Seit einiger Zeit gibt es in Deutschland eine neue politische Philosophie, die sich mit den globalen Katastrophen unserer Zeit beschäftigt. Sie ist eine Mischung aus Techno, Terminator und Marx und sie will den Kapitalismus abschaffen. Ihre Vertreter nennen sich: Akzelerationisten. Die Philosophie heißt: #Akzelerationismus und wird - sehr modern - mit einem vorangestellten Hashtag geschrieben.
Diese Beschleunigungsphilosophie, englisch "acceleration", kommt gedanklich aus der Londoner Technokultur der 90er-Jahre. Inzwischen ist sie eines der herausragenden pop-philosophischen Themen unserer Zeit. Die Vordenker und Entwickler, die sich unter dem Label des Akzelerationismus versammeln, halten Vorlesungen an Kunsthochschulen, schreiben für das Feuilleton und bereichern philosophische Bestsellerlisten. Für ihre Philosophie ordnen sie ihre Kenntnisse der Science-Fiction, Automatisierung, Algorithmen und Horrorfilme neu an. Sie tun dies mit dem Ziel, dem Kapitalismus philosophisch einen entscheidenden Todesstoß zu verpassen. Die Akzelerationisten wollen mit Mitteln des Kapitalismus den Kapitalismus stürzen. Aber sie wollen dafür nicht auf die Straße gehen, Flugblätter verteilen oder Occupy-Camps errichten. Sie haben andere Strategien - Strategien, die sich größtenteils mit den digitalen Subkulturen im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts entwickelten.
Auf Spurensuche für die Akzelerationistische Philosophie habe ich mich unterhalten mit dem Berliner Literaturwissenschaftler Armen Avanessian, dem "Spiegel"‑Autor Georg Diez sowie mit der Wirtschaftsphilosophin Jette Gindner, die in New York an ihrer Dissertation arbeitet. "Der Akzelerationismus ist zum ersten Mal - seit ich mich erinnern kann - zum ersten Mal seit der Postmoderne, die ja eher was für ältere Brüder oder eigentlich für uns fast die Vätergeneration war, ist für 30- bis 40-Jährige so ein Moment, wo einerseits politisches Denken in der Philosophie formuliert wird und andererseits auch eine mögliche Vision einer politischen Praxis auftaucht, die jenseits dessen ist, was einer relativ ermüdeten parlamentarischen Demokratie zur Option steht. Oder die auch weg geht von den politischen Ritualen des Protestierens, des Kritisierens, des Lamentierens. Und die relativ direkt die Gegenwart ansteuert. Mit hoher Geschwindigkeit ansteuert. Und auch manchmal übersteuert. Das ist mal eine performative Provokation gewesen, die mich fasziniert hat und viele Kollegen auch, die dann sehr schnell drauf angesprungen sind. Das ist eine sehr erfolgreiche, medial erfolgreiche philosophische Richtung, würde ich sagen.“
"Manifest für eine akzelerationistische Politik"
Georg Diez ist hierzulande einer der frühen Entdecker des Akzelerationismus in den Medien. Im Dezember 2013 besuchte er die erste internationale Akzelerations‑Tagung in Berlin, die Armen Avanessian organisiert hat. Der aus Wien stammende promovierte Literaturwissenschaftler war bis Ende 2014 an der Freien Universität in Berlin. Avanessian hat im Dezember 2013 einen Sammelband veröffentlicht, in dem auf knapp 90 Seiten die Grundbausteine der Akzelerations‑Theorie erläutert werden. Die Autoren des "Manifests für eine akzelerationistische Politik" Nick Srnicek und Alex Williams entwerfen hier Thesen gegen den Neoliberalismus. Sie zitieren Marx und Lenin. Sie beschreiben, weshalb der Kapitalismus ihrer Meinung nach fortschrittshemmend ist. Und sie benennen die ihrer Ansicht nach dringlichsten Probleme der Gegenwart.
Die Akzelerationisten sind sich sicher: Die aktuellen politischen Strukturen sind nicht geeignet, die globalen Probleme wie beispielsweise die des Klimawandels in den Griff zu bekommen. Und das, weil sie zu langsam sind. Weil sie zu wenig von Technik verstehen. Weil die politischen Strukturen nicht mehr passen in eine rasante Welt, in der Facebook, Google, Genforschung und Aktienhandel Hochgeschwindigkeit neu definiert haben. Die Zukunft nachfolgender Generationen ist in den politischen Strukturen nicht vorgesehen, ja nahezu egal. Akzelerationisten wollen gemeinschaftlich so viele Menschen wie möglich davon überzeugen, gegen den Kapitalismus zu rebellieren. Armen Avanessian sagt, dass sie dafür ein neues Internet brauchen. Ein Internet, das nicht in der Hand des Kapitals liegt.
Eine Zukunft schaffen, die ihren Namen zurecht trägt
"Ich denke, das ist nicht einfach eine Frage der Geschwindigkeit, die man mit weiterer oder noch höherer Geschwindigkeit zu beantworten hat. Sondern einfach die Einsicht, dass wir diese Geschwindigkeit, in der wir leben, diesen beständigen Beschleunigungsmodus des Kapitalismus, dass wir den nicht mehr bremsen können. Und statt dieser Gleichung von Moderne = Beschleunigung = Kapitalismus, so eine Fantasie eines Rückzugs oder von Entschleunigungsoasen gewissermaßen entgegenzusetzen. Es geht um die Frage, wie man den [Kapitalismus] entkoppeln kann. Aber wir werden das nur können, wenn wir auf der Höhe der vorhandenen Wissenschaften, eines Wissens oder Einsicht in die Technologie und dagegen agieren und zu finden, mit Flugzettel-Verteilen oder Gruppensitzungen wird das einfach nicht mehr gehen."
Der Akzelerations-Philosoph Armen Avanessian will auf neue Art die Zukunft denken. Er möchte eine Zukunft schaffen, die ihren Namen auch zurecht trägt. 2014 sind mehrere Bücher und Aufsätze von ihm erschienen. Zum spekulativen Horror. Zu Technologie und Automatisation. Und zur beklagenswerten Situation des Universitätsbetriebes. Denn gerade in den Geisteswissenschaften führt diese Situation immer häufiger zu Depressionen beim Lehrpersonal, das nicht mehr fachlich genau arbeiten kann. Das sich aufgerieben fühlt von Strukturen, die echte Wissenschaft unmöglich machen. Über diese Grundbedingungen des modernen Lebens denken Akzelerationisten wie Armen Avanessian nach.
"Mein erster Kontakt war darüber, dass ich viel in Kontakt war und auch selber dabei mitgearbeitet habe bei einer philosophischen Bewegung oder neuen philosophischen Theorierichtung: des Spekulativen Realismus oder der neuen spekulativen Philosophie. Die es seit circa fünf oder zehn Jahren gibt und da gab es ziemlich schnell, wie ich angefangen habe, das zu übersetzen und herauszugeben und einzuleiten den Einwand, dass es sich dabei um eine nicht wirklich politische Theorie handelt, weil die sich sehr stark mit klassischen philosophischen Themen beschäftigt und aus dem Kontakt heraus mit den einzelnen Philosophen war mir natürlich klar, dass das ganz und gar nicht der Fall ist. Dass es eher so ist, dass auf eine andere Art und Weise, auf eine neue und interessante Art und Weise, auch über politische Themen nachgedacht wurde, was einem deutschen Publikum noch nicht bekannt war. Und deswegen habe ich dann gemeinsam mit dem merve-Verlag mich entschlossen, ein paar Texte herauszugeben."
Subversion als Politik bringt es einfach nicht
Es muss also neue Vorstellungen für diese Zukunft geben. Zur Formulierung dieser Vorstellungen bedienen sich die Akzelerationisten bei der Science Fiction. Sie zitieren Autoren wie den kanadischen Autor William Gibson, der die Cyber‑Punk‑Trilogie "Neuromancer" geschrieben hat, und andere Science Fiction‑Werke, die schon vor Jahrzehnten eine alternative Zukunft beschrieben haben. Die Akzelerationisten nehmen die alternativen Zukunftsmodelle der Science Fiction‑Autoren ernst, sehen sie zumindest gedanklich ernstzunehmend verwirklicht. Filme wie "Terminator", "Matrix" oder "Blade Runner" konnten zeigen, wohin die technische Entwicklung läuft, welche Gefahren lauern.
Jette Gindner, Wirtschaftsphilosophin aus New York, aber reicht das spekulative Denken alleine nicht: "Die Akzelerationisten haben in einem Punkt schon recht. Nämlich. Es gibt kein Zurück. Weder durch Entschleunigung. Noch durch irgendeine Rückkehr zu humanistischen Idealen. Kapitalismuskritik muss schon aus der entfremdeten Situation heraus kommen, in der wir leben. Die Frage ist nur: Wie macht man das? Und ich würde sagen. Die nihilistische Provokation allein funktioniert da nicht. Die wird nämlich ganz fix vom Kapitalismus selbst absorbiert. Wenn ich Ihnen ein kurzes Beispiel geben darf: Vielleicht kennen Sie Frank Sinatras Song "I did it my Way". Das ist so eine Art Bildungsroman darüber, wie man sich mit den Regeln der Gesellschaft arrangiert. Vielleicht kennen Sie auch die Sex Pistols-Version von 1978, in der Sid Vicious den Song auf der Bühne absolut in Stücke reißt. Die Frage ist nur: Was passiert damit 2014? Und da ist Sid Vicous’ Song-Version auf einmal die Titelmusik für den neuen Acura TLX - wird also dazu benutzt, ein Auto zu verkaufen, als besonders cool, rough und individuell. Was ich damit sagen will ist: Subversion als Politik bringt es einfach nicht. Die wird letztendlich vom Kapitalismus absorbiert.“
Die gängige Form der heutigen Kapitalismuskritik beinhaltet Demonstrationen und Kampagnen. Sie stürmt beispielsweise die Wall Street wie die Occupy-Bewegung mit ihren Camps. Es gibt auch Anstöße aus der Realpolitik, die negativen Folgen des Kapitalismus einigermaßen im Griff zu halten: durch Hartz IV und Krankenversicherungen, durch die Bereitstellung von günstigem Geld durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau, gerodete Wälder werden auf nachhaltige Weise aufgeforstet und so weiter. Die Politik ist bemüht, den Bankensektor zu regulieren. Doch all das ist den Akzelerationisten nicht genug.
Gedankliche Provokation erzeugt Freiheit im Kopf
An dieser Stelle kommt der Spekulative Realismus, auch "Neuer Materialismus" genannt, ins Spiel. Er will sich von konstruktivistischen Theorien ablösen und eine neue materialistische Sicht auf die Welt durchsetzen. Materie wird vom neuen Materialismus nicht mehr als passiver Stoff angesehen. Dinge werden nicht mehr als einfältige Objekte betrachtet, sondern als Versammlungen der Vielfalt. Das Ding ist nämlich ursprünglich nicht ein Ding, sondern immer eine Versammlung von einzelnen Dingen wie im skandinavischen „thing“, womit bis heute eine Parlaments- oder Gerichtsversammlung bezeichnet wird. Das klingt durchaus radikal. Das Ding soll eine Vielzahl sein? Dieser neue Materialismus ist im idealistisch geprägten Deutschland ein kleiner Skandal. Der philosophische Mainstream sagt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Die Spekulativen Realisten dagegen sagen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sie behaupten: Es muss eine Möglichkeit geben, die Welt zu verstehen ohne den Menschen, ohne sein Denken.
Und dann kommt dieser Neue Materialismus, der ein gängiges Denkkonzept auf den Kopf stellt. Zusammengesehen ist das eine anziehende, an Science Fiction erinnernde Philosophie. Oder mit den Worten von Georg Diez: "Wichtig in dem Punkt noch mal ist, dass man auch darüber nachdenkt, was die Verbindung zum Spekulativen Realismus ist. Und das ist eben das Moment des Denkens der Welt ohne Menschen. Und das ist für die Politik schon auch eine Herausforderung, die sich nur definiert dadurch, dass es den Menschen gibt. Das heißt: Was ist eine Politik, die das Ende des Menschen aktiv denkt und das ins Handeln einbezieht, diese Überlegung? Das ist eben eine Provokation in ganz ganz viele Richtungen.
Ich würde einfach sagen, dass es eben diese gedankliche Provokation ist, die eine Freiheit erzeugt erstmal im Kopf. Auf dieser Basis kann man dann versuchen, den Kapitalismus nackt und schonungslos zu sehen. Das ist ja etwas, das heutzutage von den Diskussionen über Google und Big Data bis zur amerikanischen Außenpolitik im Grunde sehr schwierig ist. Weil die Prämissen irgendwie alle nicht mehr da sind. Man ist ja jetzt nicht gegen Google, weil man irgendwie Kulturpessimist ist, sondern man will ja kein Kulturpessimist sein. Aber trotzdem sind auch sehr viele aus leicht verschwiemelten Gründen gegen Google. Das wäre doch viel interessanter, zu versuchen, Big Data tatsächlich irgendwie so weit zu führen, dass es implodiert. Dass es irgendwie auch ein technisches Problem gibt und das ist - glaube ich - der Moment, wo es auch eben eine Verbindung zum Futurismus vielleicht gibt, dass die Technik extrem ernst und wichtig genommen wird im Akzelerationismus. Und das ist erst einmal eine zeitgemäße Haltung, finde ich."
Konsenz infrage stellen
Der Kerngedanke der akzelerationistischen Philosophie ist: Man schaut von einer gedachten fernen Zukunft auf die Gegenwart. Diese Blickrichtung ist anders als die übliche bisherige Sicht auf die Welt, wo aus der Gegenwart auf die Vergangenheit zurückgeblickt wird. Verzagte Politik wird mit Hinweis auf eine fürchterliche Geschichte verkauft oder gerechtfertigt. Den Euro-Rettungsschirm braucht es, damit sich das Gespenst Inflation und Massenarbeitslosigkeit aus den 1920er-Jahren nicht wiederholt. Der Kapitalmarkt soll möglichst ungebunden sein, der Kapitalismus frei flottieren, damit es nie wieder einen sozialistischen Ostblock geben kann. Aus der Vergangenheit lernen ist ein Konsens und Diktum in unserer Gesellschaft, den die Akzelerationisten infrage stellen. Das Gebot des ewigen Rückblicks ins Vergangene erklärt dann auch die Alternative, die der Akzelerationismus in der Nähe zur Science Fiction sucht. Dahinter steckt mehr als eine schlanke Anlehnung an die Popkultur. Der Film "Matrix" nutzte 1999 noch die Philosophie Jean Baudrillards, um Massen zu begeistern. Was Baudrillard Mitte der 1970er-Jahre erdacht hatte, nämlich dass wir in einer Welt mannigfacher Simulationen leben, wird im Film "Matrix"auf die Spitze getrieben. Der Computerbildschirm simuliert einen Schreibtisch. Die Sprachansage in Call Centern simuliert ein echtes Gespräch. Selbst der auf eine Leberwurstpackung aufgedruckte Bauernhof simuliert eine Landidylle, die nicht existiert. Wir leben in simulierten Welten. Und in "Matrix" ist diese Welt bis ins allerkleinste eine Computersimulation von Maschinen, die unsere Hirne an ein Programm angeschlossen haben. So schlimm steht es um unsere Gegenwart bislang nicht. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass wir eigentlich schlafend in einer Nährlösung liegen und unser Leben immer nur ein Film ist. Aber es gibt immer mehr Simulationen, immer mehr Realität Vorspiegelndes in unserem Leben. Facebook simuliert echte Gespräche. Das Internet scheint die Welt abzubilden. Und so weiter.
Im Film "Matrix" sind die Menschen unmündige Wesen, die nicht mehr merken, dass sie schlafen und gar nicht mehr in einer echten Welt leben. Die Akzelerationisten wollen mithilfe von Science Fiction zeigen, auf was unsere Gegenwart möglicherweise zusteuert. Der Film ist also nicht nur ein Film, er ist auch eine Warnung und will aufmerksam machen, dass wir genau darauf achten sollten, welche Macht Maschinen über unser Leben haben. Die Akzelerationisten wollen erreichen, dass Science Fiction tatsächlich ernst genommen wird. Armen Avanessian: "Es ist hierzusagen eine andere Generation, die schreibt, zum Sprechen gekommen ist und auch politisch agiert, die nicht mehr so ein Phantasma von ‘68 und einer sozusagen auf der Straße vorfindbaren Occupy-Gemeinschaft vertritt. Sondern sich konkret für Algorithmen interessiert, für die Informationstechnologien und so weiter. Die Frage nach Rohstoffen, die Frage nach Arbeitszeiten und so weiter. Das heißt, das sind hochkomplexe technologische Fragen, die wir verstehen müssen, um dem Feind, dem Gegner oder wie auch immer man den Kapitalismus sieht, etwas entgegensetzen zu können."
Die Katastrophe ist schon eingetreten
Selbstverständlich ist der Film "Matrix" überspitzt. Er ist Fiktion. Dennoch zeigt er, wie eine Technikdiktatur mit technischen Mitteln besiegt werden kann. Er dient sozusagen als anschaulichstes Beispiel der akzelerationistischen Philosophie. Er ist Warnung und mögliche Lösung. In "Matrix" werden die feindlichen Maschinen nur von jenen Menschen besiegt, die die Computerprogramme beherrschen. Schon immer hat jener die Macht gehabt, der die modernste Technik bedienen konnte. An genau dieser Stelle kommt die "acceleration", die Beschleunigung, ins Spiel. Denn die Mittel des Kapitalismus sind immer schneller geworden:
Hochgeschwindigkeitsaktienhandel, Google-Algorithmen, Überwachungskameras, die in Millisekunden Gesichter mit Antiterror-Datenbanken abgleichen können. Wer nicht weiß, wie diese Algorithmen funktionieren oder nach welchen Prinzipien der Hochgeschwindigkeitsaktienhandel abläuft, der kann leicht beherrscht werden. Demos für mehr Datenschutz wirken angesichts des gigantisch-unbezwingbaren Google-Serverparks absurd. Ähnliches gilt für die häufigsten Reflexe auf den Klimakollaps: Statt Entschleunigung, Solarpaneelen auf dem Dach und Einkaufen im Biosupermarkt zu empfehlen, propagieren Akzelerationisten wie Armen Avanessian ein anderes Modell: "Die Frage ist: Nach welchen Prämissen wird überhaupt über Nachhaltigkeit nachgedacht? Was mich teilweise bei dem Nachhaltigkeitsmodell stört ist: Dass es dahinter so ein Phantasma einer Balance eines Gleichgewichts oder eines ursprünglichen Gleichgewichts gibt. Ich glaube, das ist vorbei. Die Katastrophe ist schon eingetreten. Die Natur, was auch immer das mal gewesen sein soll, gibt es nicht mehr. Das ist nicht einfach nihilistisch. Sondern ich denke, damit ist auch verbunden ein gewisser aufklärerischer oder prometheischer Auftrag, wie man dagegen andenken kann, wie man anders agieren kann im Zeitalter des Anthropozäns."
Anthropozän: Zeitalters des Menschen
Die Idee des Anthropozäns ist eines der heißesten Konzepte der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dieser Tage. Die verschiedenen Zeitalter der Erde sind nach Erdschichten unterteilt. Man kann anhand der Erdschichten erkennen, wann die Eiszeit stattgefunden hat oder wann die Weltmeere entstanden sind. Seit einigen Jahrhunderten verändert aber der Mensch höchstselbst die Erdschicht: Er baut Kohle ab, baut U-Bahnen und so weiter. Das heißt: Wenn es uns irgendwann nicht mehr gibt, wird man für die Erdzeit ab circa 1800 eine menschengemachte Veränderung erkennen. Daher Anthropozän, Zeitalters des Menschen, von altgriechisch "ánthropos", Mensch.
Dass die Akzelerationisten nun mit beschleunigten Mitteln und eben nicht mit Nachhaltigkeitskonzepten anrücken, stößt vielerorts auf Widerstand. Doch die Wirtschaftsphilosophin Jette Gindner widerspricht den Akzelerationisten auch hier vehement: "Die Begeisterung der Akzelerationisten für Technik wirkt eigentlich seltsam antiquiert. Also irgendwie unzeitgemäß für unsere postindustrielle Gegenwart. Benjamin Noys hat in seinem neuen Buch "Malign Velocities" eine ziemlich gute Erklärung dafür gegeben. Und zwar sagt er: Wenn wir mal weggehen von der Selbstpräsentation des Akzelerationismus als Zukunftsprojekt und wenn wir Akzelerationismus lesen als eine Art sehnsuchtsvoller Blick zurück in eine Vergangenheit. Also eigentlich kann man Akzelerationismus verstehen als eine Nostalgie. Nach Zeiten, in denen Kapitalismus, Technik und Fortschritt an sich dem Menschen noch irgendeine Zukunft versprochen hat. Das ist aber längst so nicht mehr real. Warum? Unter der Beschleunigung, die die Akzelerationisten so unheimlich fasziniert, verbirgt sich in Wahrheit eine Lähmung. Also seit etwa Mitte der 70er‑Jahre stagniert die reale Wertschöpfung und man muss die Beschleunigung mit dieser Lähmung zusammendenken. Und wenn man das zu Ende denkt, merkt man: Akzelerationismus ist eigentlich vielleicht gar keine Lösung, sondern eher so eine Art Fantasie."
Das Ende des Kapitalismus denken
In der Tat ist an vielen Stellen nicht klar, wie die Akzelerationisten Beschleunigung verstehen. Denn: Warum ist Beschleunigung ein Problem im Kapitalismus? Die Wirtschaft ist nicht gelähmt. Sie ist schnell. Sie muss schnell sein. Wirtschaft funktioniert nur durch ständige Revolution. Ständig müssen neue Smartphone‑Modelle auf den Markt gebracht werden - ansonsten machen Apple oder Samsung keinen Vierteljahresgewinn. Auch die Fitnessbranche zelebriert ständig neue Trends: Aerobic wird abgelöst von Spinning. Spinning muss Zumba weichen, und der Rhythmus dabei wird immer schneller. Die Akzelerationisten sind sich sicher: Wenn man den Kapitalismus noch mehr beschleunigt, fährt er mit so viel Karacho gegen die Wand, dass er wirklich nicht mehr zu retten ist. Dieses Auseinanderreißen wollen die Akzelerationisten forcieren. Und dann wäre Platz für etwas Neues. "Wichtig ist glaube ich eben, dass man eben versucht, den Kapitalismus ernst zu nehmen, den Kapitalismus nicht dadurch zu bekämpfen, indem man ihn ignoriert, sondern den Kapitalismus - ich würde ungern sagen, zu Ende denkt, aber das Ende des Kapitalismus denkt. Und das ist ja erst einmal eine Befreiung."
Beschleunigung und die Bedeutung der Maschinen waren große Themen französischer Philosophie der 1970er bis 1990er-Jahre - wie jetzt wieder im Akzelerationismus. Dazu gehört, dass sie Marx widersprachen, der glaubte, das Proletariat sei vornehmlicher Träger von gesellschaftlichem Fortschritt. Die Begründung dieser allerersten Akzelerationisten war: Die vom Kapitalismus entfesselten Produktivkräfte waren nicht menschlich - sondern eben maschinell. Deshalb kann der Mensch allein im Kapitalismus auch so wenig ausrichten. Er muss mit den Maschinen zusammenarbeiten, wenn er etwas bewegen will….
In den 1990er-Jahren infizierten dann die Denkweisen von Paul Virilio, Gilles Deleuze oder Francois Lyotard eine neue Popkultur: Den Techno. Bahnbrechende und rhythmisch peitschende Technomusik aus Detroit traf auf philosophisches Geschwindigkeitsdenken aus Paris. Die Faszination der Philosophen für Rhizome und Fraktale führte zu Club-Videos als Illustration von DJ-Sets. Techniksprache und Science Fiction-Fantasien dominierten eine Musik, die am Computer entstanden war.
"Man könnte schon sagen, dass es jedenfalls die entindividualisierte und den Menschen zu einem Roboter machende Musik wäre. Wenn man das so sehen will. Ich finde das zu kulturpessimistisch. Und würde das eher sehen als Ausdruck einer ganz spezifischen und dann auch nihilistisch-provokanten und auf eine merkwürdige Weise vielleicht eher utopischen als dystopischen Haltung."
Bedient in den Archiven der Subkultur
Viele Vordenker des Akzelerationismus waren in den 90er-Jahren Teil der Techno- und Jungleszene. Aber auch diese popkulturellen Anleihen betrachtet Wirtschaftsphilosophin Jette Gindner kritisch. Die 34-Jährige arbeitet seit 2012 an der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York zu den Feldern Ökonomiekritik, Kritischer Theorie und zeitgenössischer Literatur.
"Die Akzelerationisten haben sich unheimlich geschickt an den Archiven verschiedener Subkulturen bedient. Das fängt so an mit dem Cyberpunk, also Filmen wie "Blade Runner", geht weiter über verschiedene "Terminator"-Filme, bis hin zu den großen musikalischen Subkulturen der 90er, oder auch ein bisschen vorher: Jungle, Techno und so weiter. Man sollte aber genau hingucken, welche Subkulturen der Akzelerationismus zitiert - und wie er sie benutzt. Setzt er sich mit den Subkulturen wirklich auseinander und mit deren Imaginären? Oder geht es hauptsächlich darum, dem theoretischen Projekt irgendwie einen radikalen Chic zu verleihen?"
"Das ist, glaube ich, zu einfach formuliert, zu sagen, dass diese Parallelwelten, die durch XTC oder durch Jungle geschaffen wurden, Fluchtwelten waren. Oder mechanistische Dröhnhöllen gewesen wären. Sondern das ist: Wie jede politische Bewegung ihre Droge hat und auch jede technische Neuerung ihre Droge hat, ein ganz spezifischer Ausdruck gewesen eines letztlich Protestpotenzials, was sich seiner selbst noch gar nicht bewusst war. Weswegen: Inkubationszeit für Erkenntnisse waren die 90er-Jahre. Und das braucht eben anscheinend immer 20 Jahre, bis es irgendwo angekommen ist."
Georg Diez‘ Denken kommt aus den 90er-Jahren. In diesem Techno- und Startup‑Jahrzehnt hat der spätere Feuilletonist nahezu alle heutigen Phänomene in ihrer Entstehung kennengelernt. "Vieles, wenn nicht Alles, was uns heute beschäftigt, ist in dieser Nach-Triumphzeit der westlichen Welt und des Kapitalismus, wie er in Amerika vor allem praktiziert wurde, entstanden. Dass es dieses Reden vom Ende der Geschichte gab, und dass gleichzeitig eben Dinge entstanden sind, die die technische Machbarkeit von Allem letztlich bewiesen haben. Das ist ja auch etwas, was Michel Houellebecq beschrieben hat. Also die Fragen der Explosion der Genforschung. Wo man plötzlich ein ganz anderes Menschenbild hatte. Evolutionsbiologische Erkenntnisse, wo zum ersten Mal deutlich geworden ist, was für eine Marionette der Mensch ist, die Marionette seiner Gene oder seines Gehirns oder der Evolution und dass er nicht Herr im eigenen Hause ist. Das heißt: Was bedeutet das fürs Denken? Das ist natürlich ein altes, philosophisches Problem, was aber in dem Fall vielleicht mit einer neuen wissenschaftlichen Dringlichkeit formuliert wurde."
Die Zukunft neu denken
Inzwischen gibt es mannigfaltige Techniken, die den Menschen leichthin ersetzen können. Maschinen erledigen die Arbeit. Gentechnik optimiert den Körper. Computer verwalten menschliches Wissen. Für den Akzelerationisten Armen Avanessian Grund genug, das eigene Handeln zu überdenken: "Anstelle sozusagen von allgemeinen vagen, abstrakten, abgehobenen akademischen Fragestellungen stellt sich für mich immer die Frage: Wo stehe ich? An welchem Ort? Das gibt eine Frage der Lokalisierung. Von welchem Ort spreche ich? Und in welcher Situation lebe oder arbeite ich und für mich ist das konkret die Frage als Akademiker auch: Wie funktioniert denn die Universität heute? Wie funktioniert das akademische System? Und das impliziert einfach die Notwendigkeit, sich selber darin zu verorten und weniger sozusagen abstrakte politische Theorie zu machen, sondern den Diskurs des Universitären zu thematisieren und zu politisieren."
Noch im Herbst 2013 war der Akzelerationismus ein Theorieplankton, das allenfalls von Freaks, Geeks und Nerds diskutiert wurde. Seit der Berliner Akzelerationismus‑Tagung Anfang Dezember 2013 und den darauf folgenden Veröffentlichungen in aller Welt ist er gesetzt. Aber der Akzelerationismus steht noch am Anfang. Erst einmal wird an einer umfassenden Theorie gearbeitet. Erst einmal werden akzelerationistische Denker zusammengebracht, bevor es dann schon bald zu konkreteren Plänen für den Umbau des Kapitalismus gehen soll. Denn bisher versuchen die Akzelerationisten die Zukunft zwar mithilfe der Science Fiction neu zu denken, aber wie genau sie ihrer Meinung nach aussehen sollte und vor allem wie wir mit politischen Mitteln dahin gelangen können, das steht noch in den Sternen.
In der akademischen Philosophie hat es der Akzelerationismus weiterhin schwer. Armen Avanessian wird regelmäßig von philosophischen Departments der amerikanischen Ivy-League-Universitäten eingeladen. In Deutschland mauern Literatur- und Philosophiefakultäten. Stattdessen werben Kunsthochschulen, renommierte Museen und Galerien für den Akzelerationismus.
"Es gibt eine größere Neugierde oft und auch eine Toleranz für nicht sofort Verständliches - in der Kunstwelt. Das hat historische Gründe, hat aber auch etwas mit dem Versagen der akademischen Philosophie zu tun. Das sind sozusagen jetzt ganz pragmatische Gründe. Ich denke aber auch, dass die Kunst speziell heute noch eine viel direktere, eine viel größere Nähe, einen Anschluss an Fragen der Ökonomie hat und der Technologie. Einfach über ihre Arbeitsweisen. An den Universitäten herrscht noch immer so eine bestimmte Elfenbein-Bollwerk-Rückzugsmentalität."
Mit der Politisierung von Technik die Freiheit der Menschen vergrößern
Jette Gindner bleibt skeptisch. "Die akzelerationistische Utopie bleibt extrem vage. Wer beschleunigt hier eigentlich was? Und wie genau soll der Kapitalismus in die Krise gestürzt werden? All das bleibt total unklar. Ebenso fraglich ist, auf welcher Seite der Akzelerationismus politisch eigentlich steht. Lesen Sie das Manifest. Oder hören Sie einfach mal auf die Sprache. Effizienz, strategische Wirksamkeit, messbare Erfolge. Was für eine Sprache ist das? Es ist Management-Slang. Die Akzelerationisten übernehmen die Sprache des neoliberalen Kapitalismus. Übernehmen sie damit nicht auch seine Politik?"
Das wird zu beobachten sein. Bislang hat der Akzelerationismus ein vorherrschendes Ziel. Er will mit Technik und mit der Politisierung von Technik und Programmierern die Freiheit aller Menschen vergrößern. Das klingt kommunistisch. Ist es auch. In Italien arbeiten der Soziologie nahe stehende Philosophinnen wie Elena Esposito an einem neuen Konzept von communitas, von Zusammenhalt und Gemeinschaft. Selbst Facebook ist in diesem Sinne kommunistischer als angenommen. Auf der weltweit bekanntesten Social-Media-Plattform kann rein theoretisch jeder mit den gleichen Mitteln kommunizieren. Facebook kann mehr als Katzenbilder verbreiten und Werbedaten seiner Nutzer abgreifen. Facebook ist als akademisches Vernetzungsinstrument perfekt. Das Problem: Facebook ist Kapitalismus pur. Ziel der Akzelerationisten ist es, Programme wie Facebook von Kapitalismus auf einen Neo-Kommunismus umzustellen.
Hier findet man die meisten Akzelerationisten. Hier kann man sie anschreiben. Ausfragen. Sie schreiben bestimmt zurück.
Armen Avanessian studierte Philosophie, Politische Wissenschaften und Literatur in Wien und Paris, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Mitarbeiter der "Texte zur Kunst" und Herausgeber des Buches "Akzeleration".
Georg Diez, Autor und Journalist in Berlin, hat für die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Spiegel und die Zeit geschrieben und ist Kolumnist von S.P.O.N., Spiegel online. Jan Drees arbeitet als Rezensent und Feature-Journalist unter anderem für Der Freitag, Rolling Stone, BR, WDR.