Es ist natürlich eine aparte Idee, sich Hegel, Schelling und Hölderlin als Tübinger Studenten-WG vorzustellen. Obgleich der strenge Studienalltag im Tübinger Stift von den Hochzeiten sexuell freizügigeren Wohngemeinschaftslebens der 1970er-Jahre entfernt war.
Und man im Stift auch nicht um den Abwasch streiten musste. Im Literaturmuseum der Moderne erwarten uns weiß gestrichene Stühle, die für verstorbene große Geister reserviert sind und folglich leer bleiben. Dafür ist an den WG-Tischen jede Menge Text ausgebreitet, in Zettelkästen gibt es Grußpostkarten mit faksimilierten Manuskripten, die man mitnehmen und sich so seinen Katalog gleich selbst zusammenstellen kann. Der textorientierte Ansatz ist natürlich konsequent, denn Sprache war für Hegel - alles.
"Wie stellt man einen sehr schwierigen Philosophen wie Hegel aus, der davon geträumt hat und begeistert war, dass unsere Sprache eigentlich alles hat, womit man denken kann. Weil wir mit jedem Wort ein Bild verbinden, sagt er, können wir uns ideal eben in der Sprache auch über Welt unterhalten. Und uns Welt vorstellen."
Selber philosophieren
Sagt Kuratorin Heike Gfrereis. Die Ausstellungsbesucher sollen mit den Texten eigene Erfahrungen machen, selber philosophieren über Wahrheit, Schönheit, Freiheit; sie können sich zu den Texten auch schriftlich äußern - ein bißchen Werkstattatmosphäre hat mit der neuen Direktorin Sandra Richter in Marbach Einzug gehalten. Das Literaturarchiv selber hat allerdings nicht sehr viele originale Hegel-Manuskripte - aus ihnen lässt sich aber lernen, dass Hegel nicht nur dialektisch dachte, sondern auch schrieb: zweispaltig, damit man links in Frage stellen konnte, was man rechts postuliert hatte.
Man muss sich immer vor Augen halten, dass ein großer Teil der Werke aus Vorlesungsmitschriften besteht. So sitzen am WG-Tisch nun auch ehemalige Studenten, "Hörer" wie David Friedrich Strauß, der Hegels Tod im November 1831 mit einem großen Kreuz im Vorlesungsskript vermerkt, oder der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer später in der Paulskirche. Beide werden sich vom Meister wegen dessen Humorlosigkeit später distanzieren.
Experimentelle Farbveränderungen
Hegels Vorstellung vom Lauf der Weltgeschichte als einem logisch voranschreitenden Prozess, in dem sich der Gedanke der Freiheit zwangsläufig entfalten werde, war auch in vielen 68er-WGs verbreitet, wenngleich meist marxistisch verbrämt. Die Ausstellung lässt nun diverse WG-Genossen Hegel heftig widersprechen - vor allem Theodor W. Adorno, dessen "Negative Dialektik" nach den Erfahrungen des Dritten Reichs eine Absage an die "Phänomenologie des Geistes" war. Auch Goethe wird mit seiner Farbenlehre als Widerpart eingeführt - mit einem gelben Glas, das er Hegel zum Geburtstag schenkte, kann man experimentell Farbveränderungen an schwarzen oder weißen Tüchern hervorrufen.
Goethe also der Erfahrungswissenschaftler, Hegel der reine Denker. Natur gegen Geist. Andere Streits sind weniger sublim: Schopenhauer unterstellte Hegel kurzerhand eine "Bierwirtschafts-Physiognomie". Kafka lernte von Hegel etwas über das Herr-Knecht-Verhältnis, Heinrich Heine hatte in den Vorlesungen dankbar wahrgenommen, "dass ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sein kann" – nicht ohne ironisch anzumerken, dass die Gottgleichheit des Menschen doch erheblich von Geld und Gesundheit abhänge.
Mitmachmöglichkeit für jedes Alter
Eine sehr große WG also. Problematisch an ihr ist auch, dass die Mitmachmöglichkeit, das Mitmach-Theater in der Ausstellung offenbar für alle Altersstufen gilt.
"Wir haben uns auch gedacht: Machen wir eine Ausstellung für Spezialisten. Eigentlich möchten wir sowohl die Kinder wie die Erwachsenen nochmal in den Stand bringen, wann fang ich tatsächlich an, mich darauf einzulassen und philosophisch zu denken."
Aber welcher 12-jährige Schüler möchte sich mit Hegel beschäftigen? Ob die Schreib- und Denkwerkstatt funktioniert, die die Marbacher da installieren wollen, muss sich weisen. Vielleicht ist der Zugang zur Hegelschen Dialektik bei Robert Gernhardt erheblich einfacher. Im Stuttgarter Hegel-Stübchen zeichnete er einst einen kleinen Cartoon in drei Akten: Theke, Anti-Theke, Syn-Theke. An der Syn-Theke stehen zwei Trinker. Prost!