, dass der Name, wenn man so will -
van Rossum: Selbst schon wieder göttlich ist.
Wils: Gewissermaßen die göttliche Substanz inkorporiert. Also der Name ist, wenn man so will, ein sinnliches Zeichen oder mehr als das, es ist eine sinnliche Anwesenheit gewissermaßen der Person, die wir da benennen. Genauso übrigens ist das auch mit den Bildern, jedenfalls in weiten Teilen des abendländischen Bildverständnisses bis zur Reformation. Weder der Name noch das Bild sind, wenn man so will, eigentlich nur Träger eines Inhaltes, sie sind nicht nur die Vehikel unserer Intentionen, sondern sie sind, wenn man so will, die Anwesenheit dessen, den wir da bezeichnen beziehungsweise bebildern. Und das ändert auch die Vorzeichen der Diskussion komplett. Also hier stoßen, wenn man so will, zwei Metaphysiken aufeinander. Es gibt die aufgeklärte Metaphysik, die uns sozusagen die Religion auch gezähmt hat durch die Sprachtheorien der Neuzeit und der Moderne und uns sozusagen semiotisch sensibilisiert und nicht mehr davon ausgeht, dass die Zeichen sozusagen den Inhalt gewissermaßen inkorporieren. Demgegenüber steht eine, nennen wir sie vielleicht eine Metaphysik der Präsenz, die ebenso alt ist, in der man nicht davon ausgeht, dass das so ist, sondern in der man beispielsweise auch meint, dass die schriftlichen Zeichen, dass die Schrift, dass ein Buch Träger sozusagen einer sakralen, einer divinen Substanz ist, sodass also auch der unflätige Umgang mit dem Buch, beispielsweise mit dem Koran, in der Tat aus der Perspektive der Gläubigen eine, wenn man so will, authentische Gotteslästerung darstellt.
van Rossum: Was ich jetzt der aufgeklärten Variante übel nehmen würde, ist, dass sie sich sozusagen nicht schlau macht über diese andere Variante von Religion. Wenn ich jetzt nicht Ihre klugen Bücher und Texte gelesen hätte, wüsste ich das auch nicht so genau, dass wir sozusagen mit zwei verschiedenen Auftrittsformen, Erlebensformen von Religion zu tun haben. Und da ist ja die große Frage über unser Thema hinaus: Wie können die nebeneinander koexistieren? Wir kommen da bestimmt gleich noch mal drauf zurück. Ich will noch mal in der Historie bleiben. Jetzt könnte man ja sagen, Jesus Christus selbst ist wegen Blasphemie verurteilt worden. Er hat sich zu Gottes Sohn erklärt, und das haben seine Richter, die römischen Richter, als Gotteslästerung gewertet.
Blasphemie - ein "innerreligiöser Sachverhalt"
Wils: Ja. Ich meine, darin zeigt sich natürlich auch, dass die Blasphemie immer auch eine innerreligiöse Angelegenheit gewesen ist, sogar eigentlich hauptsächlich. Die Blasphemie ändert ihr Aussehen erst in dem Moment, wo sie Gegenstand einer nicht-religiösen rechtstheoretischen und irgendwann auch rechtspraktischen Überlegung wird. Also ich meine, sie ist zunächst einmal eben ein innerreligiöser Sachverhalt. Was natürlich ebenfalls zur Folge hat, dass es aus der Perspektive von sozusagen religiös unmusikalischen oder unbegabten oder unwilligen oder abstinenten Menschen erst recht schwer ist, sich vorzustellen, dass es eine historische, eine kulturelle Gestalt von Religion gegeben hat und nach wie vor in sehr, sehr großen Teilen dieser Welt auch gibt, die genau eigentlich also dieses, wenn man so will, kritische, hermeneutische, aufklärerische Verständnis von Religionsselbstverständnis nicht teilt, sondern, wenn man so will, eigentlich nach wie vor also Teil dieser eher substanziellen, sinnlichen, unmittelbaren Religionskategorie ist, und das sind zwei auch nicht nur Metaphysiken, man könnte sie auch zwei Kulturmodelle benennen.
van Rossum: Wär vielleicht unter der Frage: Wie gehen wir mit dem Heiligen der anderen um? Das ist vielleicht das Heikelste wirklich, aber dazu muss man erst mal verstanden haben, dass es für andere so was wie Heiliges gibt, was es für uns offenkundig in der Form nicht mehr gibt. Wie ist es eigentlich, was hält die Kirche eigentlich heute, also die christliche Kirche, von Blasphemie?
Wils: Nun ja, sie ist natürlich vorsichtig geworden, je nachdem natürlich, welche christliche Kirche wir auch meinen. Also ich glaube, für Protestanten ist die Blasphemie aus mehreren Gründen nicht wirklich ein Thema sozusagen. Im Zuge des Protestantismus hat man ja, wenn man so will, eigentlich auch die religiösen Bilder schon sehr schnell, wenn man so will, in die Schranken gewiesen mit natürlich Unterschieden zwischen Luther und Calvin. Aber man kann, denke ich, mit Hans Belting, tatsächlich auch sagen, dass also schon sehr bald, also im Laufe der Reformation und in den Jahrzehnten danach eigentlich schon, wenn man so will, die Ästhetisierung der religiösen Bilder einsetzt. Das ist nicht der Fall in vielen anderen Konfessionen. Also die Katholiken, glaube ich, die halten quasi in diesen Blasphemie-Wettbewerben so ein bisschen das Mittelfeld. Sie sind etwas vorsichtig, sie sind auch strategisch eingestellt. Es kann schon mal sein, dass Madonna sozusagen eine bestimmte Sensibilität zu sehr antastet. Das hat oft etwas von einer eher rituellen Empörung, hin und wieder mal bei Ausstellungen landaufwärts und landabwärts geschieht es auch schon mal, dass es gewisse Proteste gibt, aber -
van Rossum: Dann gibt es noch so was wie sozusagen eine kirchliche Gerichtsbarkeit, die innerkirchlich zumindest Gericht hält?
Wils: Nein, das ist nicht der Fall. Also, das Thema ist natürlich auch, also innerkirchlich, bis vor wenigen Jahren gewissermaßen marginalisiert worden, also jedenfalls in den katholischen Kirchen des Westens doch eher ein minuskules Thema eigentlich gewesen. Das ändert sich allerdings langsam, aber sicher. Aber auch die katholische Kirche versucht sich natürlich doch ziemlich ins Benehmen zu setzen mit der Kunst, weil sie von der Kunst auch wiederum gewisse revitalisierende Effekte für sich selber eigentlich auch erwartet. Und deshalb, glaube ich, ist man mit dem Blasphemie-Vorwurf sehr vorsichtig. Anders allerdings sieht es, denke ich, aus in den orthodoxen Kirchen. Ich meine, da haben wir in den letzten Jahren mehrere Beispiel eigentlich auch gehabt. Man kann sagen eigentlich, also in der russisch-orthodoxen Kirche, teilweise, denke ich, auch in der griechisch-orthodoxen Kirche, gibt es eine hohe Alarmbereitschaft im Hinblick auf Blasphemie. Und das verschmilzt gewissermaßen auch also mit politischen Machtansprüchen eigentlich auch, sodass da die Wirklichkeit, denke ich, ganz anders aussieht. Was nun wiederum mit der spezifischen Rolle und der Funktion der Ikonen natürlich in diesen Kirchen auch zusammenhängt. Und da betreten wir dann eigentlich auch wieder ein sehr interessantes Terrain.
van Rossum: Sie sind schon in eine Richtung ausgebüxt, die können wir jetzt vielleicht gar nicht erschöpfend beantworten. Wie ist es noch bei den ganz anderen Religionen? Gibt es - Religion und Blasphemie, ist das immer ein Zusammenhang?
Wils: Nun, die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Also ich meine, man kann sagen, es gibt ja in der europäischen Theologiegeschichte, wenn man so will, eine gewisse Blasphemie-Doktrin. Nun ist es mir nicht bekannt, jedenfalls, dass das in allen anderen Weltreligionen und kleineren weltreligiösen Gegenden genauso der Fall ist. Aber ich denke schon, dass man jedenfalls von einem gewissen Apriori eigentlich ausgehen kann, nämlich das sozusagen, das Abnehmen, um nicht zu sagen, das Abflachen der Blasphemieempfindlichkeit, so wie wir das etwa, grob gesagt, seit etwa zwei Jahrhunderten eigentlich in Europa kennen, dass das in allen Religionen zu allen Zeiten auf bestimmte Art und Weise existiert hat. Und das hängt natürlich eben mit einer gewissen, vielleicht könnte man sagen, zivilisationsgeschichtlichen Einstellung oder Periode auch zusammen, nämlich, dass Religion eigentlich in ihren Anfängen eigentlich ein sinnliches, körperliches, materielles, psychoenergetisch höchst sensibles Gebilde gewesen ist, und dass die Art und Weise, wie wir - sozusagen Post-Aufklärung - auf Religion schauen, also zivilisationsgeschichtlich, kulturgeschichtlich relativ singulär ist. Also ich meine, wir sind interessiert an Religion, weil wir meinen, Religion sei beispielsweise notwendig für die moralische Hochkultur in einer Gesellschaft, was ich übrigens sehr, sehr bezweifle, dass das so ist, aber sie sei jedenfalls nötig, wenn man so will, wenn wir nicht gänzlich sinn-, zwecklos und bedeutungslos leben müssten. Und in dieses eher, wenn man so will, weiche Szenario der Sinnfragen -
van Rossum: Das Therapeutische ...
Wils: Das Therapeutische, das Existenzielle, um sozusagen - ich will das nicht kleinreden, aber - also das ist, wenn man so will, ein Späthorizont typisch westlicher Religion. Also dort, wo Menschen anfangen, sich die Frage zu stellen "Wer bin ich? Gehört Religion zu meiner Identität? Trägt sie zu der Bedeutung meines Lebens bei?" - das sind im Grunde, wenn man so will, wenn es Massenphänomene wären, dann sind sie das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
van Rossum: Herr Wils, jetzt gibt es ja eine weltliche Jurisdiktion, die hat immer noch so etwas wie einen Blasphemie-Paragrafen. Es ist nicht so ein richtiger Blasphemie-Paragraf - also der berühmte 166er im Strafgesetzbuch, der stellt ja nicht jetzt die Beleidigung Gottes unter Strafe, sondern -
Wils: Die Religionsausübung, die Behinderung der -
van Rossum: Die Behinderung, ja, also, es ist sozusagen -
Wils: Ja, das ist natürlich, wenn man so will -
van Rossum: ... den Religionsfrieden stört, heißt es, das ist also auch schon eine sehr andere Formulierung.
"Gott wird gewissermaßen abstrakter"
Wils: Ja, das ist in der Tat eine andere Formulierung, das ist auch ein Paradigmenwechsel natürlich - ich meine, irgendwann ist man eigentlich der Meinung gewesen, dass dieser allzeit irritierbare, zuschlagende, zornbereite, seine Emotionen gewissermaßen nicht im Griff habende Gott, dass das eigentlich, könnte man fast sagen, ein blasphemisches Gottesbild eigentlich darstellt. Also, dass man ihm diese anthropomorphen Unzulänglichkeiten eigentlich nicht zumuten sollte. Und, also da verblasst sozusagen diese Vorstellung. Ich meine, wir stoßen eigentlich auch schon beispielsweise bei Spinoza eigentlich auf den Versuch, das Gottesbild ein Stück weit zu entemotionalisieren. Also Gott wird gewissermaßen abstrakter. Überhaupt ein genereller Zug eigentlich seit der Frühaufklärung. Und in dem Moment, wo der Gottesbezug blasser wird, entsteht irgendwann die Einsicht, dass man jedenfalls die Einstellungen, die Menschen ihrem Gott gegenüber haben können, dass man sie eigentlich strafrechtlich nicht sanktionieren kann, eigentlich also in diesen Blasphemiegesetzen. Und dann spricht man eben vom Religionsschutz, und das ist eine gewaltige Veränderung natürlich, weil der Religionsschutz impliziert natürlich auch, dass man schon gar nicht mehr den Versuch unternimmt, ein exklusives oder monopolisiertes Gottesbild sozusagen mit der Blasphemiegesetzgebung zu sanktionieren, sondern dass man Religion in der Einzahl und dann in der Mehrzahl sozusagen schützt. Und die Gründe, sie zu schützen, die werden gewissermaßen auch im Laufe der Zeit eher geringer. Also, es ist vor allem eigentlich doch die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens. Das scheint mir im Grunde eigentlich auch einer der wenigen überlebensfähigen Gründe zu sein, vielleicht an dem Religionsschutzparagrafen auch festzuhalten. Dann ist die Grenze natürlich bald auch erreicht, wo das Beleidigungsstrafrecht und dergleichen greift.
van Rossum: Also, die Statistik für dieses Gesetz ist sehr mager. Im Jahr 2012, das sind die einzigen Zahlen, die ich habe, gab es zwölf Verurteilungen. Jetzt hat aber die Blasphemie ja nun irgendwie Wogen geschlagen und ist zu einem großen Politikum geworden durch mehrere Fälle. Und darüber würde ich gern mit Ihnen einmal reden, weil für mich haben die so was eigentümlich Inszeniertes, was eigentümlich Vorbereitetes, was Politisiertes. Und das eine sind natürlich die berühmten Mohammed-Karikaturen.
Wils: Nun ja, ich meine, der berühmteste Fall ist natürlich zunächst einmal der Rushdie vor allem natürlich aus den Satanischen Versen. Der hat gewissermaßen die Blasphemie eigentlich also auf unsere Netzhaut eigentlich wieder gesetzt. In den Mohammed-Karikaturen stoßen wir natürlich auf ein teilweise jedenfalls im Islam radikales Verbot jeglicher Bebilderung sozusagen des Propheten, was, wenn man natürlich auf die Geschichte selber schaut und auf die Bilddokumente, auf die Kunst sozusagen auch aus der Geschichte des Islam schaut, längst natürlich nicht überall der Fall ist. Aber Sie haben, glaube ich, zwei Begriffe gebraucht, die, glaube ich, ganz angemessen sind: Es hat etwas Inszeniertes, und es hat etwas Politisches. Und ich denke, dass man in der Tat sagen kann, dass die globale Rückkehr von Blasphemie zu tun hat erstens mit einer starken Repolitisierung von Religionen. Auch hier zeigt sich erneut, dass unsere bequeme westliche Vorstellung, wir würden gewissermaßen in einer Gesellschaft leben, die so ausdifferenziert ist, dass Religion und Politik sich seltenst, und wenn, dann eher bei gewissen rituellen, feierlichen Anlässen eigentlich mal kurz begegnen, also dass diese Vorstellung nicht globalisierungsfähig ist. Das ist eigentlich also nicht der Fall. Da haben wir uns gewissermaßen in etwas zu sicheren Gefilden eigentlich gewähnt. Und man kann sagen, es gibt ein Wachsen von repolitisierter Religion weltweit.
van Rossum: Ich meine auch, dass sozusagen die Blasphemie gut getimed war und man wollte auf Knöpfe drücken, um bestimmte Reaktionen zu haben. Das ist ja auch so merkwürdig kontextlos. Im Jahr 2005 war ja das mit den Mohammed-Karikaturen, und ich möchte noch mal die Gelegenheit nutzen, zu sagen, das sind schauerliche Karikaturen, die sind so grottenschlecht - das gehört jetzt zwar eigentlich nicht zum Thema, aber ich finde es schon ziemlich interessant, dass diese würstchenhaft dämlichen Bilder dann so eine Karriere gemacht haben. Aber das ist ja nicht wegen ihrer Qualität, sondern, was sie dargestellt haben. Und man hat - also diese "Jylland-Posten", diese doch reaktionäre dänische Postille mit 100.000 Auflage wollte wissen, wie frei sind wir eigentlich? 2003 haben sie Jesus-Karikaturen nicht gedruckt, damit wollten sie ihre Leserschaft nicht erschrecken. Jetzt haben die das aber mal mit Mohammed versucht und haben dann auf Teufel komm raus diese Reaktionen provoziert. Und man hat dann sozusagen - seht ihr, das sind ja diese religiösen Teufel wieder. Und man hatte so den politischen Kontext weggeschnitten, dass Dänemark ja so mit Hurra-Gebrüll, wie kaum eine andere europäische Nation, in den Afghanistan- und in den Irak-Krieg gezogen ist. Und dann hatte man diese, wie ich finde, absurde Konstellation, dass hier alle Leute Pressefreiheit schrien, während da zwei Kriege geführt wurden, die man, milde gesagt, illegal nennen könnte. Und das meine ich mit diesen Kontexten.
Wils: Ja. Also, ich wollte eigentlich eben in diesem Kontext sozusagen, zu diesem Stichwort von Ihnen noch, Inszenierung, kommen. Es ist eine Art von doppelter Inszenierung gewissermaßen eigentlich. Auf der Seite politisierter Religionen, also sozusagen - das sind übrigens nicht nur, ist das nicht nur der Islam, bei dem wir das konstatieren können, aber auf dieser Seite, wenn man so will, ist die Blasphemieempfindlichkeit, also gewissermaßen die Feier des Verletztseins und des Beleidigtseins ein Mittel sozusagen der Mobilisierung der Massen. Das funktioniert offensichtlich einwandfrei, auch wenn diese Massen diese Karikaturen nie und nimmer gesehen haben sozusagen. Sie sind politisch gesehen so fanatisiert, dass dieses Vehikel, dass das greift. Daneben steht aber eine andere Inszenierung, also die Inszenierung, die ebenso einäugig ist, also die Inszenierung eigentlich einer extremen Auffassung auch von Meinungsfreiheit, die sagt, Meinungsfreiheit impliziert im Grunde auch, dass ich fraglos beleidigen kann. Das muss die Meinungsfreiheit aushalten. Das scheint mir natürlich eine freiwillige oder jedenfalls unfreiwillige Provokation, um sozusagen dann eine Inszenierung auch wiederum zu sein. Und irgendwann befindet man sich in einem Kreislauf sozusagen der sich aufstülpenden Beleidigungen und Provokationen. Und manchmal frage ich mich auch, Moment mal, können wir mal ganz kurz nachdenken, was wir da nun eigentlich auch tun? Ist es so schlimm sozusagen, eigentlich vielleicht doch also bestimmte Empfindlichkeiten, die wir in unserem Rahmenwerk nicht nachvollziehen können, wir, die ständig von Multikulturalismus und dergleichen eigentlich sprechen, aber offensichtlich nicht verstehen, was das auch heißt. Dass man da vielleicht mal ganz kurz überlegt, wozu denn das eigentlich, muss das sein? Ist das überhaupt sinnvoll? Und auch zuletzt, ist es ästhetisch überhaupt ansprechend oder sinnvoll, was wir da eigentlich auch tun? In der Regel ist es das nicht.
van Rossum: Das wird alles sehr fundamentalistisch beantwortet, also auch auf der Seite der Aufklärung. Das ist so das ...
"Eine Art von Präsenz, die größer ist"
Wils: Ja, also ich würde das nicht als Aufklärung bezeichnen, sondern das ist gewissermaßen eigentlich auch ein Stück weit eine, ja haltlos gewordene Pseudo-Aufklärung. Und es ist übrigens eigentlich auch ein Missverständnis, zum einen, dass die Meinungsfreiheit sozusagen der Güter höchstes eigentlich auch sei, also dass die Meinungsfreiheit als ein Grundrecht sozusagen überall primär sei. Das ist natürlich nicht der Fall. Ich meine, die Grundrechte befinden sich gewissermaßen in dem Prozess eines ständigen Ausgleichs, also, dem muss man sich, glaube ich, auch aussetzen. Und ich denke auch, dass diese zwei Szenarien sozusagen oder die zwei Inszenierungen, die sind enorm wichtig füreinander. Sie halten sich auch am Leben.
van Rossum: Dann gäbe es da noch einen zweiten Fall, und damit sind wir auch noch bei der Kunst, das ist ja auch noch ein Punkt, der Sie in mehreren Publikationen - Kunst und Religion, ein Zusammenhang, der Sie sehr interessiert hat. Und das wäre der Fall von Pussy Riot, um das mal auch an diesem Feiertag zu sagen, das heißt "Muschi-Aufstand" und ist eine russische Künstlergruppe. Und die haben in einer Kathedrale eine Aufführung geboten vor zwei Jahren.
Wils: Ja, gut, ich meine, dort wurde mittels lauter Punk-Musik sozusagen auf die Unterdrückung der Frauen eigentlich in der orthodoxen Kirche hingewiesen, vor wenigen Monaten hier in Köln sozusagen idem dito eigentlich, und ja, das wird vermutlich auch firmieren unter Kunstfreiheit. Ich halte diese Art von Protest eigentlich für sinnlos und ein Stück weit albern eigentlich auch. Also, wenn wir, wie wir vorhin darüber gesprochen haben, eigentlich also ein Stück weit aus diesen Fallstricken der Inszenierungen herausgelangen wollen, dann werden wir doch jedenfalls ein gewisses Verständnis sozusagen für andersartige religiöse Sensibilitäten aufbringen müssen. Nicht sozusagen im Fall einer politischen Religion, die, wenn man so will, die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie aushebeln möchte, also ich glaube, da sollten wir gewissermaßen hartnäckig bleiben. Aber auch die nicht-religiös Überzeugten sind heutzutage in der Kunst auf der Suche eigentlich nach also gewissermaßen Anwesenheit von Bedeutung, sie sind auf der Suche nach Sinn in ihrem Leben und erwarten das eigentlich von der Kunst. Und viele von uns werden eigentlich auch bestimmte ästhetische Erfahrungen kennen, die uns nicht nur gefallen, sondern die uns erschüttern, im Positiven wie im Negativen, die uns auch wirklich erschüttern und wo wir das Gefühl haben, wir werden konfrontiert mit einer Art von Präsenz, die größer ist, die mächtiger ist, als wir selber das eigentlich auch sind. Und das ist eine -
van Rossum: Also, das ist vielleicht die letzte Form des Heiligen, als Variante oder als Abschattung, säkularisierte Fassung des Heiligen?
Wils: Ja, das könnte man - das wäre natürlich ein weiteres Gespräch, aber man könnte das als eine Art von Abschattung des Heiligen eigentlich auch betrachten. Also, mit anderen Worten, so weit entfernt sind wir auch nicht von einer solchen Einstellung. Vielleicht kommt es darauf an, dass wir uns auch ehrlich dazu bekennen, dass auch uns sozusagen diese Art von Erfahrung, vermutlich dann eher in ästhetischen als religiösen Umgebungen, gar nicht mal so unbekannt ist. Also umso mehr Gründe hätten wir gewissermaßen auch diese Art von Präsenz auch in Religionen - also die Art, wie in Religionen sozusagen die Präsenz des Heiligen, des Sakralen empfunden wird, mit einem gewissen Respekt eigentlich auch zu begegnen.
"Das Heilige ist nicht sympathisch"
van Rossum: Gibt es in unserer Gesellschaft nicht so etwas wie eine Furcht vor dem Heiligen?
Wils: Ich hätte auch Furcht vor dem Heiligen. Das Heilige war schon immer furchtbar. Die Furcht vor dem Heiligen ist, glaube ich, vielleicht sogar eine Form der Anerkennung dessen, was sich da auch vollzieht. Also, das Heilige ist nicht sympathisch. Es ist auch nicht immer moralisch, wie wir meinen. Aber vielleicht gibt es eine Art von Gesprächsgrundlage oder, besser gesagt, eine Art von Erfahrungsgrundlage, die Menschen mit dem ernsthaften Bedürfnis auch in der Kunst eine Art von ästhetischer Erfahrung machen zu können, die mehr ist als Vergnügen, die mehr ist als die Inszenierung auch seiner selbst, sondern hofft, dass die Welt auf uns antwortet in der Kunst, dass sie eine Resonanz vielleicht auch besitzt. Dass diese Erfahrung vielleicht gar nicht mal so radikal weit entfernt ist von der Erfahrung von Menschen, die das in religiösen Bildern und Kategorien und in ihren religiösen Auffassungen zum Ausdruck bringen. Also, da hätten wir, glaube ich, eine gemeinsame Grundlage, auf der man aufbauen könnte und vielleicht eine Gesellschaft eines gewissen doch toleranten Respekts auch realisieren könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.