Aus der Ethik kennt man bereits die "Philosophie mit Deadline", sagt Nikil Mukerji. "Das bedeutet, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, wo ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung gefällt werden muss." Selbstfahrende Autos und die von ihnen aufgeworfenen ethischen Probleme sind dafür ein Beispiel. Es gibt sie noch nicht auf den Straßen, aber man muss schon heute Kriterien für den Umgang mit ihnen festlegen. "Philosophie in Echtzeit ist nun Philosophie mit Deadline unter akutem Deadline-Druck." Ein Ereignis, zum Beispiel eine Katastrophe sei eingetreten und man müsse zu diesem Zeitpunkt entscheiden, wie bei COVID-19.
Abwägungsprobleme und Denkfehler
Am Beispiel der Wirtschaft erklärt Mukerji das risiko-ethische Abwägungsproblem, das eine solche Pandemie aufwirft: "Es mag jetzt so aussehen, als habe man zu Lasten der Wirtschaft entschieden, um die Gesundheit zu schützen. Ich sehe das nicht so. Wenn man noch früher gehandelt und die Epidemie in Deutschland im Keim erstickt hätte, hätte man sogar ein noch größeres Abwägungsproblem gehabt: Nur ein paar Hundert Infizierte, noch keine Toten, und dann die Fragen 'Warum machen wir die Grenzen dicht, warum verordnen wir eine Maskenpflicht, warum schränken wir das öffentliche Leben ein?' - Ich denke aber, dass genau das zu diesem Zeitpunkt die beste Wahl gewesen wäre." Sehr frühes Einschreiten hätte am Ende die Unsicherheit minimiert und damit auch der Wirtschaft geholfen.
In ihrem Essay "Covid-19: Was in der Krise zählt" diagnostizieren Nikil Mukerji und Adriano Mannino eine "Krise des Denkens", weil es nicht nur Denkfehler, sondern "eine ganze Sammlung von Denkfehlern" gegeben habe. Einer davon sei die allzu simple Übertragung von Wissen und Erfahrung aus der Vergangenheit in die Zukunft. Ein Beispiel: Die Tatsache, dass in Deutschland nicht ausreichend Intensivbetten vorgehalten werden könnten, ist im Leben eines 70-jährigen Erwachsenen noch nicht vorgekommen - warum also sollte man jetzt präventiv vorsorgen?
Tiere essen kann Menschenrechtsverletzung sein
Mukerji betrachtet auch den Verkauf und Konsum von Tierfleisch als globales ethisches Problem, das man etwa mit der chinesischen Regierung klären müsse, um die Möglichkeit solcher Märkte einzuschränken oder am besten komplett zu verhindern: "Es kann nicht sein, dass man Tiere in Käfigen hält und verkauft, weil ja Menschenrechte - also das Recht, nicht zu erkranken an einem hochgefährlichen Virus - dadurch schwer tangiert wird." Die Chinesen bürdeten der Menschheit dadurch ein Risiko auf, das man als Rechtsverletzung interpretieren könne. "Das wäre also eine Herausforderung für die Diplomatie, das sicherzustellen, und das würde ich als Bürger dieses Landes auch von meiner Regierung erwarten". Gleiches gelte für die hiesige Massentierhaltung, von der ebenso Pandemierisiken ausgehen.
Die Mundschutzpflicht war früher geboten
Zur Rolle von Experten in der Corona-Krise stellt Mukerji fest: "Bei der Mundschutzpflicht ist einiges schief gegangen." Man hätte sie zumindest als politisches Ziel von vornherein in den Maßnahmen-Katalog mit aufnehmen müssen. Das hätten die Erfahrungen mit Ländern wie Korea oder Taiwan gezeigt, die die Pandemie früh erfolgreich bekämpft hätten. Experten bezeichnet Mukerji als "unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die exklusiv damit beauftragt sind, die Wahrheit über eine Fragestellung herauszufinden, so gut sie das eben können." Herausragende Wissenschaftler in Deutschland aber hätten - weil es nicht genügend Masken gab - ihre Einschätzung aus "politischem Kalkül" dieser Tatsache angepasst.
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