Archiv

Philosophie
Adorno in Neapel

Der Autor Martin Mittelmeier macht in "Adorno in Neapel" eine italienische Stadt zum Ausgangspunkt neuer Überlegungen zu den Texten des Frankfurter Philosophen. Dabei erklärt Mittelmeier Neapel kurzerhand zu einer Art "Sehnsuchtslandschaft", dessen Begehung sich "in Philosophie verwandelt" hat.

Von Gisela von Wysocki |
    Um Adornos Aufenthalt hat sich bisher keiner gekümmert, wozu auch? Andere Orte sind es, die einem bei ihm in den Sinn kommen. Wien, Paris, Frankfurt. Er brauchte eine Weile, bis sich die Neapolitaner Erfahrung in seinem theoretischen Nervensystem ausbreitete und sich die berauschende Orientalität Neapels, der Totenkult und die überbordende Vitalität in eine neuartige Form des Philosophierens übersetzte.
    Im Jahr seiner Italienreise, 1925, ist Adorno zweiundzwanzig Jahre alt, und man darf den Worten des Komponisten Ernst Krenek Glauben schenken, der ihn nach einer Begegnung in Wien kurz zuvor als "überartikulierten Jüngling" erlebte. Frisch promoviert und bereits Kompositionsschüler von Alban Berg, begegnet er in Neapel Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Alfred Sohn-Rethel, mit denen er um die Häuser zieht. Ein philosophisches Quartett, dem man wahrhaftig gerne zugehört hätte.
    Benjamin hat, gemeinsam mit der lettischen Theaterleiterin Asja Lacis, gerade einen berückenden Essay über Neapel vorgelegt, der bei den Herren für Diskussionen sorgt. Von "strahlendster Geistesfreiheit" ist dort die Rede und vom quirlig desorganisierten Leben eines "Hottentottenkral". Fast wundert man sich darüber, dass sich in diesem so hochtourig geschriebenen Text dennoch ein Wort gewichtig hervortut, das sich wie eine Boje in der reißenden Flut der Details behauptet: Es lautet "Konstellation". Dazu führt Mittelmeier aus:
    Die Konstellation ist die in Struktur verwandelte Neapel-Erfahrung. Mit stolzer Lakonie berichtet Adorno seinem Freund Siegfried Kracauer von dem Minitumult bei seiner Antrittsvorlesung: Ich will keine Wissenschaft machen und keine Weltanschauung, sondern eben etwas prinzipiell anderes, was zu den akademischen Kategorien ganz disparat steht und was die Leute erbittert.
    Der Humus, aus dem das Buch von Martin Mittelmeier seine Überlegung bezieht, das gesamte Werk Theodor W. Adornos ließe sich als ein gigantisches Versteck "Neapels" enttarnen, ist die einzigartige neapolitanische Mixtur von Dorf, Kirche und Camorra, von Grotte, Gebärde, Fels und Schlafstätte. Der Autor, früher Lektor bei Luchterhand, jetzt bei Eichborn, wortgewandt von Berufs wegen, stellt hier sein Sprachvermögen effizient in den Dienst der eigenen Sache. Eine "Sehnsuchtslandschaft" nennt er Neapel, dessen Begehung sich, so der Untertitel des Buches und zugleich die klare Ansage seines Autors, "in Philosophie verwandelt" hat.
    Was macht Adorno, als er am Rande des Kraters des Vesuvs steht? Er schreibt keinen romantischen Reisebericht. Er schreibt nichts Satirisches über die touristische Herabwürdigung des Erhabenen durch Postkartenseligkeit. Er macht das, was er zu sehen glaubt, zum Kern seiner Philosophie.
    Vom Ausgangsort eines Erkenntnisvermögens ist also die Rede. Von der Geburtsstunde einer Weltwahrnehmung, die sich, unterbrochen von den Jahren der Emigration, in Frankfurt entfaltete und ein unverdienter Glücksfall für das von Hitler geistig zugrunde gerichtete Deutschland war. Nicht ohne Faszination schaut man diesem Versuch zu, das "Regelwerk" der als "schwierig verschrienen Texte" freizulegen.
    Mittelmeiers erfindungsreiche Dramaturgie rückt zu Recht das Darstellungsmodell der Konstellation in den Vordergrund. Ein nomadisches Verfahren im Grunde genommen, das zu vielerlei Bündnissen, zu unerwarteten Affinitäten und Anschlüssen in der Lage ist. Seine entscheidende Qualität brachte Adorno selbst in der Negativen Dialektik in einer schön flapsigen Formulierung zum Ausdruck: Konstellationen würden "die wohlverwahrten Kassenschränke" des philosophischen Begriffs aufsprengen mithilfe einer "Nummernkombination".
    Die Konstellation wird von porös gemachten, aus ihren Kontexten gerissenen Dingen gebildet. Bei einem solchen Denk-Bild wird kein ordentlicher Fortgang der Argumentation entworfen, kein Hin und Her der Thesen, sondern es geht zu wie bei einer Meyerholdschen Theateraufführung, wo es keinen Hinter- und Vordergrund gibt, keinen Star, keine Hauptrolle.
    Allgegenwärtig der Tuffstein der Häuser und Kirchen; vulkaneske, zu Splitterbildungen neigende Auswurfprodukte. Ihnen benachbart die Phänomene der Verhärtung und Betäubung. Das berühmte Aquarium bietet mit der gallertartig verdickten Körperlichkeit des Octopus das Bild einer porenverstopfenden Plombe. Ihr trägt Adornos Beschreibung gesellschaftlicher Entfremdungserscheinungen Rechnung, so folgert Mittelmeier; sie assistiert ihm bei der "Entlarvung des Bürgers als naturwüchsigem Dämon".
    Von Bedeutung auch die heimischen Intarsientechniken und die Präparationskunst toter Tiere. Ihnen verdanke die Kritische Theorie die Figur des montierten, vorgetäuschten Lebens, das den fortschreitenden Verfall der bürgerlichen Welt kaschiert. Mittelmeier über den Krater des Vesuvs:
    Will man einen Vulkanbesuch beschreiben, scheint man dramaturgisch festgelegt. Man wandert von außen dem Kraterrand entgegen. Adorno aber gelingt es, diese Minimalforderung an eine anständige Kraterbesteigung zu unterlaufen. Wer auch immer, etwa im Essay über Franz Schubert, dort wandern mag - er kommt geradewegs aus dem Abgrund. Deswegen hat die Landschaft der Konstellation so wenig Eigenes zu bieten, deswegen macht sie lediglich das "dämonische Bild" der Tiefe offenkundig.
    Hätte das Buch sich doch auf der Höhe einer solch brillanten Gedankeninszenierung halten können! Und würde es doch nicht so restlos dem Faszinosum erlegen sein, mit der Formidee der Neapolitanischen Konstellation eine Art Passepartout in den Händen zu halten! Man merkt es dieser Veröffentlichung an, wie sicher sich der Autor des Schatzes ist, den er in Händen zu haben glaubt.
    Beispielhaft führt seine Beobachtung, der in den Fünfziger Jahren nach Deutschland zurückkehrende Emigrant habe die "nunmehr entfesselte" Matrix der Konstellation "nahezu beliebig einsetzbar" gemacht, dem Leser ein ungewohntes Bild vor Augen: Theodor W. Adorno als Gefolgsmann eines "Strukturideals". Und damit kommt eine mitlaufende Fehlerquelle des Buches in den Blick, nämlich die konstellativen Muster des vielgestaltigen Werkes rein formal, also unabhängig von dessen Sprachfuror, abzuhandeln. Das grenzt in diesem Fall an eine Absurdität. Adorno hat die Sprache als maßgebliche Mittäterin des Gedankens identifiziert.
    Die Konstellation, dieses fragile Erkenntnisinstrument, verkörpert in ihren Tiefenschichten für ihn das Moment des "Nichtaufgehenden". Sie setzt auf Darstellung, Komposition, auf eine Sprache in Bewegung, die, flüchtig genug, zum Schauplatz der vom Begriff verstoßenen Schichten des Gestischen und Somatischen wird. Ein geistiges Schmuddelkind gewissermaßen. Dieser Impuls regt sich und arbeitet noch immer in der Philosophie Adornos staunenswert unverbraucht. So wird auch "Neapel" niemals zu einer affirmativen Formel werden können, aber wohl zu einer Folge erhellender Impressionen.
    Martin Mittelmeier: "Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt."
    Siedler Verlag, Berlin 2013, 304 Seiten, 22,99 Euro.