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Philosophie als Lebensform

"Ich wünsche mir freie Geister zu Lesern, ... die fähig sind, zeitweilig ihre gewohnten Standpunkte zu verlassen, ... und im produktiven Selbstdenken gefördert werden wollen." Der dies schrieb, Hermann Graf Keyserling, entstammte einem alten baltischen Adelsgeschlecht, dessen aristokratische Ideale er zeitlebens gegen jede Vulgarisierung verteidigte.

Von Hans-Martin Lohmann |
    Geboren im Jahr 1880 im damaligen Livland, ging er nach dem Abitur zunächst nach Genf, um dort Geologie zu studieren. Anschließend setzte er seine Studien in Dorpat, dem heutigen Tartu in Estland, fort. In einem Duell, zu jener Zeit durchaus noch gängige Praxis zumal in Adelskreisen, wurde er schwer verletzt. Er wechselte nach Heidelberg, später nach Wien, wo er seine Studien mit der Promotion abschloss. Im Folgenden führte er, mit dem Familienvermögen im Hintergrund, das Leben eines freien Schriftstellers und Philosophen.

    Nach längeren Aufenthalten in Paris und Berlin unternahm Keyserling in den Jahren 1911/1912 eine Weltreise, die ihn nicht zuletzt mit dem Fernen Osten in Berührung brachte. Frucht dieser Reiseerfahrung war das kurz nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte "Reisetagebuch eines Philosophen", das außerordentlich erfolgreich war und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Fortan bemühte sich Keyserling um die Annäherung europäischen Denkens an fernöstliche Weisheit. Durch Enteignung des Vermögens beraubt, gründete Keyserling mit Unterstützung des ehemaligen Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und des Verlegers Otto Reichl am 23. November 1920 in Darmstadt die Schule der Weisheit – eine Begegnungsstätte für UNOrthodoxe Geister.

    Hermann Graf Keyserling:
    "Der Schule der Weisheit kommt es nicht darauf an, woher einer stammt, wovon er ausgeht, was er gerade denkt, sondern einzig darauf, wer er werden kann."

    Diese Form philosophischer Reflexion zielt nicht auf theoretische Erkenntnis, sondern auf die Einübung praktischer Lebensvollzüge – im Sinne eines sogenannten richtigen und gelungenen Lebens. Von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgehend, das die zunehmende Fragmentierung des Individuums durch Technisierung und Rationalisierung infrage stellt, bietet die praktisch gewordene Philosophie ihren Adepten philosophische Gesprächsberatung und Exerzitien an. Es ist vielleicht nicht nur Polemik, wenn man eine derartige philosophische Praxis als eine etwas anspruchsvollere Art von Lebenshilfe bezeichnet. Jedenfalls siedelte Keyserling seine Darmstädter Philosophenkolonie in diesem außerakademischen intellektuellen Kontext an und formulierte programmatisch seinen Anspruch an die Philosophie, etwa in seinem Buch "Schöpferische Erkenntnis", wo es heißt:

    "Philosophie ist weder trockene Wissenschaft noch geistiger Sport: ihrem Inbegriff nach ist sie Erfüllung der Wissenschaft in der Synthesis der Weisheit."

    Keyserling gelang es in den 20er Jahren, berühmte Zeitgenossen für die Jahrestagungen seiner Schule zu gewinnen, etwa Carl Gustav Jung, Max Scheler, Leo Frobenius und Rabindranath Tagore. Ihre Namen stehen für ein philosophisches Programm, das die engen Fesseln der akademischen Philosophie sprengt und auf eine breite Öffentlichkeit zielt.

    Dem aufkommenden Nationalsozialismus stand Keyserling politisch ablehnend gegenüber, wenngleich er gewisse Elemente der NS-Weltanschauung durchaus akzeptabel fand. Früh postulierte er:

    "Der Nationalsozialismus darf als Partei niemals zur Führung gelangen."

    Nicht zuletzt aufgrund seiner Berühmtheit überstand Keyserling die Jahre des "Dritten Reichs" im Wesentlichen unbeschadet. Sein früher Tod im Jahre 1946 verhinderte, dass er die von ihm ins Auge gefasste Neugründung der Schule der Weisheit auf den Weg bringen konnte.

    60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es, unter neuem Namen, zu einer Wiederbelebung von Keyserlings Idee einer lebens- und weltpraktischen Philosophie. Ute Gahlings, die heutige zweite Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie, das die Nachfolge der früheren Schule der Weisheit angetreten hat:

    "Das Institut für Praxis der Philosophie wurde im Jahr 2005 in Darmstadt gegründet und möchte die akademische Philosophie, die ja wesentlich Theorie ist, um die Dimension der Praxis ergänzen. Es geht in der Institutsarbeit deshalb um Philosophie als Lebensform, damit um Selbstkultivierung, und um die Philosophie als Weltweisheit und damit um gesellschaftliches Engagement."