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Philosophenstreit um den Idealstaat

Der künstlerische Leiter der "Rohkunstbau"-Schau, Arvid Boellert, liebt gewaltige Oberthemen: Möglichst viele Welträtsel sollen auf einmal - künstlerisch - gelöst werden. Wie im vergangenen Jahr lautet 2010 das Motto wieder "Mythos Atlantis" und kreist um die Idee des idealen Staats.

Von Carsten Probst |
    Rohkunstbau verlangt viel von seinen Künstlern - mitunter zu viel. Der künstlerischen Leitung unter Arvid Boellert gefällt es, sich gewaltige Oberthemen auszudenken, in denen, so scheint es, bei dieser Ausstellung möglichst viele Welträtsel auf einmal gelöst werden sollen.

    In diesem Fall "Atlantis - Hidden Histories - Imagined Identities". Die Erklärung dieses Titels würde eigentlich für ein philosophisches Oberseminar ausreichen. Stark vereinfacht geht es, wie bereits im letzten Jahr, um eine Ausdeutung des antiken Mythos von Atlantis, jener sagenhaften, im Meer versunkenen Inselrepublik, die in zwei berühmten Dialogen Platons, dem "Kritias" und dem "Timaios", zum Sinnbild zweier komplett gegensätzlicher Gesellschaftsformen gemacht wurde.

    Zumindest nach der Lesart der Kuratoren: Einmal ein Atlantis der ideologisch verblendeten, geschlossenen und einmal ein Atlantis der offenen, "vitalen" pluralistischen Gesellschaft. So soll der Mythos zugleich zum Sinnbild der Jetztzeit, 20 Jahre nach dem Mauerfall werden. Klar, dass dann die ideologische, geschlossene Gesellschaft den "Mythos" der DDR oder des Staatssozialismus allgemein darstellt, die ja auch irgendwie untergegangen, wenn auch nicht im Meer versunken sind. Die "offene" Atlantis-Gesellschaft des "Kritias", die in diesem Jahr das Thema der Ausstellung vorgeben soll, ist demnach unsere angeblich ideologiefreie, pluralistische Gegenwart, in der alles möglich ist.

    An die eingeladenen Künstler erging der Auftrag, Arbeiten zu liefern, die diese beiden Gesellschaftsformen darstellen konnten. Schon diese Aufgabenstellung darf man bei dem begrenzten Raum der Ausstellung und bei gerade einmal zehn eingeladenen Positionen als ambitioniert bezeichnen. Hinzu kommt aber, dass die Werke zugleich auch möglichst auf den Ort reagieren sollen, der bei Rohkunstbau stets ein verwaistes, altes Brandenburger Herrenhaus mit idyllischem Garten und See sein muss, das möglichst viel preußisch-nationalsozialistische DDR-und Nachwendegeschichten in sich vereint. Als sei es mit damit nicht getan, will Rohkunstbau zugleich wie zur Ironie den Sommerausflüglern aus Berlin ein beschwingtes Event mit Grillwürsten, Livemusik und Open-Air-Theater bieten.

    Kurzum: Man kann es keinem der Künstler, wohl aber dem kuratorischen Konzept anrechnen, wenn die Kunst an diesem überdefinierten Konzept scheitert. Die gebürtige Hannoveranerin Johanna Smiatek mit ihrem "Elfenbeinturm" im Foyer des Schlosses ist ein gutes Beispiel. Ihre poetische Installation soll dem Besucher das Gefühl geben, in eine Traumwelt einzusteigen, indem er in einem achteckigen fensterlosen Pavillon verschwindet. Dort ziehen dann altertümlich gemalte Landschaftspanoramen mit Tempelbauten vor seinem eigenen Spiegelbild vorbei, die an das spekulative Weltbild der frühen Neuzeit und zugleich an eine Mind Map erinnern. Doch könnte das auch, so soufflieren die Veranstalter, Assoziationen an Atlantis hervorrufen. Könnte, aber muss nicht. Und wenn, welche Assoziationen? Wir wissen und erfahren es nicht.

    Die inhaltliche Engführung misslingt auch bei dem polnischen Schnellmaler Wilhelm Sasnal. Er ist in seinen meist mittelformatigen Bildern auf Alltagsgegenstände fixiert, und es sei der Gegensatz von Zufall und Konstruktion, so heißt es im Begleitheft, der bei allen seinen Bildern den Blick hinter die Oberfläche des Alltags andeutet. Und liegt nicht Atlantis schließlich auch unter einer Oberfläche, wenn es auch eine Meeresoberfläche ist?

    So geht es mitunter recht uninspiriert in den Kabinetten der alten Gemäuer zu, was deutlicher wird, wen man unversehens die gelungenen Räume betritt, in denen sich plötzlich ein spielerischer Ausweg aus all den Ansprüchen ergibt. Stefan Roloff, mit 57 Jahren zugleich der älteste Teilnehmer im Künstlerfeld, hat einen Raum mit buntem Papier und Lichtern in eine gotische Fantasiekapelle umgewandelt, von deren Altären simultan Aufnahmen von Interviews zu hören sind. Nach Angabe des Künstlers erzählen Menschen aus aller Welt erzählen darin von ihren Zukunftsvisionen und -ängsten, jedoch so leise, dass man nichts versteht. Im Raum ist nur ein ständiges, vielstimmiges Wispern zu hören. Diese bunte Kathedrale wirkt eher wie eine Kinderhöhle, wie eine Ironie von Weltkatechismen aller Art, ein dadaistisches Weltorakel, das den hohen Ton des Rohkunstbaukonzept in erfrischender Weise gleich mit überführt. Dem Medienkünstler Niklas Goldbach ist eine anmutige digitale Filmparabel auf den Mythos der zehn gleichen Könige gelungen, die Atlantis beherrscht haben sollen. Goldbach siedelt ein imaginäres Treffen der zehn Herrscher auf einer Managerparty in der Luxussuite des Berliner Hotels "The Mandala" an, bei der der Künstler alle zehn Könige selber spielt und die Rituale der Führungsschicht mit dadaistischer Hölzernheit offenlegt.

    Vom ungezwungenen Charme solcher Arbeiten zehrt der Rohkunstbau, für sie lohnt sich der Besuch dieses in seiner Existenz immer wieder bedrohten Kunstfestivals. Aber warum nur wenig Arbeiten glänzen, bleibt ein Geheimnis der Organisatoren. Ohne Sommeridylle und Grillwürstchen würde man den Ort des Geschehens wesentlich schneller wieder verlassen.